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Die Feuertaufe

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Es war bereits hell. Das merkte ich, ohne die Augen zu öffnen. Dann fiel mir ein, wo ich war und warum, und ich kniff sie hart wieder zusammen, um die unbarmherzige Wirklichkeit so lange wie möglich auszuschließen. Aber die Angst kam von innen. Sie war immer da, wie ein Dorn in meiner Seele, um mich daran zu erinnern, wer ich war; ich konnte niemals ein anderer werden als Yngve Vilde, vierundzwanzig Jahre, Korrekturleser bei der Prawda, erst vor vier Monaten aus Norwegens meistgepriesenem Irrenhaus entlassen – eine Tatsache, die mich dazu brachte, mich hinter meinen zusammengekniffenen Augenlidern nur noch mehr zusammenzukrümmen. Seit Wochen fürchtete ich mich schon vor dem Licht und vor dem Tag da draußen. Es war der Morgen des ersten Mai, und ich würde zum ersten Mal an dem Platz, an den ich gehörte, an einer kommunistischen Demonstration teilnehmen – im Rosa Block. Ich streckte den Arm aus und tastete nach dem einzigen festen Haltepunkt, den es in meinem Dasein gab – nach meinem Liebsten –, und doch, er war da. Øystein Einhorn lag neben mir und schlief den Schlaf der Unschuldigen; er, der mich mit Lockungen und Drohungen dazu gebracht hatte, mich an diesem übermenschlichen Projekt zu beteiligen.

Ich hatte tierische Angst. Ich hatte Menschenmengen und Massenveranstaltungen noch nie ertragen können. Das einzige, womit ich mich zur Not abfinden konnte, waren die Schlangen im staatlichen Alkoholladen. Meine größte Leistung in dieser Hinsicht war eine Demo gegen EG und Inflation im Jahre 1972 – und dabei hatte ich einen Mann mit einem großen Löwenherzen kennengelernt –, aber das war anders gewesen. Erstens war mehr als die Hälfte der Bevölkerung derselben Ansicht wie ich. Zum anderen war es vor meinem totalen Zusammenbruch und der darauf folgenden Genesung. Diesmal aber sollte ich an der kommunistischen Maidemo teilnehmen, die höchstens zehn Prozent des Volkes mit Wohlwollen betrachtet. Außerdem sollte ich öffentlich als Schwuler auftreten – und ich war immer noch äußerst skeptisch denen gegenüber, die behaupteten, daß sich die allgemeinen Ansichten radikal zum Besseren änderten. Ich war davon überzeugt, daß sich die wachsende Toleranz auf die Theorie beschränkte. Ich war sicher, daß es gefährlich war, die Leute dadurch zu provozieren, daß wir ganz offen durch die Straßen der Hauptstadt trampelten. Deshalb hatte ich eine Scheißangst davor, unter wehenden und stolzen homopolitischen Fahnen zu marschieren. Aber es half kein Zappeln und kein Schrei’n. Øystein wollte, daß ich dabei war, und da hatte ich im Grunde keine Wahl.

Ich hatte an einigen Treffen des »Verbands von 1948«, der norwegischen Lesben- und Schwulenorganisiation, teilgenommen, der sich langsam zu einer starken Kampforganisation für homosexuelle Emanzipation entwickelt hatte, mit immer radikalerer Ausprägung. Natürlich gab es innerhalb des Verbandes starke Gegensätze. Zu ihm gehörten schließlich Mitglieder aller politischen Schattierungen – von Rechten bis zu Marxisten-Leninisten –, unsere sexuelle Orientierung war unsere einzige Gemeinsamkeit. Aber bisher hatten wir uns auf eine gemeinsame Linie einigen köönnen, die einzige Ausnahme bildeten die Anarchos. Die waren im allerhöchsten Grad mit dem Ausbrechen beschäftigt.

Durch Øystein war ich mit der ML-Fraktion des Verbandes bekannt geworden, die aus etwa zwanzig engagierten Knaben und wenigen Mädels bestand. Sie waren eine sympathische und anregende Gesellschaft, mit der ich mich immer stärker verbunden fühlte, aber ich war doch noch nicht bereit, in die Partei einzutreten und ein vollwertiger Teil der Bruderschaft zu werden. Daß Øystein Mitglied war, war für mich nicht automatisch ein Grund. Ich hatte mich bisher zu einem Dasein als Zaungast entschlossen – aber heute fühlte ich mich gezwungen, vom Zaun herunterzuspringen und an der Demo teilzunehmen. Ich biß die Zähne zusammen, öffnete die Augen und ging unter die Dusche.

