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Bloody Lord Nelson!

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An diesem Abend in Wolkenwild hob sich der Säuregrad nach Roy Adams’ ätzenden Spekulationen über meine heimlichen Agenturen in gefährliche Höhen, bis Kyrre in die Hände klatschte und die volle Aufmerksamkeit aller erheischte. Wichtige Meldung also.

»Wie ihr alle wißt, wohnen Inga und ich jetzt schon über ein Jahr zusammen, und so soll es auch bleiben. Und deshalb können alle, die Lust dazu haben, zu unserer Hochzeit am Mittsommerabend kommen – oder am Johannisabend, wie es hier als christliches Relikt heißt –, in drei Wochen also. Das Fest wird im Nachbarhaus stattfinden – im Tempel, wie wir das nennen ...«

Der Rest der Einladung ertrank in Gratulationsovationen. Ich blickte zu Ragnhild hinüber, die nur resigniert den Kopf schüttelte und offenbar genauso überrascht war wie ich, während Øystein zusammen mit allen anderen johlte und applaudierte. Ich verstand nur noch Bahnhof. Gehörte das auch zu den Sicherheitsmaßnahmen? Sollte die Hochzeit geheimgehalten werden?

»Ich weiß, daß das für die meisten von euch überraschend kommt, aber wenn ich die Wahrheit sagen soll, wir haben uns auch erst gestern dazu entschlossen«, rief Kyrre freudestrahlend durch das Getöse.

Aber gestern war er doch gar nicht zu Hause gewesen! Um alles möglichst nett auszulegen, ging ich davon aus, daß er vorgestern meinte. In diesem Moment entdeckte ich Inga im Gewimmel, und wenn sie genauso überrascht war wie ich, dann jedenfalls positiv; sie lächelte und errötete und wirkte richtig glücklich. Verschwunden war die blödsinnige Wirtin-Rolle, und übrig war eine errötende Braut, die zu glauben schien, daß die Ehe all ihre Probleme lösen würde. Die Umstehenden schienen auch dieser Ansicht zu sein. Also Prost auf das Brautpaar, Genossen!

Welches Recht hatte ich denn aber, so kritisch zu sein? Vorauszusehen, daß Ingas Ehe zu einem unendlichen Hindernisrennen von unlösbaren Aufgaben in einer hitzigen Szene werden würde, wo Freizeit und Ferien Schimpfworte waren, wenn sie nicht Treffen und Lager bedeuteten? O nein. Jung-Vilde hatte keine gediegene Grundlage für seine Skepsis – und bei weitem nicht genügend Gewicht, um sie zum Ausdruck zu bringen. Statt dessen stellte ich mich ins Glied der Gratulierenden und umarmte die Braut und ihren Gam, und dann überließ ich die ganze Gesellschaft sich selber.

Ohne Zögern stahl ich zwei Flaschen Liebfrauenmilch – übrigens der scheußlichste Weißwein, den ich mir vorstellen kann – und ging damit in Øysteins Atelier, wo ich mich in seinen bequemen Sessel setzte und mir in melancholischer Einsamkeit in aller Ruhe einen antrank. Die Alkoholpolitik in unserer WG war, wie gesagt, recht streng, es gab Sauermilch im Alltag, und bei Festen war Maßhalten angesagt, und so war es kein Wunder, daß ich die Gelegenheit ausnutzte, um mich ein bißchen in Schwung zu bringen. Das fand ich immer noch herrlich – von Zeit zu Zeit. Damals war ich mit dem Maßhalteprogramm einverstanden. Ich war wild entschlossen, mich nicht zu Tode zu saufen, und verglichen mit meinen früheren alkoholischen Leistungen waren meine Mitbewohner die besten und gesündesten Freunde, die ich gehabt hatte, seit ich zu Hause ausgezogen war. Eben deshalb war es besonders schön, ihnen für ein Weilchen zu entkommen, und ich kippte den zuckersüßen Scheißwein und konzentrierte mich gewaltig auf alles zwischen Nase und Nabel.

Und es muß mir gelungen sein, ziemlich blau zu werden, denn ich erwachte davon, daß Øystein mein Gesicht leckte und lachte und sich freute, weil ich da war. Und dann schleppte er mich zum Himmelbett und zog mich aus und faselte davon, daß wir auch heiraten sollten und so.

