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Braut und Bräutigam

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»Hektik« war einfach eine Untertreibung. Die wenigen Tage bis zum Johannistag waren der reine Sturm. Ingas und Kyrres Sommernachts-Traumhochzeit erforderte viel zuviel Planung und praktische Arbeit – und Kyrre hatte absolut keine Zeit, sich daran zu beteiligen. Er hatte auf dem politischen Schlachtfeld sehr viel Wichtigeres zu erledigen. Aber es gab ja noch vier andere, die sich um die Komplikationen kümmern konnten, die nun massenhaft auftraten.

Wir hatten zum Beispiel mit dem alten Mors jr. verabredet, daß wir am dreiundzwanzigsten Juni »nach dem Lunch« in den Tempel einziehen würden, während die Eismeerzahnärzte erwarteten, daß wir am selben Morgen früh Wolkenwild verlassen haben würden. Aber was sollten wir in der Zwischenzeit mit unserem irdischen Hab und Gut anfangen? Die Lösung war, möglichst viel von unserem persönlichen Besitz zusammenzutragen und einzupacken und zu verstauen; alles, was wir im Tempel nicht brauchten. Es ist einfach unfaßbar, wieviel Schrott fünf Menschen im Laufe eines Jahres anhäufen können. Ich war übrigens der Schlimmste in dieser Hinsicht. Ich hatte nur einige Monate gebraucht, um die ganze Strandhalle mit mehreren Wagenladungen Tand und Pontifikalien zu füllen, und deshalb mußte ich alles in den Kartons zusammenquetschen und im Vorratshaus stapeln. Außerdem mußte ich noch mit Kyrres Papiermühle kämpfen. Die Aktenschränke, die ich ihm besorgt hatte, konnten nämlich nicht abgeschlossen werden, und er konnte doch die detaillierten Pläne für die Weltrevolution nicht offen herumliegen lassen. Nein, die mußten mit in den Tempel kommen – und ich kann euch sagen, es waren gewichtige Pläne. Meine Güte, was für eine Plackerei!

Wir packten und organisierten und machten alles für die große Umzugsaktion am Johannistag bereit. Aber an diesem Morgen mußten Kyrre und Inga doch nach Ostklo ins Rathaus – und Ragnhild war natürlich Ingas Trauzeugin –, und plötzlich fügten sich alle Teile wunderbar in das große Puzzlespiel. Denn auf diese Weise fanden Øystein und ich eine vom Himmel gesandte Möglichkeit, aller Welt zu beweisen, daß der Mythos von Schwulen als schwachen kleinen Jammerlappen bedeutend übertrieben ist.

»Na gut«, sagte ich. »Den Umzug übernehmen wir. Alles klar. Aber was ist mit der Hochzeit? Wer soll für hundertfünfzig Gäste den Tisch decken? Was sollen sie essen – und wovon und womit und worauf?«

»Darum kümmere ich mich«, antwortete Kyrre mit Großer-Bruder-Stimme. »Meinst du denn, die Bewegung wäre nicht imstande, Fünfzigtausend zu speisen, wenn es sein muß?«

Er hatte wirklich auch Humor, unser Traumprinz.

»Swisch!« sagte er – und damit war der Rote Tornado für den heimlichsten Auftrag des Sommers mobilisiert, der den Decknamen »Shirley Temple« trug. Der erste Trupp erschien Montagmorgen in LKWs und Lieferwagen und war getarnt als chinesische Akrobaten, die hundertfünfzig Mingvasen auf einmal jonglieren konnten. Stühle und Tische stapelten sich zu architektonisch vollendeten Pagoden auf, die bis zur Hälfte des Himmels reichten, und die geschmeidigen Kader liefen lachend und tanzend in den schönsten Formationen hin und her – während die jungen lächelnden Frauen revolutionäre Walzer summten und Blumendekorationen hervorzauberten, die noch beim König selber Ovationen erzielt hätten.

Ja, es war eine Freude.

Ich kam mir vor wie eine Maus im Porzellanladen, als ich Kartons und Kisten mit irdischem Plunder schleppte und stemmte, die ich einfach nicht zum Schweben bringen konnte und wenn ich noch so viele Mao-Zitate murmelte.

»Wenn wir nur genug sind, dann können wir Berge versetzen!« sagte ich so mahnend, wie das durch zusammengebissene Zähne möglich war. Aber Øystein und ich waren ja in jeder Hinsicht zu zweit, und wir schleppten unseren Berg weiter dahin, mitten in dem eleganten Gewimmel der fliegenden Chinesen mit Augen so blau.