Wir trafen uns zum Frühstück im Schwulencafé, und ich war so nervös, daß ich am ganzen Körper zitterte – und natürlich war ich stocknüchtern. Die Alkoholpolitik in unserer WG war äußerst gemäßigt, und ich hatte seit über einem halben Jahr schon keine beruhigenden Pillen mehr geknabbert. Deshalb fühlte ich mich vollkommen ausgeglichen und hatte Stacheldrahtnerven entwickelt.

Zu meiner großen Überraschung wurde zum Frühstück Bier serviert, und einen Moment lang spielte ich mit dem Gedanken an eine leichte Notlösung, nämlich, ein bis drei Halbe zu kippen. Aber da griff Über-Yngve ein und bestellte Kaffee. Mein frischrestauriertes Über-Ich ließ sich nicht zu einer Mäßigung seiner strengen Forderungen manipulieren: Wenn ich schon zu einer Demo ging, dann wollte ich das auch mit klarem Kopf erleben und nicht in tranigem Bierrausch herumwuseln. Basta! Leider machte mich der viele Kaffee durchaus nicht weniger nervös, aber zum Ausgleich törnte mich die starke Stimmung beim Frühstück total an. Wir waren mehr als sechzig Schwule und Lesben, die in die Welt ziehen und den Leuten klarmachen wollten, daß wir stolz darauf waren! Wir sangen Kampflieder und hielten Appelle und fühlten uns phantastisch, ehe wir uns zum Grønland-Platz begaben, wo die Demo anfangen sollte. Was danach passierte, registrierte ich mit glasklaren Sinnen, auch wenn ich mich nicht gerade bodennah fühlte.

Überall waren überwältigend viele Leute. In Brugata und Grønlandsleiret wimmelte es von Menschen, und der riesige Grønland-Platz war fast voll. Was mir als erstes auffiel, waren die vielen Trachten. Jede dritte Frau schien in Tracht zu gehen, und das ergab für mich keinen Sinn. Ich war zu einer radikalen Arbeiterdemonstration gekommen – nicht zu einem Spielmannstreffen. Ich konnte nicht fassen, daß es so viele radikale Bauerntöchter geben sollte. Erst vor einem Jahr hatte ich persönlich in der Prawda einige Artikel Korrektur gelesen, die sich mit der bizarren Tatsache befaßten, daß sich der Norwegische Bäuerinnenverband mit großer Mehrheit dagegen ausgesprochen hatte, unser königliches Reichserbhofgesetz auch auf Frauen auszudehnen. Jetzt kapierte ich den Zusammenhang überhaupt nicht mehr. Bis wir unsere munteren Mitbewohnerinnen trafen, Ragnhild und Inga, die ebenfalls in Tracht waren. Alle beide. Ragnhild war per Definition nach dem neuen Gesetz Anerbin, ihre Hedmarkstracht war also in Ordnung. Aber was war mit Inga? Sie war doch trotz allem auf Holmenkollåsen aufgewachsen. Unterstützt von ihrer energischen Körpersprache, die ihren Silberschmuck lustig klingeln ließ, klärte sie dieses Mysterium auf:

»Du brauchst doch keine Bäuerin zu sein, um eine Tracht zu haben, oder? Alle in meiner Familie haben eine. Ich glaube, auch alle Frauen in meiner Klasse. Das ist einfach so«, sagte Inga Lunde.

Ich traute mich nicht, sie zu fragen, was genau sie mit »Klasse« gemeint hatte, aber mir ging auf, daß die meisten Frauen aus dem guten Bürgertum ihre fleckenlosen Nationaltrachten trugen. Und warum nicht? Sie brachten jedenfalls Farbe in die Menschenmenge, aber ansonsten wirkten sie ein wenig eingeschnürt und schienen in der brennenden Sonne zu schwitzen, die Armen. Und sie waren nicht die einzigen. Bei näherem Hinsehen zeigte es sich, daß ein großer Prozentsatz der demonstrierenden jungen Männer in Anzug und Schlips angetreten war. Das begriff ich einfach nicht, nahm es aber ohne weiteres Nachdenken hin, auf dieser Welt ist eben kein Ding unmöglich.

