Читать книгу Sternschnuppen - Gudmund Vindland - Страница 10

Gedankenpolizei

Оглавление

Die Fähre aus Oslo brauste draußen in der Bucht an uns vorbei, und Kyrre stand an der Spitze des Roten Tornados auf dem Vorderdeck. Er schien an die dreißig Leute mitgebracht zu haben, und Inga rannte ziellos auf dem Steg herum, während sie versuchte, das mentale Kostüm der perfekten Wirtin überzustreifen – aber sie fand nicht einmal ihren Bikini. Ragnhild versuchte, die Vorstellung abzubrechen.

»Jetzt setz dich doch erst mal wieder, Inga. Die bringen doch Huhn und Salat und Baguettes und Getränke mit, und sie sind schließlich allesamt ans Organisieren gewöhnt, nicht wahr? Wenn sie nicht selber mit allem fertig werden, dann kannst du dir immer noch einen Weg durch den Brei bahnen, aber nicht vorher.«

»Ich kann ja wohl unsere Gäste begrüßen!« antwortete Inga heftig und trampelte den Weg hinauf.

»Ach ja. Wir sollten uns wohl ein bißchen anziehen, Knaben, sonst halten die uns am Ende für Anarchisten oder Trotzkisten oder Nudisten. Jetzt hält die Schicklichkeit ihren Einzug!«

Ragnhild war, gelinde gesagt, wütend über die neopuritanische Moralwelle, die über die ML-Bewegung hereingeschwappt war. Es wurde im Grunde gefordert, daß sich alle anständig benahmen und zu jeder Gelegenheit gute Manieren und passende Kleidung vorweisen konnten. Wenn die Arbeiterklasse in Anzug und Sonntagskleid auftrat, sollten die ML-Leute ihr den Respekt erweisen, daß sie desgleichen taten – was ja eigentlich nicht so umwerfend revolutionär war. Das war einfach normale bürgerliche Höflichkeit, die meine klassenbewußten, arbeitenden Eltern sicher zu schätzen gewußt hätten – aber sie würden deshalb trotzdem nicht AKP wählen. Und hier haben wir den Kern der Sache. Die neue Linie lief eigentlich darauf hinaus, daß die Arbeiter nicht unnötig durch äußerliche Kleinigkeiten provoziert werden sollten, damit man mit ihnen ins Gespräch kommen und sie zu Maos Jüngern machen konnte. Wie man weiß, klappte das nicht. Ich selber hatte keinen Anzug und wollte mir auch keinen zulegen. Ich ziehe mich weiterhin lieber bequem und leger an, auch wenn ich es ab und zu witzig finde, im Smoking herumzustolzieren.

Was Ragnhild so empörte, war, daß die AKP anfing, diese neue Linie zu formalisieren. Sie machten es zu einer Regel, daß es wünschenswert war, sich Moralbegriffe und Werte der Arbeiterklasse zuzulegen – ohne dem eine qualitative Bewertung zugrunde zu legen. Sie übernahmen ganz einfach alles, und das war so dumm, wie es ein Fehlschlag war.

Sie wollten jedoch weder verstehen noch zugeben, daß sie einen Fehler machten, und deshalb kamen mir die ersten zaghaften Zweifel an der Vernunft dieser Leute. Sie hatten beschlossen, volkstümlich zu sein, sich der Arbeiterklasse zu nähern und sich in deren eigener Sprache mit ihr zu verständigen. Das war die Theorie. Und dann haben wir die Praxis. In der Praxis steigerten sie ihre Volkstümlichkeit bis zur Parodie und machten sich und nicht zuletzt auch ihre Botschaft dadurch lächerlich. Außerdem waren in den unteren Volksschichten nicht wenige einfach stocksauer über diese Grünschnäbel aus dem Westend, die versuchten, Proletarier zu spielen. Damit erzielten sie genau das Gegenteil des Gewünschten. Sie verjagten die Menschen mit dem Mittel, das sie anziehen sollte. Und das wollten sie einfach nicht einsehen.

Leider interessierte die AKP sich in den siebziger Jahren nicht nur für Sprache und Kleidung. An diesem Abend in Wolkenwild wurde mir in dieser Hinsicht eine heftige Lektion verpaßt. Unter unseren feiernden Rot-Front-Gästen befand sich nämlich ein großer dünner Bursche mit Brille und Adamsapfel, der soviel mißtrauische Antipathie ausstrahlte, daß die Hälfte auch als Viertel durchgegangen wäre, um mit meinem Vater zu sprechen. Er schlich im Haus herum und sah sich alles mit kurzsichtiger Skepsis ganz genau an. Als er den Erker erreicht hatte, blieb er stehen und schluckte wie zur Bestätigung mehrmals. Denn dort hatten wir ja die Glotze in die Ecke gestellt und Matratzen auf den Boden gelegt und überall Kissen verteilt. Und ich hatte einen nicht mehr ganz taufrischen Gobelin aus Hedmarken und üppige Vorhänge aufgehängt, um die Abendsonne auszusperren – das Ganze konnte also haarscharf unnorwegisch wirken, um nicht zu sagen, haremssklavisch.