Aber der alte Mao sollte dann doch recht behalten. Wir schafften es schließlich, und als wir endlich all unseren Krempel verstaut hatten, hatte der Tempel sich in einen riesengroßen Hochzeitskuchen verwandelt, für den Mussolini ein ganzes Königreich und drei sizilianische Prinzessinnen gegeben hätte. Es gab hängende Gärten und Springbrunnen und Sonnensegel und Lampions und wandelnde Buffetts. Und unten am Strand war ein strahlendweißes Team von Köchen mit dem Braten von drei sympathischen Schafen beschäftigt. Man konnte kaum atmen.

Und als der Brautzug auf der Prinsen über die klargrünen Wogen geglitten kam, standen wir alle am Anlieger, und die lustigen Musikanten bildeten in ihren farbenfrohen Jammertalstrachten die Vorhut, und während die Brautmärsche über den Fjord kreischten, zogen wir paarweise in stattlicher Prozession zum reichgeschmückten Tempel empor, wo allen ein delikater Willkommenstrunk gereicht wurde, der nichts Geringeres enthielt als – Saft! Kyrre und Inga hatten sich nämlich für ein alkoholfreies Hochzeitsfest entschieden.

Und es blieb kein Auge trocken.

Der Hauptgrund für diese historische und epochemachende Entscheidung hieß Frau Adele Lunde und war die leibliche Mutter der glücklichen Braut.

Anfangs wollte Inga ihre Eltern überhaupt nicht dabeihaben. Sie erklärte vehement, daß diese verdammten Blutsauger auf ihrer Hochzeit nicht das geringste verloren hätten. Sie wären so gemein zu ihr gewesen und hätten ihr das Leben immer so sauer gemacht, daß sie ihr jetzt nicht auch noch ihren großen Tag ruinieren sollten. Außerdem waren sie verdammte Kommunistenfresser, und ihr Vater würde sicher mit halbbesoffenen Anzüglichkeiten um sich werfen. Und ihre Mutter war eine heimliche Säuferin und medikamentensüchtig und hatte schon massenhaft Zusammenbrüche und Selbstmordversuche hinter sich, und sie war aggressiv, unzurechnungsfähig und machte immer Skandale.

»Nie im Leben lad ich die ein! Da lass’ ich nicht mit mir reden!« erklärte Inga Lunde ein für allemal. Nun räusperte sich ihr zukünftiger Ehemann, dem sie alsbald in Lust und Not Liebe und Gehorsam erweisen sollte, und faßte die Lage folgenderweise zusammen: »Mir ist’s egal, ob die kommen oder nicht – ich lad meine ja auch nicht ein, weil ich weiß, daß mein Vater nicht kommen würde, aber du hast hier eins vergessen, und zwar, daß sie es sicher für eine Beleidigung halten würden, wenn sie hier mit Leuten, die sie so sehr verachten, zusammen feiern müßten. Es wäre doch entsetzlich für sie, sich mit Leuten wie uns vermengen zu müssen – und ganz und gar zu deinen Bedingungen. Überleg dir das mal, Inga!«

»Ja, verdammt, du hast vielleicht recht! Es ist bestimmt ganz schön bitter für sie, wenn sie zusehen müssen, daß ich einen verdammten Kommunisten heirate. Nein, es geht doch nicht. Mams würde sich sicher mit ein paar schrecklichen Szenen im Suff rächen. Ich kenn sie doch!«

»Aber da weiß ich eine Lösung! Wir schenken uns den Alk – total. Ich hab mir das schon lange überlegt. So ein Entschluß würde völlig mit der Enthaltsamkeitspolitik der Partei übereinstimmen. Dann können wir ein wirklich schönes Fest ohne Suff veranstalten – ohne Suff, aber mit viel guter Kultur. Was haltet ihr davon?« fragte Kyrre Eliassen enthusiastisch.

»Nein, ehrlich gesagt, jetzt mußt du ...« brachte ich heraus.

»Ja!« rief Inga Lunde – und natürlich bestimmte sie und keine andere über ihre eigene Hochzeit.

So kam es, daß wir uns im festlichen Kreis versammelt hatten, während nichts Stärkeres als Kefir im Haus war. Das machte mir nichts aus, auch wenn ich es ein bißchen verschroben fand, aber ich sorgte mich, daß es vielleicht ein bißchen zu verkrampft festlich zugehen könnte. Und was war mit dem Ehepaar Lunde? Wenn sie so gern ein oder fünf Gläschen wegknasperten, dann war das eine ziemlich schlaue Beleidigung. Aber ich kannte sie ja nicht – und auf ihre Reaktion war ich geradezu gespannt.