An jenem Vormittag des ersten Mai war die Folklore auf Grønland mächtig vertreten. Mit Blaskapellen und Rockbands auf Lastwagen und starken Appellen aus unzähligen Megaphonen. Und jeder Zehnte der sechstausend Anwesenden verkaufte irgendein radikales Pamphlet; man brauchte einen Rucksack, um eine kleine Auswahl davon mit nach Hause nehmen zu können. Ich beschränkte mich darauf, einen Anstecker mit wehenden roten Fahnen zu kaufen, der auf meinem bescheidenen Jackenrevers, Marke Levi’s Cord, wunderhübsch aufleuchtete. Weiter mochte ich einfach nicht gehen. Ich weigerte mich kategorisch, mir irgendein Schwulenabzeichen anzupappen. Zum Ausgleich klammerte ich mich an Øystein, der Plaketten genug für uns beide hatte. Es war einfach notwendig für mich, körperlichen Kontakt zu ihm zu haben. Ich wußte, daß ich zerreißen würde, wenn ich in dieser lärmenden Menschenmenge auch nur eine einzige Sekunde auf eigenen Füßen stehen müßte.

Der Rosa Block war ungefähr in der Mitte der Demo angesiedelt, und bald wickelten die Enthusiasten Transparente mit stolzen Losungen auseinander:

Keine Unterdrückung von Homosexuellen mehr!

Homosexuelle Frauen und Männer – gemeinsam sind wir stark!

Schluss mit der gesetzlichen Diskriminierung von Homosexuellen!

Inzwischen sammelten sich an die hundert kampfesbereite Menschen unter diesen Fahnen. Wir standen in Sechserreihen, bewegt und entschlossen, und warteten auf den Abmarsch, als eine heulende Stimme allen anderen Lärm übertönte und mit gewaltiger Kraft mein inneres Ohr erreichte: »Tutta, Tuttaaa! Maaaine Güte, demonstrierste auch? So was habe ich ja noch nie gesehen! Vom Irrenhaus zur Demo! Halten deine Nerven das denn aus?«

Das war Terje, das hörte ich an seiner Stimme, aber ich konnte diese Stimme nicht mit dem Wesen in Verbindung bringen, das sie von sich gab. Vor mir stand nämlich eine Art Sennerin mit zwei langen blonden Zöpfen und rotweißblauen Schleifen. Sie war ganz schön üppig – oder, genauer gesagt, ausgestopft – und trug die fescheste Tracht, die ich an diesem Vormittag entdeckt hatte. Aber anstelle von Silber und Gold hatte die Dame sich haufenweise Plaketten und Anstecker mit den allerfrappierendsten Botschaften an den Busen geheftet, von »Kein Ausverkauf Norwegens!« bis zu »Legalize Erdbeereis!«. Ihr ganzer üppiger Busen sah aus wie eine Generalissimo-Uniform, was von zwei roten Wangen und einem schwarzgefärbten Vorderzahn noch betont wurde.

Diese freudige Überraschung mußte mir eine Art Schock verpaßt haben, ich brachte kein Wort heraus. Einerseits wäre ich ihm gerne um den Hals gefallen und hätte ihn herzhaft betatscht, andererseits war mir mit aller wünschenswerten Deutlichkeit klar, daß das hier nicht zum Programm gehörte. Er war einfach knatschverrückt. Wir sollten im Kampf für unsere sonnenklaren demokratischen Rechte durch die Straßen marschieren, und da tauchte Terje, mein bester Freund unter allen Menschen, von nirgendwoher auf – und auf so irrwitzige Weise. Er würde alles ruinieren.

»Das hier ist Ernst«, sagte Øystein und legte mir energisch den Arm um die Schultern. »Das hier ist kein Karneval!«

»O doch, Schwesterchen, das hier ist der internationale Festtag der Arbeiterklasse, damit du’s weißt, und ich hab mich in meinen feinsten Zwirn gezwängt – genau wie alle anderen Mädels in dieser Gaunerbande! Außerdem steht im Programm, daß alle unter ihren eigenen Prämissen oder so teilnehmen können, und da war’s doch höchste Zeit, daß ich die Mottenkugeln aus diesem Prachtwams herausschüttele; das hab ich übrigens von meiner Großmutter aus Homotal geerbt.«

Terje lief mit Speed – daran konnte kein Zweifel mehr bestehen –, deshalb war er vööllig unaufhaltsam, wenn auch nicht total unwiderstehlich. Ich hatte ihn zuletzt im Januar gesehen, als er seinen Job bei der Straßenbahn hingeschmissen hatte, weil er mit einem Porschefahrer nach München gurken konnte, aber jetzt war er also vom Kontinent heimgekehrt, um den großen Tag im Land seiner Mütter zu begehen. Ich versuchte, mich zu konzentrieren, um etwas Nettes und Lehrreiches zu sagen, aber daraus wurde nichts. Terje Falkenauge war natürlich nicht allein.

