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III. Die Diskussion in der Bundesrepublik Deutschland

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Nach dem 2. Weltkrieg wurde die Diskussion neu entfacht, da besatzungsrechtliche Vorschriften des Devisen- und Kartellrechts Kriminalstrafen gegen juristische Personen und Vereinigungen vorsahen.[20] Die Gerichte waren bei der Anwendung dieser Strafvorschriften, die als Ausdruck angelsächsischen Rechtsdenkens galten, jedoch sehr zurückhaltend, und es entbrannte Streit darüber, ob sie überhaupt daran gebunden waren.[21] Der BGH bejahte dies schließlich 1953[22] im Berliner Stahlhändlerurteil: Es widerspreche zwar dem „bisherigen deutschen Rechtsdenken, […] gegen juristische Personen oder sonstige Personengesamtheiten eine Kriminalstrafe zu verhängen“, da sie „nicht zu dem im deutschen Recht entwickelten sozialethischen Schuld- und Strafbegriff [passt]“, dies ändere aber nichts an der Verbindlichkeit des gesetzten Besatzungsrechts, das insb. mit Blick auf § 393 RAO nicht gegen den inländischen „ordre public“ oder Art. 43 der Haager Landkriegsordnung verstoße.

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Während der Großen Strafrechtsreform der 1950er und 1960er Jahre wurde die Einführung der Verbandsstrafe im Hinblick auf die soziale Machtstellung der Verbände erneut sehr lebhaft diskutiert. Bereits im September 1953 hatte sich der 40. Deutsche Juristentag eingehend damit befasst, ob es sich empfiehlt, die Strafbarkeit der juristischen Person einzuführen. Das Gutachten, die Referate und die Mehrheit der Teilnehmer lehnten dies ab.[23] Die zeitgenössische, lebhafte Diskussion zeichnete Rudolf Schmitt in seiner 1958 erschienenen Habilitationsschrift „Strafrechtliche Maßnahmen gegen Verbände“ nach.[24] Die Große Strafrechtskommission[25] sprach sich in ihrer 50. Sitzung (5. Dezember 1956) nach einer kontroversen Debatte ebenfalls mehrheitlich gegen eine Verbandsstrafe aus; bei der Endabstimmung votierte dann jedoch die Mehrheit dafür, in den AT zumindest eine Bestimmung aufzunehmen, wonach bei bestimmten Delikten des BT eine „Geldsanktion“ gegen juristische Personen zulässig sein sollte, um ihnen zugeflossene Gewinne und sonstige Vorteile abzunehmen und etwaige, der Allgemeinheit erwachsene Schäden auszugleichen. Später befasste sich der Sonderausschuß des Deutschen Bundestages für die Strafrechtsreform[26] auf seiner 23. und 24. Sitzung (5. bzw. 7. Oktober 1964) erneut damit. Während sich der Referent der SPD für die Einführung einer Geldstrafe aussprach, da es gerechtfertigt sei, „die für das Zivilrecht geltende Fiktion auch für das Strafrecht gelten zu lassen“, lehnte der Korreferent der CDU dies ab, da man gegenüber der „Kollektivschuld“ vorsichtig sein müsse und die Gleichstellung nicht möglich sei. Dagegen trat der Referent des BMJ, Erich Göhler, für die Einführung von Geldbußen gegen juristische Personen ein und bekräftigte in der 57. Sitzung (13. April 1967), dies sei „der einzig vernünftige und richtige Weg“. Mit der Schaffung von § 23 OWiG 1968 (Rn. 17; dem späteren § 30 OWiG) wurde diese „Kompromisslösung“, die den Grundstein für ein Verbandsstrafrecht im weiteren Sinne legte (Rn. 26), umgesetzt.

