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THE DESPERATE BICYCLESRemorse Code [Refill Records, 1979] Gerald Fiebig

Remorse Code ist das einzige Album der Desperate Bicycles. Als vorletzte der sieben Veröffentlichungen ihres Labels Refill Records markiert es beinahe schon den (erfolgreichen) Abschluss ihrer Mission: die Begründung einer Do-it-yourself-Kultur mit politischem Anspruch. Die Desperate Bicycles gründeten sich im März 1977 mit dem Ziel, eine 7" auf ihrem eigenen Label zu veröffentlichen. Diese nahmen sie noch im selben Monat auf, ließen sie selbst pressen, statteten sie mit einem Cover aus und verkauften sie an lokale Plattenläden sowie Vertriebe wie Rough Trade und Virgin. Innerhalb von vier Monaten waren die ersten 500 Stück ausverkauft, was eine Nachpressung ermöglichte, die wiederum die zweite Single finanzierte. Schon die erste Single »Smokescreen« endete mit der direkten Aufforderung an die Hörer_innen: »It was easy, it was cheap, go and do it!«, auf der zweiten Single »The Medium was Tedium« wurde dieses Credo weiter ausformuliert: »No more time for spectating. Tune it, count it, let it blast. Cut it, press it, distribute it. Xerox music’s here at last«. Mit anderen Worten: Der Fortschritt der Produktionsmittel ermöglicht es jedem, vom passiven Empfänger von Musik und Informationen zum Sender zu werden − es ist an uns, diese emanzipatorische Chance zu nutzen.

Die Desperate Bicycles waren nur kurz aktiv. Zudem haben sie, anders als etwa die für den DIY-/Politik-Konnex ebenfalls einschlägigen Crass, niemals Anstalten unternommen, aus ihrem Erbe nachträglich kulturelles Kapital zu schlagen. Wohl deshalb wird ihre Bedeutung als Katalysator des DIY-Ethos im britischen Punk-Moment 1977 heute meist unterschätzt. Die kurze (lies: stereotype) Geschichte des 1977er-Punk geht ja so: »Wir sahen die Buzzcocks/Clash/Damned/Sex Pistols (nicht Zutreffendes bitte streichen) und empfanden das als totale Befreiung.« Dass der musikalische Befreiungsschlag nicht schon automatisch zur Entstehung einer Independent-Alternative zum ökonomischen Musik-Establishment führte, zeigen die intensiven Diskussionen in der damaligen Szene um das Für und Wider der Zusammenarbeit mit Majorlabels.

Die Desperate Bicycles standen gleich in mehrfacher Hinsicht für eine klare Independent-Haltung. Ihre Weigerung, sich an eine Plattenfirma zu verkaufen, korrespondiert einer Weigerung, das Musikmachen überhaupt zu professionalisieren. Die Grundhaltung in den Songs der Desperate Bicycles, textlich wie musikalisch, ist eine der skeptischen Distanz, und das gilt ganz besonders für Remorse Code. Der Titel mit seinen Verweisen auf Verschlüsselung (im Gegensatz zu Plakativität?) und Ernüchterung scheint den Moment zu markieren, da sich am Morgen nach dem befreienden Ausbruch, dem Aufstand, die Frage stellt: Was macht man mit diesem Erlebnis im weiteren Leben? Die verschiedenen Punk-Subkulturen, in ihrer nihilistischen ebenso wie in ihrer anarcho-aktivistischen Ausprägung, haben verschiedene Antworten auf diese Frage gegeben. Die Desperate Bicycles hingegen weigerten sich mit Remorse Code auch, aus einer Erkenntnis gleich einen kompletten Lebensstil zu machen, bringt dieser doch stets die Gefahr der dogmatischen Versteinerung mit sich. »I don’t wanna be a fossil«, rufen die Desperate Bicycles in »Natural History«. Bekanntermaßen sind in den letzten 40 Jahren gerade die lautstarken Protagonist_innen der Punk-Subkultur dieser Gefahr nicht immer entgangen.

Der »analyst in me« (»Pretty Little Analyse«), der in den Songs von Remorse Code spricht, seziert die Kommunikationsrituale, in die er eingebunden ist, mit geradezu soziologischer Nüchternheit. Der Verzicht auf vordergründige Polemik ermöglicht so erfrischende Blickwinkel, wie den des Neunjährigen im Opener »I Am Nine«, der voller Grauen auf seinen zehnten Geburtstag vorausblickt (und damit die popklischeehafte Entgegensetzung von guter Jugend vs. schlechtes Erwachsensein aushebelt, weil er schon die Teenagerzeit als Konstrukt der Konsumgesellschaft entlarvt). Ein weiteres Highlight ist »A Can of Lemonade«: Der Konsum einer Dose Limo (komplett mit Soundkomposition des Öffnungsgeräuschs) und deren völliges Versagen als Durstlöscher wird konstatiert − viel zu süß! Als Kontrastfolie dienen Sprachbilder von Wüstenhitze und eine reggaeartige, »afrikanisch« codierte Musik, die eine noch heute typische Ästhetik von Softdrink-Werbung evozieren, um sie gleichzeitig zu kritisieren.

Überhaupt ist es die Musik, die die Haltung der Desperate Bicycles am deutlichsten formuliert − bei aller Luzidität und Literarizität der Texte (der Bandname ist J.B. Priestleys Roman Angel Pavement von 1930 entlehnt). Von drahtigen Pseudo-Funk-Gitarren über Dub-Anleihen und dissonant-psychotische Keyboard-Sounds bis zu Soundcollage-Ansätzen gleicht das Album einem ideenreichen Skizzenbuch gleich mehrerer Postpunk-Strömungen. Die billige Produktion, bei der nicht monatelang am perfekten, fetten Bass oder dem tightesten Beat gefrickelt werden kann und will, stellt sicher, dass es auch skizzenhaft bleibt.

Im Sound von Remorse Code kann man sich als Hörer_in nicht passiv verlieren, er verlangt einem die Aktivität ab, sich selbst etwas dazuzudenken. Wie also kann man die Erfahrung von Punk ins Alltagsleben übersetzen? Die Desperate Bicycles geben ihre Antwort in der kritischen Distanz der Musiker gegenüber ihrer Musik, die man auf Remorse Code hört. Sie lautet: Nicht aufhören zu zweifeln.

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