Eine kreischende Volksmenge von mindestens zwölf Personen wälzte sich hinter ihm her – und sie wirkten eher wie zwölf Dutzend. Sie trugen die unmöglichsten Damenkostüme dieses Jahrtausends – Seide und Straußenfedern, Krinolinen und Häubchen –, und sie trugen ein riesengroßes Transparent mit einer goldenen Inschrift auf schockrosa Grund:

Schwule sehen aus wie alle anderen!

Ich kann fast mit Sicherheit sagen, daß mich diese Behauptung vor einem totalitären Angstanfall rettete. Schließlich war es komisch! Es war eine so grenzenlose Übertreibung, daß sie dem großen Ernst, der mich fast bis zum Asphalt hinuntergedrückt hatte, den Stachel brach. Ich trippte turmhoch bei der Erkenntnis, daß Humor unsere wichtigste Waffe im Kampf gegen die Große Mehrzahl und ihre festgewachsenen Vorurteile ist. Mir ging auf, daß die Angst der Gesellschaft wie Reif in der Sonne verdampfen wird, wenn wir sie dazu bringen können, mit uns zu lachen. Ich begriff, daß wir unsere Existenz mit Humor sichern müssen.

Im Jahre 1974 hatten das vor mir zwölf Menschen verstanden und gewagt, es zu zeigen. Ich wurde der dreizehnte, Scheiß drauf, in der Hinsicht bin ich wirklich nie abergläubisch gewesen. Leider kapierte das von den restlichen hundert damals niemand. Sie waren wütend. Sie hielten das für eine verdammte Scheißprovokation – und das war es natürlich auch. Ein Wirrwarr von streitenden, gestikulierenden Menschen sammelte sich um diesen durchgetunteten Zuwachs zu unserem Block –, und ich beschloß, mich und Øystein aus dem Wortwechsel weit herauszuhalten, mit der Androhung augenblicklicher Desertion, falls er mich losließe. Aber gleichzeitig mußte ich einfach losprusten, und deshalb wußte er nicht so recht, was er machen sollte. Zum Glück beschloß er, daß ich mich wohl am Rande der Hysterie befand – was ja schließlich zutraf – und daß es deshalb seine erste Pflicht war, in diesem ganzen Chaos auf mich aufzupassen. Der Konflikt ließ sich weder durch Vergleich noch durch Richterspruch lösen. Den suffragettischen Mili-Tanten wurde ein Platz in der Demo oder zumindest in unserem Block brüsk verweigert, und sie wurden mit Lärm und Geschrei vertrieben. Terje verschwand zusammen mit ihnen im Gewimmel, und das machte mich ziemlich unglücklich.

»Wir müssen doch Platz für alle haben, Øystein! Und ich fand sie witzig.«

»Ja schon, aber vergiß nicht, daß wir schließlich der Welt zeigen wollen, daß wir – ja, daß wir wie alle anderen sind. Diese idiotischen Anarchos untergraben ja den ganzen Sinn unserer Demo – und jetzt geht’s endlich los.«

Ich achtete auf alles, als wir uns in Bewegung setzten und ein Teil der meilenlangen Demo wurden, die in die Innenstadt marschierte. Øystein und ich gingen mitten im Block, und ich ließ seine Hand nicht los. Daß wir uns an den Händen hielten, war an sich schon eine Provokation, aber ich hatte noch mehr Angst davor, mit meiner eigenen Angst isoliert zu sein. Denn unter den Pflastersteinen rummelte die ganze Zeit eine gewaltige brüllende Finsternis, und ich hatte immer noch eine Sterbensangst davor, den Gullideckel in meinem eigenen Kopf hochzuheben.

Wir fingen an, Schlagworte zu rufen, laut und rhythmisch.

Homos – Heteros – Solidarität!

Homos – Heteros – Solidarität!

Das half, fand ich. Zu hören und zu spüren, daß wir mehr als hundert starke Stimmen waren, die zum Chor wurden. Ich war nicht allein!

