Читать книгу DIE LÖSUNG steht an der Decke - Gudrun Heinrichmeyer - Страница 16
In der Bibliothek
ОглавлениеDie Gesprächsrunde saß am Kaffeetisch und genoss bereits zum etwas später angesetzten Frühstück den famosen Kirsch-Streusel-Kuchen mit Schlagsahne, für den das Landhotel Kringel bekannt war, sowie frisch gebrühten Kaffee oder Tee nach Belieben.
Jeder der Anwesenden fühlte irgendwie Hoffnung, Vertrauen und Zuversicht, dass ihre Aufmerksamkeit seit den goldenen Kugeln von gestern irgendwie gewachsen war und dass sie ihre Umgebung präziser registrierten.
Albert Muster gähnte vor versammelter Mannschaft und schaute fragend in die Runde: „Wie ist das eigentlich mit den Sinnessystemen – den Fleck entdeckten ja schließlich unsere Augen, die ihn dann erst zum Gehirn gemeldet haben… müsste die Reinigung nicht schon viel früher beginnen… nämlich bei den Augen, nicht erst beim Gehirn?“, dann nahm ein paar Augentropfen, um die Trockenheit seiner Sehorgane zu lindern.
Hugo Kirchheim fügte hinzu. „Tun Sie Ihren Augen etwas Gutes, so sparen Sie sich die Tränen, obwohl diese ja häufig auch entlastend wirken können… Vielleicht ersparen Tränen auch die Augentropfen? Natürlich ist eine Unterscheidung von Sinnen und Gehirn auch etwas fragwürdig, weil die Augen sowie die Riechkolben der Nase entwicklungsgeschichtlich ja eigentlich Ausstülpungen des Gehirns sind. Genauer gesagt Ausstülpungen des Diencephalons. Deshalb werden sie auch als unechte Hirnnerven bezeichnet.“
„Herr Muster, ich denke, Sie haben Recht, indem Sie Ihren Augen etwas Gutes tun“, sprach Dr. Engström. „Ich selbst benutze immer wieder Ohren-Tropfen, weil es bei mir persönlich meist nicht die Augen sind, die Fehler entdecken. Ich mit meinen gut ausgebildeten Ohren bemerke viel häufiger Missklänge. Wenn jemand laut schreit, ist das fürchterlich für mich. Es geht so weit, dass ich regelrecht Angst bekomme und ich mich nicht mehr traue hochzublicken. Ich fühle mich auch tief verletzt, wenn mich jemand ‚dummer Esel nennt‘ - vielleicht weil ich nicht riechen konnte, was die andere Person wollte oder wenn ich mit meinen groben Hufen bei Begrüßungsritualen eher ungelenk wirke. Manchmal schmeckt mir auch nicht, was die anderen wollen und ich widerspreche. Ab und zu geht es gar nicht um mich. Ich bin schon irritiert bei disharmonischen Zwischentönen, wenn z.B. Menschen oder andere Wesen nicht einer Meinung sind und das verstecken wollen. Auch auf leise Dissonanzen reagiere ich sehr empfindlich. Da können Ohrentropfen mildernd wirken, obwohl sie ja die eigentliche Ursache nicht beseitigen. Dennoch bin ich von Zeit zu Zeit wirklich entmutigt und verunsichert und würde meine Sinne am liebsten ausschalten.“
Während Dr. Engström von seiner Empfindsamkeit oder Empfindlichkeit? berichtete warfen sich Albert und Andrea bedeutungsvolle Blicke zu. Er zog die Augenbrauen nach oben – sie schürzte die Lippen und atmete tief durch.
„Was hältst du denn von Ohrenstöpseln? Die bieten mehr Schutz und sorgen auch für ruhigen Schlaf!“, fragte Frau Schaf. Die anderen blieben stumm.
