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Mathilda

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Mein lieber Josef, 29.Januar 1941

Wie sehr habe ich mich gefreut, gestern Deinen Brief in den Händen zu halten. Es hat mich sehr berührt zu merken, dass Du auch an „unseren Tag“ gedacht hast, trotz dieses Fernseins voneinander, trotz dieser unglücklichen Zeit, die doch ohne Dich so anders ist, so gar nicht mehr vollständig. Ich vermisse Dich schmerzlich, jeden Tag mehr. Und auch die Kinder – sie fragen sehr oft nach Dir, vor allem Lia. Nikolas ist so sehr gefasst. Ist so vernünftig. Ich glaube, er will mir zeigen, dass er schon sehr erwachsen sein kann. Ist sich seiner Rolle als einziger Mann in der Familie sehr bewusst. Es ist manchmal sehr berührend, wie er sich um Emilia sorgt, wenn sie wieder aus einem Albtraum aufgeschreckt. Seit der schrecklichen Bombennacht, wo sie ihre Freundin Elsa verloren hat, weint sie viel im Schlaf. Ich glaube, sie weiß es gar nicht. Tagsüber ist sie unbeschwert und fröhlich, lässt sich gerne von Nikolas ablenken. Es ist immer wieder erstaunlich, wie die Kinder es schaffen, noch aus Trümmern etwas zu schaffen. Sie spielen oft bei den Schuttbergen, suchen nach Granatsplittern und wetteifern danach, wer den größten findet. Manchmal beneide ich sie um diese Unbekümmertheit. Sie sind noch so voll von Zukunft, voll von Glauben an das Gute. Das gibt mir selber immer wieder Zuversicht, dass sich alles zum Guten wenden wird. Dass diese schwere Zeit bald vorbei ist und wir wieder zusammen als Familie sein können. Uns geht es ja auch jetzt noch recht gut. Was haben andere schon erleiden müssen. Unser Haus steht noch, wir haben zu essen. Etwas findet sich immer. Wie dankbar sind wir für Deine Pakete und Deine Briefe. Ach wie groß ist immer wieder die Erleichterung von Dir zu hören. Ich weiß ja, wie schwer Du arbeitest. Ich möchte nur wissen, dass Du gesund bist. Das ist mir so viel wert. Jeden Tag wandern meine Gedanken zu Dir. Wie gerne würde ich dann mit Dir reden, Dich bei mir spüren. Ach, oft spüre ich Dich auch ganz nah bei mir. Das tut mir so wohl. Ich bin so oft müde. Es vergeht kaum eine Nacht, die wir nicht im Keller verbringen. Letzte Nacht war es wieder recht schlimm. Kaum waren die Kinder im Bett, gab es Alarm und ich hatte Mühe, die beiden aus den Federn zu bekommen. Es ist jetzt schon recht kalt und unten im Keller gibt es keine Heizmöglichkeit. Die Decken reichen nicht aus um es richtig warm zu haben. Glücklicherweise schlafen die beiden trotzdem meisten gleich ein. Wir Erwachsenen haben diese Ruhe kaum. Wir sitzen da und warten. Zittern vor Kälte, vor Angst und Ungewissheit. Wir sprechen wenig. Die alte Frau Meier betet oft, ich höre es kaum. Ich habe mein Büchlein dabei, schreibe wenn es geht. Jeder hat so seine Art die Zeit zu bewältigen.

Ach Du….

Hast Du eigentlich genügend warme Sachen? Es ist bei Euch wahrscheinlich noch kälter als hier. Wenn Du was brauchst und sei es ein neuer Schlafanzug, lass es mich wissen, dann gehe ich zu Frau Gehrkens und lass Dir was machen. Ich weiß ja, dass Du Dich nicht um so etwas kümmerst. Ich kenne Dich.

Hab Acht auf Dich! Wir brauchen Dich!

