Читать книгу STÖRFÄLLE - Gudrun Gülden - Страница 13

Und ich weiß, wir werden die Sonne sehen

Оглавление

Wir fuhren ohne Lissi zum „Ton, Steine, Scherben“-Konzert, obwohl wir das total blöd für Lissi fanden. Kathrin und Eveline kamen mit, Paul und Chrissi waren auch dabei.

Lukas wollte uns in Kleinbeken abholen.Um Punkt zehn standen Eveline und ich frierend vor unserem Haus. Etwas Wärme kam von Papas Blicken, die in meinem Rücken brannten. Es schneite dicke Flocken und war so kalt, dass der Schnee verharschte. Das gab es selten im Ruhrgebiet, meistens zerschmolzen die Schneeflocken schon auf dem Flug zur Erde in einen grauen Matsch. Um elf Uhr gingen wir wieder rein, um halb zwölf kam Lukas.

„Sehr zuverlässig, Eure Freunde“, sagte Papa. „Haben die keine Uhr?“

Bis zur innerdeutschen Grenze hinter Braunschweig kifften wir ohne Ende. Wegen des Wetters kamen wir schlecht voran. Lukas spielte eine Kassette von den Scherben. Ich hatte noch nicht viel von ihnen gehört. In Lukas‘ WG stand ein Liedtitel von ihnen an der Wand: „Macht kaputt, was euch kaputt macht“. Ich verstand den Spruch nicht so richtig, sobald ich länger darüber nachdachte, bekam der Spruch eine abartige Dynamik und ich hatte die Ausrottung aller Menschen vor Augen, besonders, wenn ich bekifft war, kam ich auf düstere Gedanken. Wenn ich besoffen war, hatte ich immer alle sehr lieb und wollte Peter anrufen.

Chrissi fuhr voll auf die Musik ab. Er wippte seinen Kopf mit geschlossenen Augen nach vorne und sang ein paar Worte mit.

Auf einmal riss er die Augen auf und bat uns, zuzuhören. „Wenn ich die Musik der Scherben höre, empfinde ich einen so tiefen Schmerz, ich bin verzweifelt und bekomme doch Hoffnung für die Menschen, die vom eintönigen Alltag und den beunruhigenden Botschaften von Mord, Gier und Skrupellosigkeit zermürbt werden“, sagte er.

Wir waren baff. So viel hatte er noch nie an einem Stück gesagt.

„Woher hast du das denn?“, fragte Paul.

„Dr. Schiwago“, sagte Chrissi.

„Gibt es die Scherben denn schon so lange?“, fragte Eveline.

Der westdeutsche Zoll winkte uns durch, dann kam ein weißer Strich, der den Übergang ins Hoheitsgebiet der DDR kennzeichnete. Wir wurden von Soldaten im Wachturm neben der Straße beobachtet. Kathrin war blass.

„Ist dir nicht gut?“, fragte Eveline.

„Mir ist schlecht“, sagte sie. „Ich glaub, ich muss kotzen.“

Paul nahm sie in den Arm.

Endlose Autoschlangen warteten vor der ersten Passkontrolle. Lukas wählte die lahmarschigste von allen. Nach einer Stunde fragte uns ein dürrer Mann in Uniform und riesiger Uniformkappe, ob wir 'Funk oder Waffen' hätten“. Chrissi saß vorne und antwortete, dass wir ein Radio hätten, wir lachten wie blöde (bis auf Kathrin) und wurden rausgewunken. Sie filzten uns und wir mussten fünfzig Mark Zoll für einen Wecker und die Yps-Sammlung von Lukas bezahlen. Als wir unsere Pässe abgaben, zitterten Kathrins Hände. Die grünen Büchlein liefen auf einem Fließband zur richtigen Passkontrolle, wo sie Kathrin rausholten.

Sie kam nach zwanzig Minuten wieder und hatte total schmale Lippen. Sie zündete sich eine Zigarette an. Das Zittern war schlimmer geworden.

„Sie wollten wissen, warum ich durch die DDR fahre, da ich ja vor sechs Jahren entschieden habe, dass ich dort nicht mehr leben möchte. Ich habe gesagt, dass ich da elf Jahre alt war.“

Uns war mulmig. Auch wenn diese Typen irgendwie ulkig waren, war uns das Lachen vergangen.