Lediglich der Delfinmensch hatte einen Moment seine Verunsicherung vergessen. Er fühlte sich erneut berufen und meldete sich zu Wort: „Dr. Engström, es ist Ihr gutes Recht, sich so zu äußern, doch ich gebe zu bedenken, dass es Ihnen viel mehr Sicherheit gäbe, ihre Sinne zu reinigen und zu schulen und sich wirklich um Ihre Bedürfnisse zu kümmern. Wie oft hörte ich schon die Äußerung: Er ist nicht bei Sinnen… er sitzt auf seinen Ohren… sie hatte keinen Riecher… sein Augenmerk war ganz woanders… sie streckte ihre Fühler in die falsche Richtung aus. Ich kann Ihnen nur raten: Reinigen Sie Ihre Sinne… auch dafür gibt es Geschichten oder Fantasiereisen, wie sie Manche nennen. Der Text dazu steht übrigens auch im Buch.“
Andrea stieß Albert mit dem Ellenbogen an und sprach flüsternd zu ihrem Mann: „Schatzi, hast du auch schon bemerkt, dass der Fleck mit ins Haus gekommen ist… schau mal an die Decke!“
Albert Muster entgegnete unwirsch: „Wir hatten ja bisher nur eine mehr oder minder förmliche morgendliche Begrüßung, gibt es hier denn überhaupt keinen Plan? Mich interessiert viel mehr der Tagesablauf – am besten schriftlich, damit ich mich darauf einstellen kann. Ich frage mich, wo bin ich hier nur gelandet?“
„Es sieht aus, als hätte er sich unserer Runde angeschlossen… als ob er dabei sein möchte, um nichts zu verpassen“, flüsterte Andrea erneut, „schau doch nur!“
Albert rollte die Augen und atmete tief durch.
„Ich bin schon sehr gespannt auf die vielgerühmte Bibliothek des Hauses und die beträchtliche Anzahl interessanter Bücher, die voller Geschichten und Erkenntnisse stecken, die nur darauf warten, gelesen zu werden, damit sie ihre Wirkung entfalten können. Ich liebe Bücher!“, tat Frau Schaf kund.
Alle nickten und erhoben sich zeitgleich von ihren Plätzen.
Die Kringel-Bibliothek gehörte zu den wenigen verbleibenden Bibliotheken im Land. Nachdem Likes generell aus politischen Gründen für literarische Werke der Sturm-und Drang-Zeit verboten worden waren und vom Kultusministerium ein Vorleseverbot für Märchen in Schulen erlassen worden war, gab es in nahezu allen europäischen Großstädten ein großes Bibliothekssterben. Auch der Neubau von High-Tech-Romantik-Museen trug seinen Teil zum Werteverlust von historischen Werken und damit verbunden natürlich auch deren Aufbewahrungsorten, den Bibliotheken, bei. Nicht einmal mehr der mit Büchern sehr gut ausgestattete rollende Volkshochschulbus, der bisher noch in Flockenberg Halt gemacht hatte, kam vorbei. Er fiel der totalen Landdigitalisierung zum Opfer. Deshalb entschloss sich Sebastian Kringel zu dieser außerordentlich mutigen Tat, dem Aufbau und Erhalt der physisch existierenden Kringel-Bibliothek für seine Gäste - natürlich gepaart mit modernster Digital-Technik.
Fast jeder Reisende hatte in seinen Räumlichkeiten irgendwann einmal ein mehr oder weniger verflecktes Buch zurückgelassen, weil es nicht mehr in den Koffer gepasst hatte. Sebastians geliebte Uroma hatte vor langer Zeit damit begonnen, diese Werke sorgfältig nach Jahrgängen in einem der weitläufigen Bootsschuppen am Traumschiffanleger aufzubewahren, für den Fall, dass sich nochmals jemand melden würde mit der Bitte um Rücksendung. So war im Laufe der Jahrzehnte das komplette Halbwissen der Menschheit liegengeblieben und ein riesiger Schatz entstanden, den Sebastian Kringel durch den Wegfall der Familienurlauber in den ehemaligen Mehrfamilienzimmern, die alle miteinander verbunden waren, unterbringen konnte.