Bald stellte sich heraus, daß niemand Niels Adolf Lunde kannte, und da Inga ihn zu kennen glaubte, hatte sie ihn gröblich unterschätzt. Er und seine Gnädige kamen im größten Cabincruiser an, den ich je aus der Nähe gesehen hatte und den eine tadellos gekleidete Mannschaft, bestehend aus zwei jungen Herren, die ich nicht genauer anzusehen wagte, aus Angst, restlos abgelenkt zu werden, unten am Anleger vertäute. Das Boot hatte keinen geringeren Namen als »Seagull« und hatte zweifellos genausoviel Schnaps geladen wie Kronprinz Harald. Ich rede selbstverständlich nicht von SKH, Seiner Königlichen Hoheit, sondern von SMS, der Fähre Kiel-Oslo nämlich.

Mams und Paps Lunde waren im Rathaus erschienen und hatten auf der Ehre bestanden, ihre einzige Tochter und deren charmanten ersten Ehemann in ihrem bescheidenen privaten Fahrzeug zu Wasser nach Nesodden zu bringen – wenn die jungen Leute damit einverstanden waren? Aber das waren sie nicht. Ich war sauer, weil ich nicht miterleben durfte, wie Kyrre seinem Schwiegerpaps klarmachte, daß sie zusammen mit »allen anderen, die sich nicht in soviel dekadentem Luxus suhlen können«, Bundefjordens Dampfschiffahrtsgesellschaft vorzögen. So konnte Kyrre bereits ganz zu Anfang jeglichen Versuch von Klassenzusammenarbeit abbügeln, was Paps aber nicht daran hinderte, noch weitere Versuche zu unternehmen.

Als das Ehepaar Lunde am Anleger des Tempels an Land ging – er im weißen Seglerdress und sie in einem rosa Seidentraum –, brachten sie eine vereiste Magnumflasche Champagner mit, mit einem so blendenden Etikett, daß es im Sonnengeflimmer einfach nicht zu entziffern war. Und damit war es Inga – nicht Adele – Lunde, die die erste Szene des Abends improvisierte. Sie stürzte sich auf ihren Ursprung, daß Silber und Gold an ihrer echten Oslo-City-Tracht nur so klirrten, und informierte sie mit einem Flüstern, das noch auf dem dritten Tempelabsatz zu hören war, über die alkoholpolitischen Maßnahmen des Abends: »Schafft diesen Dreck sofort wieder an Bord! Hier ist der ganze Abend alkoholfrei – das hat in der Einladung gestanden –, und wenn ich merken sollte, daß ihr versucht, heimlich auch nur einen Tropfen zu trinken, dann jage ich euch sofort wieder auf See. Ist das klar?«

Paps nahm das so jovial hin, als ob ihm gerade ein Millionengeschäft durch die Lappen gegangen wäre.

»Aber liebes Kind, Inga, es war doch nur nett gemeint. Wir würden doch so gern auf dich und deinen Mann anstoßen, das kannst du dir ja denken, aber natürlich soll alles so sein, wie du willst. Ich stoße auch gern mit Obstsaft an!«

Ich stand auf dem ersten Absatz und beobachtete Mams während dieses Auftritts, und mir fiel auf, daß sie dabei nicht eine Miene verzog. Sie schien unverrückbar guter Laune zu sein. Sie sah auch sonst richtig gut aus, professionell konserviert, mit einer hellblonden Sonjafrisur, die ihr sehr gut stand. Sie sah keinen Tag älter aus als die Kronprinzessin, die damals vielleicht neunundzwanzig war. Und da war es doch umsichtig von Mams gewesen, daß sie ihre gemeinsame Frisur gebleicht hatte, damit niemand behaupten konnte, sie ähnelten einander wie ein Ei dem anderen.

Der Champagner wurde von einem der Matrosenanzüge wieder an Bord gebracht, und Inga schob ihre Eltern die vielen Treppen und Absätze bis zu der großen Terrasse hinauf, wo wir alle mit funkelndem Apfelsaft in garantiert keimfreien Plastikgläsern anstießen. Ich muß zugeben, daß ich ziemlich beeindruckt war, als ich Niels Adolf Lunde die Hand schüttelte. Er hatte eine frische, korkbraune Hautfarbe, die von viel Sonne und Segeln und Golf und so erzählte, und einen strammen, fast unmerklich zitternden Händedruck, der von einer nahezu übermenschlichen Selbstkontrolle zeugte. Inga überließ ihre Eltern sofort Ragnhild und mir. Wir fungierten als eine Art Reservegastgeber, während Øystein sich der kulturellen Belange annahm.