Auf der Transitstrecke durfte man nur hundert fahren. Lukas‘ Bulli rollte selbst bergab und mit Rückenwind kaum über achtzig Sachen durch den Arbeiter-und-Bauern-Staat. Als ein Schild kam, auf dem sechzig stand und dann gefühlte fünf Meter danach ein weiteres Schild mit vierzig, wurden wir von der Volkspolizei, die hinter einem Busch stand, rausgewunken. Dieses Mal kostete es hundert Mark. Wir kratzten gerade mal sechsundneunzig Mark und dreißig Pfennig zusammen. Die Vopos ließen Gnade vor Recht walten und uns weiterfahren.

Als wir in Berlin ankamen, war es dunkel. Es regnete, an den Häusern leuchteten Lichter und bunte Reklame, die sich auf den Straßen spiegelten. Die Dunkelheit war heller, als die in Kleinbeken. Ich war das erste Mal in Berlin.

Wir fuhren nach Kreuzberg zum SO36. Vor dem Gebäude knäulte sich eine Traube aus schwarzgekleideten Typen, fast ausschließlich Männer. Sie hatten schwarze Haare, die nach oben toupiert oder zu Stacheln gegelt waren. Außer Lukas, Chrissi und Paul waren keine Langhaarigen da. Die paar Frauen, die ich sah, waren blass und hatten schwarz umrandete Augen.

Das SO36 war eine große nackte Halle mit einer Bühne. An einer Art Stand konnte man Bier kaufen. Blöderweise hatten wir kein Geld mehr.

Als die Scherben auf die Bühne kamen, ging ein unglaubliches Geschrei los. Volle Bierdosen flogen zur Bühne, was die Musiker wenig beeindruckte. Es war stickig und roch nach Kanalisation.

Rio Reiser sah bescheuert aus. Er hatte einen total dämlichen Schnurrbart. Die Musik war genial und laut wie ein Überschallknall. Wir waren eingeschüchtert. Eveline und Chrissi gingen raus. Lukas traf einen Bekannten, der uns Geld lieh und kaufte eine Masse Bierdosen für uns. Kathrin, Paul und ich klemmten uns vor die Wand und kippten das Bier in uns rein. Ich schaute zu Lukas. Er quatschte mit seinem Bekannten, der Lukas was fragte, dann zeigte Lukas zu uns und der Typ schaute mich an. Es war dunkel, ich konnte ihn nicht gut sehen.

Die Leute hüpften hoch und runter und schubsten sich. Nach einer Weile gingen Kathrin und Paul nach vorne, wo man garantiert zerquetscht wurde und hüpften mit.

Ich blieb am Rand. Ich sah nicht einen einzigen Hippie außer uns, vielleicht noch gerade der Typ, mit dem Lukas redete. Ich meine, in Kleinbeken sah ich auch nie Hippies, aber das beunruhigte mich nicht. Hier fühlte ich mich nicht ganz wohl. Ich hatte von den Punks gehört, von England und den Straßenkämpfen. Das war eine Nummer härter, als Hippie in Kleinbeken zu sein. Ich hatte auch nicht das Gefühl, dass die Punks Hippies mochten. Die machten nicht den Eindruck, als wollten sie eine neue Staatsform gründen oder so. Ich dachte auf einmal, dass ich aus einer heilen Welt kam, dass es Dinge gab, von denen ich keine Ahnung hatte. Ich vermisste Peter. Ich hätte ihn gerne gefragt, was er von Punks hielt.

Später gingen wir noch in eine Kreuzberger Kneipe, wo es mir ausnehmend gut gefiel. Es gab winzige Flaschen Bier, braun, bauchig, billig. Katrin machte den elementaren Fehler und trank in der Kneipe Kaffee, der wie Maschinenöl aussah, wahrscheinlich auch genauso schmeckte und ähnlich bekömmlich war. Als wir später an der Mauer lang gingen, kotzte sie die Mauer an und fing direkt danach an zu heulen.

Die Rückfahrt war unspektakulär, nur ewig lange und Kathrin roch sauer.

Pünktlich zur neun Uhr Messe erreichten wir Kleinbeken.


STÖRFÄLLE

Подняться наверх