Jeder, der ankam, konnte seinen Aufenthalt dazu nutzen, ohne Leseausweis, ohne Registrierung und ohne Bodyscan anonym etwas zu lesen, was andere hinterlassen hatten.
Die Gesellschaft begab sich nun in die Bibliothek des Hauses. Als die sBarcamp-Teilnehmer näher traten, öffnete sich die Eingangstür … und ein riesiger Saal kam zum Vorschein, in dem sich, bis unter die wirklich sehr hohe Decke, Bücher über Bücher stapelten. Vor den Regalen waren verschiebbare Leitern an Laufrollen angebracht, die es ermöglichten, an jeder Stelle des Raumes bis ganz nach oben zu steigen und jedes Buch herauszunehmen, das das Herz begehrte. Interessant war, dass der Raum sich immer mehr auszudehnen schien, je länger sich Bücherliebhaber darin aufhielten. Es bildeten sich immer mehr neue Nischen. Die raumhohen Regale waren angefüllt mit Büchern, die erst sichtbar wurden, wenn man sich einem Raumende näherte. Sie schienen zu wachsen und immer genau die Bücher zu enthalten, die sich der jeweilige Bücherliebhaber gerade vorstellte. Das Imaginäre und die Realität waren miteinander verschmolzen, das machte den besonderen Reiz aus für die Besucher.
Frau Schaf schnappte sich sogleich drei Bücher aus der Sparte „Erziehungsratgeber“ und musste fürchterlich niesen. „Was mich etwas stört, ist der Schmutz, der sich auf so manchem lange nicht hervorgeholten Buch angesammelt hat… lassen Sie uns die Bücher gemeinsam von der Staubschicht befreien, sie haben es verdient!“, schlug Elsbeth deshalb vor. „Zusammen schaffen wir das in Null Komma Nichts und Bewegung tut uns gut!“
Für den Leser ist wichtig zu wissen, dass Bibliotheksstaub nie komplett entfernt werden sollte, denn er ist sehr gehaltvoll – jeder, auf dem er landet, wird mit dem Wissen infiziert und kann dadurch schneller lesen und besser verstehen, worum es geht.
Frau Schaf, Andrea und Albert schnappten sich die neben den Traumfängern und hinter den Hirschfängern bereit stehenden Staubfänger und begannen damit, die Bücher blitzblank zu wedeln. Dr. Engström nutzte seine Schwanzquaste für die Reinigungsaktion. Der Delfinmensch musste passen wegen seiner Stauballergie und seiner ungeeigneten Extremitäten. Er musste zeitweise den Raum verlassen, weil er kaum Luft bekam.
Das Gehirn von Frau Schaf half mental mit, indem es bereits zu Beginn der Putzaktion allen Beteiligten, bis auf Herrn Muster, das attraktive Endergebnis präsentierte und so Motivation schuf.
Herr von Greifenklau, der Facility-Manager, der die Staubschicht als sein persönliches Defizit betrachtete, begann etwas missmutig mit den Flügeln zu schlagen, sodass der Staub aus den hintersten Ecken aufgewirbelt wurde. Greifenklau wollte es nicht zugeben, aber er schämte sich fast in Grund und Boden. Er erlebte Fremdscham, wenn er sich in die Rolle seiner Mitarbeiter versetzte, die offensichtlich schon vom prophezeiten Bibliothekensterben überzeugt waren. Sie hielten diese Ansammlung von bedrucktem Papier, das einherging mit Raumverschwendung, anscheinend für völlig überflüssig und nicht der Pflege wert. Zusätzlich fühlte er Selbstscham, weil letztendlich er für die Leistungen seiner Mitarbeiter und deren Kontrolle verantwortlich war. Äußerst unangenehm war ihm der Gedanke: „Wenn bei alledem auch noch jemand entdecken würde, dass ich unter Krallenpilz und Dauermauser leide!“
Andrea hasste Putzen, wollte aber auch zur Gruppe gehören und fügte sich deswegen in die gemeinsame Aktivität. Sie dachte: „Kompromisse eingehen gehört ja mit zum Leben.“ Hugo Kirchheim hatte in seinem bisherigen Leben noch nie geputzt - Putzen erledigt das Personal! Er sprang aber über seinen Schatten, denn es handelte sich schließlich um eine beachtliche Ansammlung von Wissen, dessen Reinheit ihm schon immer wichtig war. Beim Putzen bemerkte er, dass Dr. Engström heimlich das Werk: „Genius und Hormonspiegel“ an sich nahm. Er war unsicher, ob das ein korrektes Vorgehen war.