»Ihr habt hier ja wirklich einen phantastischen Ort gefunden«, plauderte Paps und nippte an seinem Saft. »Ist das über Bekannte gelaufen?«

»Nein, Inga hat das alles durch ihre großen Überredungskünste geschafft«, sagte ich, so höflich ich konnte. Mams warf einen langen Blick über den ganzen Putz und kommentierte mit milder Stimme: »Inga war immer schon wie ihr Vater in bezug auf Temperament und ... Geschmack.«

»Ja, die hält wirklich die Ohren steif!« erwiderte Paps. Er war sichtlich zufrieden mit dieser Bemerkung, aber Mams war auch nicht schlecht drauf:

»Du weißt genau, daß sie meine Ohren geerbt hat«, sagte sie tatsächlich, ehe sie sich an uns wandte: »Ansonsten sieht sie meiner Mutter als jungem Mädchen sehr ähnlich. Nach ihr ist sie auch getauft.«

»Das hat dein seliger Vater so entschieden, Liebe. Die Mutter meiner Frau ist verwitwete Pröpstin!« erklärte Paps mit klarer Aussprache, und danach sagte Mams lange gar nichts mehr.

»Wie ist denn so das Wohnen in ... einer Wohngemeinschaft?« fragte er Ragnhild. Sie trug ein schlichtes meergrünes Kleid, das all ihre Qualitäten betonte – nicht zuletzt auch ihre offene Freundlichkeit, die sie mit ihrem intelligenten Witz kombinierte.

»Es ist ungefähr so, wie ununterbrochen sturmfreie Bude zu haben. Es ist lustig, weil niemand über uns bestimmt, und anstrengend, weil keine Mutter für Ordnung im Haus sorgt.«

Das kam an.

Beide lachten und schienen sich ein kleines bißchen zu entkrampfen. Paps sah sie aufgemuntert an: »Aber, sag mal, ich hab immer gedacht, bei sturmfreier Bude würden unweigerlich Vaters Barschrank und Weinkeller geleert. Hat meine Tochter sich von den Guttemplern einfangen lassen, oder hab ich etwas Wesentliches mißverstanden?«

»Nein, wir sind keine Antialkoholiker, aber ... normalerweise trinken wir ja nichts, aber ... also, unsere Bewegung vertritt die sogenannte Maßhaltelinie.«

Ragnhild sandte mir eine lächelnde Bitte um Hilfe, während ich ebenfalls lächelte – nicht ohne eine gewisse Schadenfreude – und die Gelegenheit wahrnahm, die halbe Wahrheit zu erzählen.

»Heute ist ein ganz besonderer Abend, weil das Brautpaar gemeinsam beschlossen hat, eine alkoholfreie und kulturelle Hochzeit zu feiern. Wir waren anderer Ansicht, aber heute haben ja schließlich nicht wir zu bestimmen.«

»Es ist ja beruhigend zu hören, daß Adele und ich heute abend nicht die einzigen Dissidenten sind. Und deshalb lade ich euch gleich zu einem Drink auf die Seagull ein, wenn hier die schlimmsten Formalitäten überstanden sind. Denn an Bord bestimme ich, wer was trinken darf. Nicht wahr, meine Schöne?«

Mams’ Lächeln war um ein, zwei Millimeter abgesackt, wurde jedoch sichtbar strammer, als sie sagte: »Du mußt doch einsehen, daß Inga sich das nur ausgedacht hat, um mich zu demütigen – und dich, Nisse!«

»Aber, aber ...«

»Ich möchte am liebsten sofort wieder an Bord gehen. Es ist doch offensichtlich, daß diese Menschen uns überhaupt nicht hierhaben wollen. Ach, verzeiht mir, das war unverschämt von mir. Ich meine ja auch nicht euch beide, wirklich nicht. Ich weiß eure Offenheit und Höflichkeit zu schätzen. Ihr seid herzlich willkommen an Bord. Das meine ich wirklich ehrlich.«

»Wir können nicht einfach gehen, meine Liebe. Wir müssen uns wenigstens verabschieden.«

»Sofort, Nisse, sonst schreie ich!«

Sie lächelte immer noch genauso steif, aber ein gejagter Ausdruck trat in seine Augen, die er auf mich richtete, während er schnell sagte: »Dann schlage ich vor, daß dir unser junger Freund Yngve hier seinen Arm bietet und dich aufs Boot zurückgeleitet, meine Liebe.«

»Das ist ein hervorragender Vorschlag, Nisse. Gehen wir!« sagte sie und setzte uns beide elegant in moderate Bewegung auf eine Seitentreppe zu. Nisse wollte offenbar noch eine Weile herumnisseln, denn er nahm ebenso elegant Ragnhilds Arm, um sich herumführen zu lassen.

Frau Adele Lund und der junge Yngve Vilde müssen ein selten schönes Paar gewesen sein, als wir an jenem Nachmittag über die Balustraden des Tempels schritten. Sie sah aus wie ein leichter, flatternder, rosa Schmetterling, während ich ganz in Weiß war, abgesehen von meinem burgunderroten samtenen Rauchjackett aus dem Trödelladen, das Ragnhild für mich geändert hatte. Mir kam das alles etwas unwirklich vor, und auch wenn ich keine besondere Angst davor hatte, daß meine Begleiterin schreien oder explodieren könnte, war ich sehr gespannt, was auf dem Boot passieren würde.