»Du!« sagte Adamsapfel zu mir, als ich an ihm vorbeischlüpfen wollte. »Was meinste denn, was die dazu sagen?«

»Wer sagt was wozu?«

»Arbeiter! Wenn die herkommen und das da sehn, meinen die doch, ihr feiert hier Orgien.«

»Tun wir ja vielleicht.«

»Ach. So einer biste. Scherzkeks, wa? Denkste nich’ dran, daß ihr dem ganzen Proletariat als gutes Beispiel vorangehn sollt? Ein einfacher Arbeiter würd sich hier nie zu Hause fühlen. Arbeiter sitzen auf Stühlen!«

Mir war natürlich klar, daß Genosse Adams sich so ekelhaft aufführen wollte, wie er aussah, aber er gehörte zufällig zu der Sorte Mensch, vor der ich keine physische Angst habe. Und deshalb gab ich dem Drang nach, diesem Nervbolzen ordentlich vor den Latz zu treten.

»Wenn du dich gütigerweise kurz umdrehst, dann kannst du vielleicht hinten den Salon erkennen, wo mindestens acht Menschen auf Sofas und Stühlen sitzen. Das hier ist unser Fernsehzimmer, verstehst du, und da ist es praktisch und bequem, sich hinhauen zu können, wo man will. Gruppensex läuft bei uns normalerweise am Strand.«

»Ja, das glaub ich gern. Aber sieh dir doch das Zimmer mit Glas- und Messingtischen und diesen niedrigen Sofas an, das is ja wohl nur was für Leute wie dich, Arbeiter können sich so was nich’ leisten! Die würden sich hier nich’ zu Hause fühlen!«

»Meine Eltern schienen sich hier jedenfalls sauwohl zu fühlen, als sie zu Besuch waren. Mein Vater hat da in der Ecke gesessen und über die Nachrichten geschimpft, genau wie zu Hause.«

»Ich red hier von Arbeitern

»Mein Vater arbeitet in der Fabrik – am Fließband –, und meine Mutter ist Köchin in einem Altersheim.«

»Ha! Gelogen! He, Genossen, hört her! Wir haben einen Provokateur unter uns! Dieser Typ versucht, dekadente Ideen zu verbreiten und behauptet auch noch, seine Eltern wären Arbeiter. Jetzt fragen wir ihn doch mal, wie diese Eltern heißen und wo sie wohnen und ob sie im Telefonbuch stehn und ob es sie überhaupt gibt.«

Er brüllte so laut und triumphierend, daß alle verstummten, und ich ließ mich ausnahmsweise bis zum äußersten provozieren, ehe ich explodierte.

»Ja, hört, Leute, hört! Hier steht ein Dussel, der so paranoid ist, daß er findet, wir hätten ein unmoralisches Fernsehzimmer und zu schöne Möbel. Und mich hält er für einen CIA-Agenten, weil ich anderer Meinung bin als er und weil mein Vater Eisenarbeiter ist. Wo wollt ihr den denn nach der Revolution einsetzen, zum Teufel? Bei der Gedankenpolizei?«

Das letzte hätte ich mir wohl verkneifen sollen – um meinetwillen. Das gefiel nämlich niemandem. Große Unruhe erhob sich unter dem Himmel, bis Inga sich zu mir durchkämpfte und die Unruhe noch vergrößerte.

»Was soll denn das bloß, Yngve? Du brauchst doch nicht so böse zu werden, weißt du ...«

»Geh doch mit diesem kurzsichtigen Frosch ins Arbeitszimmer und zeig ihm, daß Petrus und Maria im Telefonbuch stehen und in Lambertseter wohnen. Und dann kannst du ja bezeugen, daß sie wirklich hier zu Besuch gewesen sind, nicht Kronprinz und Kronprinzessin, die sich verkleidet hatten und Volk spielten.«

»Jetzt reg dich ab! Du auch, Roy. Kommt beide her, dann setzen wir uns zusammen und lösen diesen Widerspruch unter Genossen.«

Roy Adams sah sie verächtlich an und verkündete:

»Glaub ja nich, ich würd auch nur einen Fuß in diesen Puff setzen!«

Nun endlich erlebten meine inneren Spannungen eine willkommene Auslösung in Form eines schallenden Lachens, das die arme Inga nur noch verwirrter machte.