»Aber sicher«, sagte ich. »Natürlich. Im Kölner Dom. Alle müssen ab und zu heiraten, weißt du.«

Und dann brachten wir noch eine verdammt gute Nummer.

Am Montagmorgen klingelte um Viertel vor sechs der Wecker, und Øystein und ich standen sofort auf, um vor Ragnhild im Badezimmer zu sein. Sie brauchte immer sehr lange im Badezimmer und wollte es am liebsten für sich haben. Ich genieße lieber das Frühstück, deshalb war es mir recht, so früh aufzustehen. Wir wollten alle mit der Fähre um sieben Uhr in die Stadt, und ich setzte Kaffee- und Teewasser auf, ehe ich hinter Øystein her unter die heiße Dusche rannte, wo wir uns den gemeinsamen Schweiß der Nacht abspülten. Ich fühlte mich frisch und gut gelaunt und legte eine muntere Haydn-Symphonie auf, während ich helle und luftige Sommerklamotten anzog. Ich mußte der Morgensonne in der Küche zulächeln, während ich fünf Eier viereinhalb Minuten lang kochte und auf dem Tisch im Wohnzimmer ein üppiges Frühstück auftischte. Jetzt erwachte auch der erste Stock zum Leben.

»Wo zum Teufel hast du meinen Rasierapparat gelassen?« brüllte Kyrre.

»Den hab ich überhaupt nicht angefaßt, ich rasier mir die Beine nicht mehr!« antwortete Inga. Die ehelichen Erwartungen hatten sich also schon dem alten Lied angepaßt. Die beiden Auserwählten machten morgens immer ein schreckliches Chaos. Egal, wie früh sie aufstanden, am Ende waren sie immer gräßlich unter Druck und mußten wie die Besessenen nach Sjøstrand hinunterwetzen, um die Fähre noch zu erwischen.

Weiche Eier und selbstgebackenes getoastetes Graubrot waren damals mein Lieblingsfrühstück – vor allem, wenn es dazu noch schwarze Oliven gab –, und auch Øystein mochte es inzwischen gern. Wir genossen das Essen und Haydn und einander, und ich führte mir schon die erste Zigarette des Tages und eine Tasse Kaffee zu Gemüte, als Inga die Treppe heruntergestürzt kam, um Müsli und Pflaumenjoghurt und entrahmte Sauermilch einzuwerfen – und dann erschien Kyrre und stopfte sich in aller Eile zwei Brote mit Ziegenkäse in den Mund. Ich begrüßte beide und konnte gerade noch registrieren, daß jemand fehlte, als Ragnhilds Tür gegen die Wand geschlagen wurde und sie mit dem folgenden erbaulichen Tagesmotto ins Zimmer getrampelt kam: »Ich blute!«

»Naja«, sagte ich und versuchte, aufrichtig mitfühlend zu sein. »Dein Ei wartet schon auf dich ...«

»Kümmer dich um deine eigenen Eier! Ich kann jetzt nichts essen. Und du kapierst überhaupt nichts. Ich bin krank. Mir ist so schlecht! Und ich muß zur Uni. Meine Frauengruppe trifft sich. Oooooooo!«

Die gute Stimmung verklang zusammen mit Haydn. Ragnhild tat mir wirklich leid, weil ich ihre Angst in ganz anderen Variationen gesehen und gefühlt hatte. Aber auch wenn ich meine eigenen Angelegenheiten immer besser unter Kontrolle bekam, so hatte ich doch kein Rezept, um ihr zu helfen – außer miteinander über alles zu reden. Im Moment war das ausgeschlossen. Sie bedachte alle, die sich ihr auf fünf Schritte näherten, mit mörderischen Blicken.

Øystein und ich räumten den Frühstückstisch ab und schalteten die Spülmaschine ein, die ich Schwester Diesel getauft hatte, und die am nettesten war, wenn sie allein zu Hause sein durfte. Als wir gehen wollten, hörte ich Kyrre von oben brüllen: »Wo zum Teufel ist der rote Ordner?«

Das Boot würde in genau sechs Minuten gehen, und bis zum Anleger waren es mindestens zwei.

Draußen war es noch schöner als drinnen, und Øystein und ich holten tief Luft. Selbst Ragnhild schien etwas milder gestimmt zu sein, als wir sie unten am Hang einholten.