Als Mams die Reling packte, um an Bord zu gehen, sah ich, daß ihr wie aus einem Schwamm der kalte Schweiß über die Stirn lief, und der Matrosenanzug, der hilfsbereit da stand, erhielt folgenden zitternden Befehl: »Mix vier Dry Martinis. Tout de suite! Ich komm’ allein zurecht.«

Damit schwang sie sich an Bord, irgendwo in ihrer unmittelbaren Nähe machte es »ritsch«, und sie verschwand im Inneren der Seagull wie ein Geist durchs Schlüsselloch. Ich stand auf dem Anleger und war einen Moment ziemlich verärgert, um es so zu sagen, aber dann dachte ich: Jaja, vielleicht ist’s besser, sie los zu sein! Nun erschien der zweite Matrosenanzug auf dem Vorderdeck und bat mich mit steinerner Miene, ihm zu folgen – und jetzt begriff ich überhaupt nichts mehr. Denn den, der in diesem Anzug steckte, hatte ich schon einmal gesehen. In einem Schwulenclub. Er konnte sich offenbar auch an mich erinnern, denn er versuchte, mir vielsagend zuzuzwinkern, und sagte dann ganz diskret: »Du brauchst nicht zu zeigen, daß du uns kennst. Dag und ich arbeiten in dieser Branche, und wir sind für diesen Abend hier gemietet. Hübschen Anzug hast du da an.«

»Danke gleichfalls, Schwester!« brachte ich heraus und konnte sogar fast einen Kicheranfall unterdrücken. »Noch strammer als in der Marine?«

Er führte mich den weiten Weg zum Achterdeck, wo Adele sich gerade einen Dry Martini zu Gemüte geführt hatte – und es war offenbar nicht ihr erster gewesen. Ihr kühles und lächelndes Äußeres war wiederhergestellt, und sie atmete erleichtert auf.

»Meine Güte, wie schön ist das, all diesen Leuten entronnen zu sein. Komm her und setz dich und trink auch etwas, Ingvar. Das hast du ehrlich verdient. Dag, Sie können uns noch eine Runde mixen.«

»Guten Abend, der Herr«, sagte Dag mit servilem Lächeln, während er Beefeater in einen Silbershaker goß. Ich hatte nie mit ihm geschlafen, aber wir waren einmal nahe daran gewesen. Diese Situation kam mir eher absurd als beunruhigend vor, und ich hatte wirklich Lust auf einen Drink.

»Er ist sehr trocken«, erklärte Adele. »So schmecken sie mir«, und sie nippte an ihrem fünften in fünf Minuten. Ich tat es ihr nach, und ich verschluckte mich auch nicht dabei. Ich hatte schon öfter Golden Cock pur aus der Flasche getrunken. Dag stand neben mir und füllte abermals mein Glas mit größter Selbstverständlichkeit – und nun ging mir auf, daß unsere Nummer damals geplatzt war, weil ich so blau gewesen war, daß er sich verdrückt hatte.

»Du hast wirklich ein leckeres Rezept – und einen ... tüchtigen Barmann. Shake it, baby!« sagte ich, und nun konnte Adele endlich natürlich und entspannt lachen.

»Ich hätte nicht erwartet, in dieser Gesellschaft einen – Kenner zu finden«, sagte sie und wurde ein bißchen rot. Sie meinte sicher einen »Gesinnungsgenossen«, aber es ist nicht immer leicht, im rechten Moment das richtige Wort zu finden, das weiß ich. »Kannst du mir nicht ein bißchen über dich erzählen? Das hier wirkt alles etwas erschreckend auf mich, die Politik und alles, was Inga so wichtig ist. Ich nehme an, du teilst ihre Ansichten, wo du doch mit in dieser ... Wohngemeinschaft lebst?«

»Ja, wir schwören alle auf die progressive Bewegung, aber ich glaube nicht, daß das ein Grund zur Besorgnis ist. Alle Generationen sind in ihrer Jugend wohl idealistisch und wollen die Welt verändern. War das bei Ihnen nicht auch so, gnädige Frau?«

»Aber mein Lieber, du mußt mich Adele nennen. Ich nenne dich ja auch Ingvar.«

»Jaja«, sagte ich und dachte, daß sie das ruhig weiter tun dürfte, die Arme. »Prost, Adele!«