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In den 1970er Jahren befasste sich die vom Bundesjustizministerium der damaligen sozialliberalen Koalition (SPD/FDP; Brandt) berufene „Sachverständigenkommission zur Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität – Reform des Wirtschaftsstrafrechts“ u.a. mit der Frage der Unternehmenskriminalität. Die Kommission beauftragte Bernd Schünemann mit der Ausarbeitung eines Gutachtens, das 1979 publiziert wurde. Hierin prägte Schünemann zum einen den Begriff der „kriminellen Verbandsattitüde“ als zusammenfassende Bezeichnung für die kriminogenen Einflüsse, die einen einzelnen Mitarbeiter in einer Organisation zur Begehung einer Straftat bringen können.[27] Zum anderen prägte er auch den Begriff der „organisierten Unverantwortlichkeit“, um die drohende Beweisnot des Staates zu charakterisieren, wenn die zur Tatzeit bestehende Verantwortungsverteilung rekonstruiert werden soll.[28] In ihrem Schlussbericht hielt die Kommission an der Sanktionierung von Verbänden und Unternehmen mit Geldbußen (§ 30 OWiG) fest und empfahl lediglich den Ausbau des geltenden Rechts der Sanktionen.[29]

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In den 1980er und 1990er Jahren bekam die Diskussion um die Einführung einer „echten“ Verbandsstrafe neue Nahrung. Der Großbrand bei der Sandoz AG in Schweizerhalle, die Havarie der Exxon Valdez vor Alaska und Embargoverstöße deutscher Firmen während und nach dem Zweiten Golfkrieg stießen auf große öffentliche Aufmerksamkeit und ließen Defizite sichtbar werden.[30] Anfang der 1990er Jahre erachteten mehrere Untersuchungen die Verbandsgeldbuße des § 30 OWiG nicht mehr als ausreichend und gingen überwiegend davon aus, ein Verbandsstrafrecht sei mit dem Schuldgrundsatz vereinbar.[31] Auch auf der Tagung der deutschsprachigen Strafrechtslehrer in Basel Ende Mai 1993 wurde die Unternehmensstrafbarkeit diskutiert.[32] Mitte der 1990er Jahre erarbeitete eine Expertengruppe um Bernd Schünemann im Rahmen des von der Thyssen-Stiftung finanzierten Programms „Deutsche Wiedervereinigung“ den „Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung der Unternehmenskriminalität“,[33] der als Maßregel eine sog. Unternehmenskuratel vorsah.

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Im Juli 1997 stellte das Land Hessen, geführt von einer rot-grünen Landesregierung (SPD/Grüne; Hans Eichel), einen Diskussionsentwurf[34] vor, der die Aufnahme eines Achten Titels in den AT (Verbandsstrafe und Maßregeln, §§ 76b–76h StGB) vorschlug. Als Sanktion war insb. die Verbandsgeldstrafe vorgesehen, als Maßregeln sollten Weisungen und die treuhänderische Zwangsaufsicht möglich sein. Rund ein Jahr später stellte die 69. Justizministerkonferenz in Rostock-Warnemünde (17./18. Juni 1998) fest, im Hinblick auf die Unternehmenskriminalität und im Einklang mit der Entwicklung im Ausland und bei internationalen Rechtsinstrumenten bestehe die Notwendigkeit, die Sanktionsmöglichkeiten zu verbessern.[35] Bereits am 9. Juli 1998 präsentierte das Land Hessen einen Entschließungsantrag „zur Einführung strafrechtlicher Verantwortlichkeit für juristische Personen und Personenvereinigungen“ (BR-Drs. 690/98), der rund 11 Monate später, am 8. Juni 1999, durch die neue schwarz-gelbe Landesregierung (CDU/FDP; Roland Koch) zurückgenommen wurde (BR-Drs. 385/99).

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Im Januar 1998 setzte der damalige, einer schwarz-gelben Koalition (CDU/CSU/FDP; Helmut Kohl) angehörende Bundesjustizminister Schmidt-Jortzig (FDP) eine Kommission zur Reform des strafrechtlichen Sanktionensystems ein, die aus Vertretern der Wissenschaft und Praxis, des Bundesjustizministeriums und der Justizverwaltungen der Länder bestand. Vorausgegangen war u.a. eine Große Anfrage der SPD-Fraktion zur „Besonderen Verantwortlichkeit von Unternehmen“ (BT-Drs. 13/9682). Bereits die vorbereitende Arbeitsgruppe[36] stand der Einführung der Verbandsstrafe skeptisch gegenüber und bezeichnete sie als „Weg in ein anderes Strafrecht“, das „vielschichtige Probleme in verfassungsrechtlicher, strafrechtlicher und strafverfahrensrechtlicher Hinsicht“ aufwerfe. Auf ihrer Sitzung am 29./30. November 1999[37] sprach sich die Kommission dann mit großer Mehrheit gegen die Einführung eines Unternehmensstrafrechts aus, da die bisherigen Sanktionsmöglichkeiten ausreichend seien und einer Implementierung der Verbandsstrafe gewichtige dogmatische und verfassungsrechtliche Bedenken entgegenstünden; empfohlen wurde der weitere Ausbau des vorhandenen Instrumentariums.