»Ach, es ist beschissen, an so einem prachtvollen Tag zu bluten!«

Ein Hauch von Optimismus also. Unten am Anleger hatten sich zehn, fünfzehn weitere zufriedene Bootpendler versammelt, und dann tutete die gute alte Prinsen, als sie um die Landzunge bog. Das war das allerletzte Signal für Inga und Kyrre. Sie hatten schon einmal erlebt, daß die Fähre ihnen vor der Nase weggefahren war, um den Fahrplan einzuhalten, und wir anderen hatten uns geweigert, weiterhin zu versuchen, die Mannschaft zum Warten zu überreden. Øystein war der letzte, der über die Laufplanke ging – es war Niedrigwasser –, und erst jetzt rief Inga oben am Hang. Die beiden Matrosen schüttelten den Kopf, warteten aber, bis sie sicher an Bord war.

»Bitte, nur noch eine halbe Minute, er kommt ja gleich!« bettelte Inga. Aber sie zogen die Laufplanke ein und begannen, zurückzusetzen – und nun kam er. In verzweifelten Sprüngen, in dicker Lederjacke und Winterstiefeln, und seine vollgestopfte Proletariertasche schlug ihm kräftig gegen die Beine. Sie hielten das Tor auf, und er konnte sich vom Rand des Anlegers aus an Bord werfen – und natürlich gelang ihm eine elegante Landung an Deck mit einem munteren und volksnahen »Mahlzeit« für jeden einzelnen. Worauf eine leise Salve gegen Inga folgte.

»Was zum Teufel hast du mit meinen Turnschuhen gemacht?«

So war es jeden Morgen, mit kleinen, überraschenden Variationen.

An diesem Tag wurde die Überfahrt jedoch ereignisreicher als sonst. Ostklo-City bereitete sich nämlich auf britischen Marinebesuch vor, und ein ansehnliches Kontingent schmutziggrauer Schiffe aus Her Majesty’s Imperial Fleet hatte bereits Tangen passiert und glitt nun langsam durch den Fjord auf Honnørbrygga zu. Aber dorthin wollten wir auch mit unserem kleinen Prinzen, und der Kapitän gab Vollgas und jagte zwischen den Todesmaschinen hindurch, von denen eine größer war als die andere und häßlicher als die dritte.

Wir standen auf dem Achterdeck und betrachteten diese überlegene Machtdemonstration »eines unserer engsten und wichtigsten NATO-Verbündeten«, wie oben immer in der Öffentlichkeit gebrabbelt wird.

»Ich wette meinen Kopf, die haben Atomwaffen an Bord«, sagte Inga.

»Und vergeßt nicht, was die sich in Nordirland alles erlauben!« fügte Ragnhild hinzu.

Als wir am allergrößten und allerscheußlichsten Schiff vorbeifuhren, das vor Kanonen und Radarmasten und Raketenrampen nur so strotzte, und das Lord Nelson oder Lady Hamilton oder God knows how hieß, hatten sich die feschen Matrosen in einer Reihe an der langen Reling postiert, um sich so richtig zu zeigen, und dieser Anblick veranlaßte Ragnhild zu einem schäumenden Wutanfall. Sie schrie laut und schrill:

»Hooray for IRA! Hooray for IRA!« Und beim dritten und vierten Mal stimmten die meisten auf dem Achterdeck der Prinsen ein und brüllten der verdammten Höllenmaschine, die uns umgab, ihre ohnmächtigen Aggressionen entgegen:

»Hooray – IRA – Hooray – IRA – Hooray – IRA!«

Und so weiter.

Das war die schönste spontane Demonstration, an der teilzunehmen ich je das Glück gehabt habe, um mich gebildet auszudrücken. Es war einfach stark, dazustehen und Teil eines vielstimmigen Menschenchores zu sein, der sich ausnahmsweise einmal einig war und den verdammten Krieg dahin zurückschicken wollte, wo er hergekommen war. Wir waren so viele und brüllten so laut und waren Herrn Nelson so nah, daß das ordentlich aufgereihte Kanonenfutter uns sicher ganz deutlich hören konnte. Und das war das Beste von allem.

Das Zweitbeste war Ragnhild, die endlich einen Auslauf für ihre blutige Frustration und ihre glutige Wut fand. Die restliche Woche sah ich sie nie ohne ein unbewußtes Lächeln, und sie schien trotz allem sehr mit sich zufrieden zu sein.

Sie hatte für eine gute Sache geblutet.

Sternschnuppen

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