»Prost, Ingvar! Du ahnst ja nicht, wie schön ich es finde, junge Menschen kennenzulernen, die ... mit denen man vernünftig reden kann. Ich verstehe ja, daß wir Alten auf euch ziemlich verknöchert wirken können, aber wir haben doch auch unsere Werte, die wir uns erarbeitet haben und die wir so gut wie möglich bewahren wollen.«

»Das verstehe ich nur zu gut. Ich hätte auch gerne so einen Cabincruiser zum Rumsausen. Wie heißt er doch noch, Seegold?«

»Naja. Das ist doch das kleine Spielzeug meines Mannes«, sagte Adele. Ich weiß nicht, ob sie aus Höflichkeit meinen Witz überhört hatte oder ob sie überhaupt nicht mehr zuhörte. »Es wäre phantastisch nett, wenn du mich einmal in der Villa besuchtest. Da fühle ich mich am wohlsten. Du nimmst doch sicher noch einen?«

Ich hatte Lust, ihr zu erzählen, daß ich immer schon schrecklich gern gesehen hätte, wie die Leute ganz oben in der Hitparade so leben, aber das mit den Drinks brachte mich in eine ziemlich elende Bedrängnis. Ich hatte zwar bei den Feierlichkeiten an Land keine direkten Aufgaben zu erledigen, aber ich fühlte mich moralisch verpflichtet, mich daran zu beteiligen. Ich war trotz allem ein Fünftel der Gemeinschaft. Andererseits hatte ich auch die hohe Verpflichtung auferlegt bekommen, mich um die Mutter der Braut zu kümmern – und das schien mir ja hervorragend zu gelingen. Drittens merkte ich plötzlich, daß die beiden Drinks mir bereits ein prickelndes Lustgefühl in den Beinen verschafft hatten, und das bedeutete, daß Inga und Kyrre meinen Schwips sicher bemerken würden. Das wäre nicht so gut, auch wenn ich es nicht darauf angelegt hatte. Also nickte ich eifrig und unbescheiden, als die schöne Adele mir einen dritten von den Trockenen anbot – mein Kopf sollte mit meinen Beinen um die Wette prickeln. Meine schweigende und ungebrauchte Nummer im Matrosenanzug mußte brav einschenken, und in diesem Moment legten die Musikanten oben auf der Tempeltreppe eine flotte Polka hin. Inzwischen waren sie ans Stromnetz angeschlossen. Wirklich fetzig, die Jungs. Adele hüpfte auf ihrem Kalbsledersessel hoch.

»Meine Güte«, brachte sie heraus. »Das ist ja schlimmer als Ragnarok!« Sie meinte wahrscheinlich das jährliche Rockkonzert auf Holmenkollen – oder redete sie wirklich von der Götterdämmerung, was weiß ich?

Jedenfalls war auf dem Festland der Bär los, und ich mußte mich breitbeinig hinstellen, um die ganze Folklore mitzubekommen. Die drei Martinis führten dazu, daß ich alles erlebte wie einen amerikanischen Musicalfilm in den knallenden Farben der fünfziger Jahre, was die Qualität dieses sinnlichen Genusses aber nicht minderte. Es sah einfach stark aus! Oben auf der Terrasse und auf den Plateaus und den Balustraden wimmelte es nur so von tanzenden, wirbelnden Paaren, und Silberschmuck und Spangen funkelten so sehr, daß ich mich auf ein Volkstanzfest in Delphi halluzinierte – obwohl unser Tempel an diesem Abend das Orakel völlig in den Schatten stellte. Niemals haben sich so viele mit so wenig Promille so amüsiert.

»Aber das ist doch geradezu vulgär!« schrie mir plötzlich Adele ins Ohr. Sie hielt sich krampfhaft an der Reling aus - mindestens - achtzehnkarätigem Gold fest.

»Das ist das ärgste Sammelsurium von Stilarten und Kulturen und Traditionen, das ich jemals erlebt habe! Das ist ja direkt lächerlich!«

Vielleicht hatte sie wie ihre unechte Zwillingsschwester Kunstgeschichte studiert, aber ich fand es taktlos, sie danach zu fragen, und so versuchte ich, ihr klarzumachen, daß sie doch einfach den Film genießen sollte, wo sie nun schon einmal im Kino war. Unglaublicherweise verstand sie genau, was ich meinte, und sofort begann sie unseren gemeinsamen kulturellen Beitrag zum Fest mit einem albernen Backfischlachen, von dem ich sofort angesteckt wurde. Und wir kakelten, was das Zeug hielt.

Auf diese Weise fand ich eine Busenfreundin vom Holmenkollåsen, die ich zwei geschlagene Stunden und bedeutend mehr und steifere Gin-Tonics lang behalten durfte. Ich glaube nicht, daß Adele enge Freundinnen hatte, denn die Arme hatte einiges auf dem Herzen. Sie vertraute mir so viele Seltsamkeiten an, daß ich bestimmt von Holmenkollens Freunden und den Freimaurertöchtern wegen Verleumdung und übler Nachrede vor Gericht gezerrt würde, wenn ich etwas davon verriete. Und dazu habe ich wirklich keine Zeit. Ich hoffe nur, das wird mir verziehen.