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In den 2010er Jahren ist die Diskussion neu entbrannt. Verantwortlich hierfür dürfte nicht nur sein, dass mittlerweile fast alle EU-Staaten ein Verbands- bzw. Unternehmensstrafrecht eingeführt haben (Rn. 130), sondern auch, dass Großverfahren die Grenzen des bisherigen Systems aufzeigten und insb. die strafrechtliche Aufarbeitung der schweren Finanzkrise der Jahre 2008/09 als unbefriedigend angesehen wurde.[38] Im November 2011 befasste sich das 4. ECLE-Symposium[39] mit dem „Unternehmensstrafrecht“. Auf der Herbstkonferenz der Justizministerinnen und Justizminister am 15. November 2012[40] wurde erörtert, ob die Verhängung von Geldbußen „noch ausreicht“ und „noch zeitgemäß“ ist. Im April 2013 stellte die SPD-Fraktion im Bundestag den Antrag „Wirtschaftskriminalität effektiv bekämpfen“ und regte die Prüfung eines Unternehmensstrafrechts an.[41] Im September 2013 befasste sich die Gesellschaft für Rechtsvergleichung mit der Strafbarkeit juristischer Personen.[42]

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Am 18. September 2013 präsentierte der nordrhein-westfälische Justizminister Thomas Kutschaty (SPD) den „Entwurf eines Gesetzes zur Einführung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit von Unternehmen und sonstigen Verbänden“ (Verbandsstrafgesetzbuch – VerbStrG)[43], der sich an das österreichische „Bundesgesetz über die Verantwortlichkeit von Verbänden für Straftaten“ (Verbandsverantwortlichkeitsgesetz, VbVG)[44] anlehnte (Rn. 120 ff.). Der Entwurf, der „demnächst“ in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht werden sollte, wurde zwar von der Herbstkonferenz der Justizministerinnen und Justizminister am 14. November 2013[45] begrüßt, stieß aber im Schrifttum auf starke Vorbehalte (Rn. 130 ff.). Als Alternativvorschlag präsentierte der Bundesverband der Unternehmensjuristen (BUJ) im April 2014 einen Vorschlag zur Reform der §§ 30, 130 OWiG.[46] Der Entwurf des VerbStrG wurde bis Ende der Legislaturperiode nicht aufgegriffen, obwohl die Rahmenbedingungen als „günstig“[47] galten. Der Koalitionsvertrag der Großen Koalition (CDU/CSU/SPD; Angela Merkel) für die 18. Legislaturperiode von Ende November 2013 hatte in Aussicht gestellt, das Ordnungswidrigkeitenrecht auszubauen und ein „Unternehmensstrafrecht für multinationale Konzerne“ zu „prüfen“.[48]