In Liebe Deine Mathilda

*


Sie hatte den Brief aus sich herausfliessen lassen, ohne zu denken, hatte die Gefühle freigelassen, die in ihr steckten. Es war der Morgen nach einer durchwachten Bombennacht, die sie aus sich herausgetragen hatte in ein Bewusstsein der anderen Art, wo sie über die Wirklichkeit hinübergeschwebt war, die sie so nicht mehr als wirklich erkennen wollte. Schlaf hatte sie keinen gefunden und so schien ihr alles am nächsten Tag wie ein schemenhaftes Traumgeschehen. Sie schickte die Kinder in die Schule, machte sich in einem schlafwandlerischen Zustand an ihr Tagwerk. Den Brief trug sie in der Kittelschürze mit sich herum, fühlte ihn immer wieder, wie er dort lag neben dem Josefs. Nah beieinander. Sie wusste nicht, ob sie den ihren wirklich abschicken würde. Eine unbestimmte Unsicherheit schwirrte um sie herum, nicht fassbar, nebelhaft.

Mittags klopfte Frau Jobst an die Tür. „Tachjen, Frau Siemoneitken. Ick wollte man nur hörjen wie es jet nach die Nacht jestern.“

Mathilda ließ die Nachbarin ein, ließ sie am Küchentisch sitzen, ließ sie reden, hörte zu, ohne wirklich selber reden zu wollen, zu können. Doch irgendwie tat es gu,t die redselige Frau bei sich zu haben, irgendwie tröstete es sie. Und dieser tat es augenscheinlich auch gut, einfach alles loszusprechen, was in ihr steckte. „Ick habe ein paar Wollsachen für meinen Karl zusammenjepackt, damit er det warm hat, da wo er jetzt is. Is janz schön schwer jeworden det Paket.“ Frau Jobsts Gesicht glänzte rot als sie den Namen ihres Sohnes aussprach. „Wir können ja nur so wenich tun, aber det können wir ja denn.“

Mathilda nickte obwohl sie nur mit halbem Ohr zuhörte. Doch das Wort „Paket“ hatte sie aufmerken lassen. „Soll ich Ihnen helfen, das Paket aufzugeben? Ich habe gerade selber einen Brief für die Post.“ Ihre Hand fuhr unwillkürlich in ihre Kitteltasche, befühlte den Umschlag.

„Det wär ja man sehr freundlich“, Frau Jobst strahlte. Mathilda nahm das Strahlen in sich auf, nickte. „Ich zieh mir nur was über, dann gehen wir gleich.“

„Is jut, is jut.“ Das Nicken der Frau Jobst sah ihr hinterher als sie aus der Küche ging.

*


Bin ich zu emotional? Vielleicht sollte ich Josef nicht zu viel von dem schreiben, was mich umtreibt. Vielleicht macht er sich dann zu viele Sorgen. Aber ich weiß, dass er ohnehin spürt, wenn ich etwas nicht schreibe. Und ich möchte ihm auch alles wissen lassen, was wir empfinden, was hier geschieht. Er hat das Recht darauf. Er gehört zu uns. Und es hilft mir, alles etwas leichter zu nehmen, wenn ich das Gefühl habe, er weiß darum, nimmt Anteil. Ich möchte ja auch wissen, was mit ihm ist, wie es ihm geht, auch wenn es nicht gut ist. Wir haben es uns doch auch versprochen damals vor dem Altar. In guten wie in schlechten Zeiten. So soll es sein. Natürlich als wir die Worten sprachen, haben wir nur an gute Zeiten gedacht. Wer hätte damals geahnt, was kommen würde. Es hatte sich alles so wunderbar gezeigt. Das Leben. Wie glücklich waren wir. Wie unbeschwert. Wie jung. Noch so jung. Und wie lange ist das her? Eine Ewigkeit. Eine kleine Ewigkeit von nur wenig mehr als einem Jahrzehnt. Ich werde mich immer an den Tag erinnern. So kalt wie heute war es auch da. Der 29. Januar 1929. Warum haben wir in dieser Kälte geheiratet. Ich weiß es nicht mehr. Ach – wir wollten einfach nicht mehr warten. Konnten nicht. Obwohl wir es nicht wussten, dass da schon jemand in mir wuchs , noch nicht– auch ich nicht. Irgendwie geahnt wohl. Alles war so wunderbar. Ging so schnell, ging so schön.