Wir vergaßen Zeit und Ort und andere weltliche Dinge wie zum Beispiel Essen. Ich habe nie erfahren, wie die sympathischen Schafe geschmeckt haben. Aber dann wurde ich von anderen lebhaften Klängen in die Wirklichkeit zurückgezwungen. Sie spielten »Zorba«, und ich wollte sehen, was da oben auf dem Hochzeitskuchen ablief. Und richtig: Die Herren Parteispitzen hatten sich, mit Kyrre in der Mitte, in einer demokratisch zentralisierten Reihe aufgestellt und gaben vor, griechischen Volkstanz mit derselben Eleganz zu beherrschen, mit der ihre Untergebenen Mingvasen durch die Luft schweben ließen.

»Komm her, Adele! Das mußt du sehen, wo du Stilrichtungen doch so gern hast! Jetzt tanzen sie griechisch im griechischen Tempel. Sie versuchen, sich zusammenzureißen und Ordnung ins Sammelsurium zu bringen.«

Mams kam an meine Seite geschwankt und mußte sich jetzt mit beiden Händen festhalten. Wir waren beide ziemlich blau, aber mit mir ging’s immer noch aufwärts.

»Sieh sie dir an, Adele. Siehst du? Die Buben tanzen, und die Madeln weinen.«

Ach, das saß! Wir krümmten uns vor Lachen – boshaft und gemein – und konnten endlich auch unsere bezaubernde Mannschaft mitreißen, die das alles sicher viel besser begriff als die arme Adele.

Leider wurde das Ganze einfach zuviel für sie. Auf einmal hatte sie jemanden, dem sie sich anvertrauen, mit dem sie sich betrinken und sogar köstlich amüsieren konnte – während ihre Tochter an Land in die kommunistische Partei einheiratete. Plötzlich sah alles schwarz für sie aus, und sie stürzte ab ins Down des Jahres.

»Hilf mir! Ooooo, hilf mir! – Ich halt es nicht mehr aus!« jammerte Adele Lunde, und ich begriff plötzlich, daß die Lage äußerst ernst war. Sie stand am Rande eines grausamen Zusammenbruchs, und den wünsche ich niemandem. Ich hielt ihre Hand und versuchte, auf eine rettende Idee zu kommen, aber leicht war das nicht. Dag brachte ein großes Glas Cognac, das wir ihr einflößen konnten, aber sie jammerte immer weiter. Sie heulte noch lange, ehe sie sich langsam beruhigte. Ich war blau und müde und hatte alles satt und versuchte, mich zum Aufbruch zu entschließen, aber sie wollte mich nicht loslassen. Sie umklammerte meine Hand, und dann sagte sie plötzlich klar und deutlich: »Du mußt mir eine Frage beantworten, Ingvar, und zwar ganz ehrlich. Glaubst du an das mit der ewigen Verdammnis?«

Ich wurde ziemlich schnell ziemlich nüchtern, denn das war die schlimmste Frage, die mir jemals gestellt worden war. Ich sah plötzlich Adele Lunde ganz deutlich. Das erstarrte Lächeln für den Festgebrauch verdeckte nicht nur Langeweile und Verwöhntheit – sie hatte Angst. Was hatte Paps noch gesagt? Ihre Mutter ist eine verwitwete Pröpstin. Ergo mußte Adele eine Pastorentochter sein, und Gott und ich auch konnten uns vorstellen, was ihr mit dem Rohrstock eingebleut worden war. Sie hatte Angst vor dem Tod. Sie hatte Angst vor der Hölle. Ach, die arme Adele.

»Nein!« sagte ich so fest und überzeugend, wie ich nur konnte. »Ich glaube nicht an die ewige Verdammnis. Ich glaube überhaupt nicht an die Hölle. Und du solltest das auch nicht tun, damit schaffst du dir doch bloß deine eigene Hölle hier auf Erden, und das macht dich nur kaputt.«

Sie sah mich mit unsicherem, flackerndem Blick an und preßte meine Hand.

»Ich würde dir so gerne glauben. Eigentlich will ich das ja auch, verstehst du. Ich will nicht immer an ... an den Teufel und all das denken müssen, aber ich schaffe es nicht. Ich kann mich von meinem Kindheitsglauben nicht befreien.«

»Ich dachte, der Kindheitsglaube sollte licht und froh sein? Daß Jesus auf uns aufpaßt und uns vergibt und so?«

»Aber ich habe so schrecklich gesündigt, verstehst du? Ich habe gegen den Heiligen Geist gesündigt, und dafür gibt es keine Vergebung. Ich bin verurteilt. Ich habe mich selbst zur Ewigen Verdammnis verurteilt.«

In diesem Moment brach eine energische Männerstimme in mein Bewußtsein ein, während eine noch energischere Hand mich von Adele wegzog und in einen Sessel drückte.