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In der Wissenschaft wurde die Diskussion um ein Unternehmensstrafrecht intensiv fortgeführt.[49] Anfang 2016 bildete sich in Köln im Rahmen eines von der Volkswagenstiftung finanzierten Forschungsprojektes eine Expertengruppe aus Wissenschaft, Justiz, Rechtsanwaltschaft und Ministerialverwaltung. Bereits am 6. Dezember 2017 wurde der „Kölner Entwurf eines Verbandssanktionengesetzes“ (VbSG-E) vorgestellt,[50] der materiell- und verfahrensrechtliche Regelungen vorsah und erneut Elemente des österreichischen VbVG aufgriff.[51] Im Januar 2018 wurden die „Frankfurter Thesen“ präsentiert, deren Verfasser für eine „parastrafrechtliche“ Regelung der Unternehmensverantwortlichkeit eintraten.[52] Auch der Verband der Chemischen Industrie e.V. (VCI) und der Berufsverband der Compliance Manager e.V. (BCM) setzten sich für die Modernisierung des Unternehmenssanktionsrechts ein.[53] Am 7. Februar 2018 kündigte die wiedergewählte Große Koalition in ihrem Koalitionsvertrag an, das Sanktionsrecht für Unternehmen neu zu regeln.[54] Mitte August 2019 präsentierte Bundesjustizministerin Christine Lambrecht auf einer Pressekonferenz den (ersten) Referentenentwurf eines „Gesetzes zur Bekämpfung der Unternehmenskriminalität“,[55] das in Art. 1 das „Gesetz zur Sanktionierung von verbandsbezogenen Straftaten (Verbandssanktionengesetz – VerSanG)“ enthielt. Der Entwurf wurde allerdings im Anschluss nicht offiziell freigegeben, was nahelegt, dass sich die Ressortabstimmung sehr schwierig gestaltete. Kurz darauf, am 5. September 2019, wurde der „Münchener Entwurf eines Verbandssanktionengesetzes“ vorgestellt, den Frank Saliger und die Kanzlei Tsambikakis & Partner mit Unterstützung des Verbandes „Die Familienunternehmer“ erarbeitet hatten. Dieser Entwurf versteht sich als „Gegenentwurf“,[56] da er kleine Verbände (Stiftungen, nicht wirtschaftliche Vereine und Unternehmen) aus dem Anwendungsbereich des Gesetzes herausnehmen möchte.

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Am 21. April 2020 wurde vom BMJV der finale Referentenentwurf eines „Gesetzes zur Stärkung der Integrität in der Wirtschaft“ vorgelegt,[57] dessen Art. 1 eine modifizierte Fassung des Verbandssanktionengesetzes (VerSanG) enthält (Rn. 134 ff.). Der neue Titel des Entwurfs, der die Stärkung der Wirtschaft in den Mittelpunkt stellt, dürfte der Corona-Pandemie geschuldet sein, die im Frühjahr 2020 zu einem weltweiten „Lockdown“ führte und die Weltwirtschaft in die schwerste Rezession seit dem Zweiten Weltkrieg stürzte. Dem entspricht es, dass das BMJV in dem Schreiben, das die Verbände um Stellungnahme bis zum 12. Juni 2020 bat, ausführt, gerade in wirtschaftlich schweren Zeiten sei es wichtig, „die große Mehrzahl der Unternehmen zu stärken, die sich an die Regeln halten und die nicht die Notsituation vieler ausnutzen, um sich selbst ungerechtfertigte Vorteile zu verschaffen“. Ungeachtet der zahlreichen kritischen Stellungnahmen[58] und Änderungsvorschläge, die zum Referentenentwurf abgegeben wurden, präsentierte das BMJV bereits am 16. Juni 2020 überraschend den – inhaltlich weitestgehend unveränderten – Regierungsentwurf.[59] Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Stellungnahmen fand demnach nicht statt. Am 18. September 2020 bat der Bundesrat in seiner Stellungnahme[60] zum Gesetzentwurf[61] die Bundesregierung, insbesondere die verfahrensrechtlichen Teile grundsätzlich zu überarbeiten und unterbreitete umfangreiche Vorschläge. Zuvor hatten der federführende Rechtsausschuss und der Wirtschaftsausschuss sogar die Ablehnung des gesamten Entwurfs empfohlen.[62] In ihrer Gegenäußerung vom 21. Oktober 2020 hat die Bundesregierung zum Ausdruck gebracht, dass sie am Entwurf festhält, und die Prüfung der Vorschläge in Aussicht gestellt.[63] Damit erscheint es möglich, dass das Verbandssanktionengesetz noch in dieser Legislaturperiode verkündet wird und nach einer Übergangsfrist von zwei Jahren (Rn. 135; der Bundesrat hat eine Verlängerung auf drei Jahre angeregt) in Kraft tritt.

12. Abschnitt: Täterschaft und Teilnahme§ 49 Strafbarkeit juristischer Personen › C. Verantwortlichkeit von Verbänden im bisherigen Recht

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