Und ja, wir hatten wohl recht damit, es so eilig zu haben. So schnell wie möglich das Glück zu leben, das sich uns bot. Ich bin so froh, dass wir jeden Tag dieser zehn Jahre so bewusst erlebt haben, so glückvoll waren. Dieses Wissen macht mir das Jetzt so viel erträglicher. Und ich ziehe alles Glückspüren von Damals in mein Gedächtnis, wenn wir im Keller sitzen, es plötzlich dunkel wird und die Erde bebt. Wenn ich meine Kinder beschützen muss, beschützen darf. Bin glücklich, sie zu haben, auch wenn ich ihnen das alles so sehr gern ersparen würde. Doch sie sind so stark, viel stärker manchmal als ich. Auch wenn sie weinen und zittern, sind sie doch so kraftvoll in sich. So wundervoll. Und meine Liebe zu ihnen grenzenlos. Natürlich habe ich Angst um sie, aber manchmal glaube ich, dass es ihnen gelingt, dieses alles zu überstehen, wenn wir nur zusammenhalten, zusammenbleiben, was auch immer noch geschehen wird.

Emilia hat manchmal eine ganz besondere Fähigkeit alles Furchtbare vergessen zu machen. Sie singt. Jetzt wieder. Eine Zeitlang war ihre Stimme stumm. Aber jetzt ist sie wieder da. Und sie trägt uns über alles hinweg, über alles Dunkle und Schwere. Sie schwebt über uns wie eine sanfte Decke der Zuversicht. Es sind Melodien von unbekannter Schönheit, die aus ihr herausfließen. Ich weiß nicht, woher sie kommen und sie weiß es auch nicht. Als ich sie einmal danach fragte, sah sie mich überrascht an und sagte: „Sie kommen einfach so aus mir“. Sie sagte das als wäre das ganz natürlich. Und vielleicht ist es das auch. Jedenfalls für sie. Manchmal glaube ich, dass sie irgendwie noch sehr in einer anderen Welt verhaftet ist, in der, wo wir wohl alle einmal waren und in die wir einmal zurückkehren werden. Sie scheint sie noch zu sehen, zu spüren und verstehen. Frau Meier nennt sie immer Engel. Ich finde das übertrieben, aber vielleicht ist ein bisschen Wahrheit dabei. Was wissen wir schon. Wir Menschen. Mit unseren begrenzten Verstand.

Wenn wir alles wüssten. Was wüssten wir dann. Würde ich denn alles wissen wollen? Will ich wissen, was dieser Krieg uns noch bringt. Was noch für Leid auf uns wartet. Will ich wissen, warum das alles so gekommen ist. Warum die Menschen sich gegenseitig bekriegen, warum ein Größenwahnsinniger mit allen Mitteln die Weltmacht an sich reißen will. Und warum die Welt ihm dabei solange zugeschaut hat bis es zu dieser Apokalypse gekommen ist. Warum niemand ihm Einhalt geboten hat, ihn hat machen lassen. Ich will es nicht verstehen, denn vielleicht würde ich dann den Verstand verlieren. Aber ich will klar sein. Klar sein, für Lia und Nick, für die Zukunft, die wir alle noch haben werden. Ich vertraue darauf, dass wir eine haben. Es kann nicht anders sein. Ich fühlte mich noch so jung. Ich möchte meinen Kindern beim Erwachsenwerden zuschauen, ihr Glück überwachen, ihre Kinder sehen und ihnen allen wissen lassen, was war, damit sie ihr Leben leben können. Frei und hoffnungsvoll.

Darum bete ich zu Gott. Das mir das vergönnt ist. Und ihnen allen, die in unserer Familie nachwachsen.

*







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