»Jetzt ist’s genug mit dieser ewigen Frage für heute, meine Liebe. Ich hab dir doch gesagt, daß du dir darüber nicht den Kopf zerbrechen sollst. Du erfährst die Antwort schon noch früh genug!«

Niels Adolf Lunde hatte offenbar große Routine darin, seine Frau zurechtzuweisen, denn sie riß sich augenblicklich mit nicht unbedeutender Kraftanstrengung zusammen.

»Tut mir leid, Nisse. Es war nicht so gemeint. Ich ... jetzt geht’s mir wieder gut. Jetzt ist alles in Ordnung.«

»Ausgezeichnet, meine Liebe. Meine Güte, jetzt wird mir ein Drink schmecken! Einen doppelten Glenfiddich bitte. Pur. Ja, großer Gott. Was man in diesem Leben aber auch alles erlebt. Und ihr seid gute Freunde geworden, sehe ich. Du hast wohl auch lieber einen Drink als all diese Kultur, oder, Yngve? Ja, da sind wir uns wohl alle drei einig. Was trinkst du denn?«

»Er heißt Ingvar, Nisse.«

»Was sagst du da? Ingvar? Kann ich mich denn so verhört haben?« Er blickte mich fragend an.

»Ingvar« bestätigte ich mit dem Mund voll von lahmer Zunge, und in diesem Moment stellte Dag noch einen Drink vor mich hin. Ich wollte protestieren, aber das gelang mir nicht.

»Prost, Ingvar, und willkommen an Bord. Ich bin sehr froh, daß wenigstens einer von euch unsere Gastfreundschaft nicht verschmäht. Deine Freundin Ragnhild hat sie eben abgelehnt.«

Ich nahm einen soliden Schluck aus meinem Glas, um etwas nüchterner zu werden, und dieses Mal blieb er mir fast im Halse stecken. Dag hatte Gin und Tonic im Verhältnis vier zu eins gemixt, bestimmt aus purer Bosheit.

»Ach, wie das schmeckt! Ich nehm gleich noch einen«, sagte Nisse, und dann fügte er reichlich grimmig hinzu: »Jaja, meine Liebe. Jetzt steht es ein für allemal fest. Ich habe eine Schlange an meinem Busen genährt.«

Diese Aussage kam mir so aufsehenerregend vor, daß ich mich in meinem Sessel aufrichtete und ihm ins Gesicht sah.

»Oder stimmt das vielleicht nicht?« fragte er mich aggressiv. Es war klar, daß er mehr volkstümliche Kultur auf einmal abbekommen hatte, als ihm guttat – und sicher mehr, als er in seinem ganzen Leben bisher erlebt hatte. Ich hatte gerade einen lichten Moment in meinem Rausch und war Manns genug, um zu verkünden:

»Aber klar doch. Wir sind die reine Schlangengrube!«

Da platzte Niels Adolf. Er sprang von seinem Sessel auf und wollte mich wohl am liebsten mit einem einzigen Hieb über Bord werfen. Ich danke der Vorsehung für die feinen Umgangsformen des Bürgertums.

»In diesem Fall, junger Mann, schlage ich vor, daß Sie machen, daß Sie an Land kommen, so rasch Ihre Beine Sie tragen können – falls Sie überhaupt noch gehen können, nachdem Sie sich hier meinen guten Alkohol zu Gemüte geführt haben. Ich will weder Schlangen noch anderes Ungeziefer hier an Bord haben. Dag und Pål! Helfen Sie diesem Herrn bitte an Land. Augenblicklich!«

Hiermit danke ich der Vorsehung auch für diesen letzten Befehl, denn ich hätte ohne die freundliche Unterstützung meiner mitverschworenen Matrosenanzüge niemals mit heiler Haut die Seegold verlassen können. Sie waren richtig lieb zu mir und stellten mich ordentlich auf den Anleger, wo ich mich dann sofort hinsetzte.

Und auf diese Weise konnte ich dann auch noch Paps’ avancierte Navigationskunst beobachten, als er zurücksetzte, wendete und mit einem Motorengebrüll wie von hundert verendeten Volkswagen davonbrauste. Und so verschwand leider auch Adele Lunde aus meinem Leben.

Wie auch Dag und Pål. Die beiden Seegoldstücke wurden aus meiner Saga entführt – in intakten Matrosenanzügen.

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