»Was ist denn bloß los mit euch? Ich versuche doch nur, euch zu helfen ... aber dann schlagt euch eben die Zähne ein! Macht schon! Ich werd euch nicht daran hindern, verdammt noch mal!« brüllte Inga Lunde, ehe sie rasch in ihre perfekte Wirtin-Rolle zurückfand und weiter in der Gesellschaft zirkulierte. Genosse Roy imitierte einen Polizeihundblick und versuchte, unmerklich zu schlucken, ehe er leise, aber durchdringend sagte:

»Diesmal hastes geschafft, aber fühl dich bloß nich zu sicher, du. Von jetzt an werden wir dich im Auge behalten ...«

Ja, das sagte er tatsächlich, ehe er zwischen den anderen verschwand. Ich zuckte die Schultern und ließ ihn gehen, um mir weitere Idiotien zu ersparen, aber seine Worte hatten bei mir eine Langzeitwirkung, mit der nicht zu spaßen war. Er hatte jedenfalls genug Spürsinn, um mich an meinem schwächsten Punkt zu treffen.

Ich brachte die Sache bei der nächsten Hausversammlung zur Sprache und erklärte, was passiert war und was der Typ gesagt hatte. Kyrre schüttelte den Kopf und versicherte, daß Genosse Roy übernervös war und in jeder Ecke einen Spitzel sah. Er würde ihm auf die Finger hauen. Auf meine direkte Frage, ob die Partei wirklich andere überwachte, antwortete Kyrre wortwörtlich: »Du glaubst wohl nicht, ich wäre blöd genug, um mit einem Provokateur zusammenzuwohnen?«

Ja, das sagte Kyrre Eliassen, ehe er zum nächsten Punkt auf der Tagesordnung überging. Ich saß da mit meinen unbestätigten Meldungen, die ich wie folgt deutete: Kyrre weiß, daß ich kein Provokateur bin, und deshalb wird er dafür sorgen, daß weder Zeit noch Kräfte vergeudet werden, um das zu beweisen. Und danach beschloß ich, mich sicher zu fühlen, und das gelang mir auch ganz gut – aber nicht vollständig. Orwells Gedankenpolizei zeigte sich immer wieder und überall, vor allem in kleinen alltäglichen Situationen, die ich unter anderen Umständen für einen witzigen Zufall gehalten hätte. Wenn ich zum Beispiel zweimal hintereinander dasselbe Gesicht auf der Straße sah. Oder einen Mann mit einer Zeitung in einem parkenden Auto, der mir bekannt vorkam. Oder wenn es besonders laut im Telefon klickte. Oder wenn zwei Männer in einem Motorboot draußen in der Bucht herumdümpelten und das Haus mit dem Fernglas betrachteten. Wurde man dann überwacht oder nicht? Und wenn ja, von wem?

Und so schaffte es der paranoide Genosse Adams, mir lange und spürbar das Leben zu vergällen. Er streute ganz bewußt Zweifel und Argwohn aus, die leicht Wurzeln schlagen und zu giftigem Verfolgungswahn erblühen konnten. Aber nicht bei mir. Gott sei Dank. Nie mehr! Ich hatte soviel darüber gelernt, wie Menschen sich in solchen geistigen Irrwegen verlaufen können, daß ich den verlockenden Fallen ausweichen konnte. Und obwohl ich Kraft und Aufmerksamkeit aufbringen mußte, um nicht wieder wahnsinnig zu werden, konnte ich doch damit leben – wie mit allem anderen. Also konnte der gedankenpolitische Roy Adams keine bleibenden Schäden anrichten. Bei mir, wohlgemerkt.

Ansonsten wurde mir, soviel ich weiß, noch zweimal in meinem Leben die Ehre zuteil, mich im Brennpunkt seines intensiven Interesses zu befinden. Im folgenden Jahr trotzte ich abermals allem, was Phobie und Noia hieß, nahm höchstpersönlich an der Maidemo in Oslo teil und zeigte mich stolz und Glad to be Gay. Und unter den Zuschauern – wo sonst? – entdeckte ich plötzlich einen bebrillten Adamsapfel mit forschender Miene, die sich zu hochmütigem Grinsen verzog, als er mich erkannte. Er war wohl doch nicht so kurzsichtig, wie mir nun aufging, während das, was er gerade begriffen hatte, wie Gorgonzola aus seiner ganzen Gestalt dampfte: »Ach, schwul bist du! Ja, hab ich’s mir nich’ gedacht!«