Als wir in die Storgata einbogen, erlebte ich etwas, was ich niemals vergessen werde, wovon ich nicht einmal in meinen positivsten Phantasien geträumt hatte. Denn dort drängten sich auf beiden Straßenseiten die Menschen, und ich dachte: Jetzt kommen die Hohnworte, jetzt kommt die Feuertaufe! – Aber sie fingen an zu klatschen! Applaus brach über uns herein. Eine riesige Menge lächelnder, froher Menschen stimmte mit uns ein, daß es durch die Stadt hallte:

Homos – Heteros – Solidarität!

Ich mußte glauben, daß das wirklich passierte, denn ich war ja dabei und erlebte alles mit jeder Faser meines Körpers und meiner Sinne – und das brachte mich total hoch! Mitreißende Schwingungen erfaßten uns. Ich spürte, daß die Zuschauer – Hunderte von Menschen – unseretwegen stolz waren. Und da war auch ich stolz. Sie gaben ihrer Bewunderung Ausdruck, weil sie uns mutig fanden. Und da ging mir mit einem Freudenschauer auf, daß wir das wirklich waren. Auch ich! Ich war nicht länger Yngve-Jammerlappen, der am liebsten unter einer warmen Decke hinter einer verschlossenen Tür in Embryostellung liegen wollte. Ich war dabei! Ich tat etwas. Auch wenn ich nicht auf den Barrikaden stand und mehr als mutig war, so sah ich doch endlich ein, daß es Sinn hatte, wenn ich meine irdische Hülle in einer demonstrierenden Menschenmenge unterbrachte. Denn zusammen manifestierten wir Willen. Und die Leute am Straßenrand, die uns so warmen Beifall spendeten, waren solidarisch mit uns. Es war ein überwältigendes Erlebnis. Es brachte mir eine große, warme Freude, die mir ihrerseits Stärke und Tatkraft gab. Wir wurden allesamt hochgezogen davon. Ich merkte, daß unser ganzer Block an Kraft und Mut wuchs – und auch an Anzahl, nicht zu vergessen. Die verbannten Suffragetten zeigten plötzlich, daß sie wirkliche Mili-Tanten waren; sie sprengten sich genau hinter unserem Block ihren Weg in die Demo, und nun versuchte niemand mehr, sie zu verjagen. Und so bekamen wir doch noch einen humoristischen Schwanz, der nur positiv wirkte, denn wir bestätigten ihre Behauptung: Schwule sehen aus wie alle anderen – und sind auch wie alle anderen.

Unser weiterer Weg durch Oslos Straßen erscheint in meiner Erinnerung als eine mit Schrecken vermischte Freude, denn wir ernteten nicht nur Applaus von den Zuschauern. Unten am Dom hatte sich eine ansehnliche Bande halb- und ganzvoller Individuen versammelt, die ich mit angeborenem Spürsinn als typische Arbeiterklasse kategorisierte, und von denen war nichts anderes zu hören als Schimpfworte und Drohungen. Aber wir waren viele und stark und übertönten sie rhythmisch:

Homos – Heteros – Solidarität!

Keiner von ihnen wagte einen physischen Angriff, und das war sicher nur zu ihrem Besten. Wir hätten sie garantiert zu Brei geschlagen.

Auch Karl Johan, die Osloer Prachtstraße, wimmelte nur so von Menschen, und wir ernteten positive und negative Reaktionen. Aber inzwischen waren wir so gut zusammengeschweißt, daß wir über jegliche idiotische Kleinlichkeit erhaben waren und nur das Gute aufnahmen. Und als wir vor das Haus der Konservativen Partei kamen, wo der verzärtelte Seidenpöbel stand und in Nazigrüßen und Schmährufen schwelgte, brüllten wir sie einfach in Grund und Boden:

Homos – Heteros – Solidarität!

Und plötzlich fand ich mich auf dem Friedhof-Nonsens-Plass beim Rathaus wieder und begriff, daß ich es geschafft hatte. Ich hatte am Langen Marsch durch Oslos Straßen teilgenommen. Zum ersten Mal in der Geschichte hatten wir uns öffentlich als norwegische Lesben und Schwule gezeigt, und es war gutgegangen! Wir waren weder angegriffen noch mißhandelt worden. Sie hatten uns zugejubelt! Und dadurch waren wir allesamt gewachsen. Wir lachten und umarmten uns in einem herrlichen Durcheinander – und dann wurde getanzt. Bis zum hellen Morgen!

Sternschnuppen

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