Zum letzten Mal sah ich ihn mehrere Jahre später ausgerechnet im Café Engebret. Damals zählte es zu Oslos besten Fischrestaurants, und ich hatte drei Schwule aus den USA mitgeschleift, um sie eine bessere norwegische Kabeljaumahlzeit mit viel französischem Rotwein genießen zu lehren. Wir wurden zu einem Fenstertisch geführt, und ich hatte noch nicht einmal den Aperitif bestellt, als ich den Gorgonzoladuft der Gedankenpolizei bemerkte. Am anderen Ende des Lokals hüpfte der Adamsapfel wie ein Yo-Yo auf und ab, während er klebrige Sprechblasen mit folgendem Klartext aussandte: »Aha! Du bist so dekadent, daß du hier verkehrst! Und was sind das für Agenten, diese aufgetakelten Schwulen, die mit dem Geld um sich schmeißen?«

Als der Kellner uns einen Dry Martini brachte, prostete ich ihm mit einem förmlichen kleinen Nicken zu, und dann konnte ich ihn zum Vorteil des Kabeljaus vergessen – der trotz allem ein viel angenehmerer Fisch war.

Hier und jetzt befinde ich mich in der hervorragenden Lage, hinterher klüger zu sein, und deshalb möchte ich gern eine letzte Runde für Genossen Adams schmeißen. Es stellte sich nämlich heraus, daß er allen Grund hatte, sich verfolgt zu fühlen, der Arme. Inzwischen ist gründlich belegt worden, daß Sicherheits- und Überwachungspolizei in den siebziger Jahren ganz schön viel Dreck am Stecken hatten, was abgehörte Telefone und allgemeine Registrierungen von Linksradikalen im Königreich Chlorwegen betrifft. Inzwischen haben sie ja exotischere Jagdgründe aufgetan. Jetzt sind es Phänomene wie dunkle Hautfarbe und grüne Haare – und alles andere, was auf rechte Politiker und ihre weißen Kaninchen anstößig wirkt –, die ausübende Macht und erzieherische Tätigkeit der Bullerei anregen. Aber die Sicherheitspolizei hat die politischen Archive, die sie damals so emsig angelegt hat, sicher nicht zerstört. Sicher haben sie immer noch ein liebevolles und vielleicht ein wenig nostalgisches Auge auf uns. Und wer und wieviele im großen Erinnerungsbuch einen Ehrenplatz einnehmen – ja, das weiß wohl nicht einmal der König.

Die AKP wußte sicher schon zu Anfang der siebziger Jahre viel mehr als Seine Majestät und gab sich alle Mühe, immer ein oder zwei Schritte vor ihren Überwachern zu liegen. Sie beschäftigten sich fast manisch mit der sogenannten Sicherheitsfrage, und natürlich waren alle Kader auf der Hut vor Spionen und Provokateuren, von denen es sicher eine Menge gab. Und wenn man irgendwelche Zweifel hatte, weil man irgendwas nicht sicher wußte, dann gab es genug phantasievolle Vorstellungen, die Roy Adams and His Apple Bugs schluckten und schluckten und schluckten, ehe sie sie wie eine Viruspest weiterverbreiteten.

Der Sauberkeitsgrad in der ML-Bewegung war deshalb ganz schön hoch, und mitten in dieser trügerischen Wirklichkeit war Genosse Adams mit seinem angeborenen Argwohn gelandet. Im Grunde waren Roy Adams und seine Gesinnungsgenossen sehr zu bedauern, denn die ganze Welt muß ja von seinem kurzsichtigen Standpunkt aus in jeder Einzelheit äußerst bedrohlich ausgesehen haben. Viele konnten den Druck, den der Machtapparat auf die ML-Bewegung ausübte, nicht ertragen, und einige sind durch rücksichtslose politische Schikanen einfach kaputtgegangen. Das geschah nicht zuletzt durch unsere Freie und Unabhängige und Wahrheitssuchende Presse, die ein für allemal beweisen konnte, daß die Massenmedien die wirksamste Waffe der Systembewahrer sind. Niemals haben sich so viele Presseleute gegenüber einem so lebensgefährlich bedrohten Machtapparat als so unterwürfig und loyal erwiesen, wie man auf allen ersten Seiten und Kilometern von Spalten nachlesen konnte. Wir müssen schon nach Süd-Korea, um eine ähnlich hysterische Kommunistenjagd zu erleben.

Sternschnuppen

Подняться наверх