Der Delfinmensch, nachdem er zurückgekommen war, empfing plötzlich eine Vision von Schweißgeruch und Stöhn- und Ächz-Geräuschen wie in einem Fitness-Center. Dazu kamen ihm Bilder, die Trainings- oder auch Folter-Geräte mitten im Bibliotheksraum zeigten… Er murmelte vor sich hin: „Putz dich schlank“ …bis plötzlich und unerwartet alle in tiefen Schlaf gefallen waren.
Dr. Engström sinnierte noch vor sich hin: „Von außen sieht das Haus gar nicht so aus, als ob eine so prächtige und wirklich beachtlich große Bibliothek darin Platz finden könnte. Einen solchen Raum hätte ich eher in einem Königsschloss vermutet. Ich verstehe auch noch nicht wirklich, wie das architektonisch funktionieren kann… na-ja, was soll‘s!“ und schloss ebenfalls die Augen.
Das denkende Gehirn von Frau Schaf schaltete sich zunächst vergebens mit der Absicht ein, die sBarcamp-Teilnehmer wieder ins Hier und Jetzt zu holen. Es sendete dieses Mal den Beitrag: „Bitte nun wieder nach außen orientieren!“, an alle, aber ohne Ton, nur mit einer speziellen Frequenz in die Runde, denn es schien, dass die Gruppe besonders stark mit ihren eigenen Dingen beschäftigt war. Beim Denken und Meditieren über einen unvorhergesehenen Zwischenfall, dass nämlich die drei Worte „wichtig-gleich-sofort“ ohne Erlaubnis durch eine seitlich geöffnete Nebentür direkt in den Bibliotheksraum eingedrungen waren. Das hatte alle so angestrengt, dass sie plötzlich in einen besonders tiefen Tiefschlaf gefallen waren.
Aber dann gab es nochmals einen Zwischenfall, denn…
Das verrückte Huhn, das einem Träumenden entsprungen war, gackerte: „Tja, so kann es gehen, Sie werden auf etwas aufmerksam, hören die passenden Stichworte und schon zeigen sich bei Ihnen zunächst kleinere Stresssymptome, wie Nervosität, Unruhe, vielleicht scharren Sie auch mit ihren Hufen, wollen etwas tun, merken, Sie schaffen das aber nicht im Moment …. und dann setzt die übliche Tretmühle bei Ihnen ein. Sie nehmen Vitaminpillen, tun etwas anderes gegen ihren Willen und schon folgen die Ermüdungserscheinungen. Mir scheint, das ist eine klassische Vorbereitung für einen whitewash-rub-out. Wahrscheinlich schlafen Sie jetzt deshalb so gut unruhig. Wissen Sie, bei mir kommen dann innere Bilder… dass Hühner am helllichten Tag in ihren Stall schleichen und sich auf die Stange setzen, die Türen schließen, die LED-Lampen einschalten, damit die Illusion entsteht, sie würden eine Nachtschicht einlegen. Sie möchten der Umwelt zeigen, dass sie übertariflich bezahlt werden wollen und Tag und Nacht ohne Pause gackern müssten. Möglicherweise diskutieren sie noch jetzt darüber, was sein darf und was nicht sein darf… und besprechen ausführlich, ob sie doch vielleicht die Fenster öffnen könnten wegen der verbrauchten Luft… Die Einen schreien Ja! und die Anderen Nein! Aber in dieser angespannten Atmosphäre könnten sie doch gar keine Eier legen. Das klingt ein bisschen ga-ga-gack-verrückt, oder?“
Als das Signal von Frau Schafs Gehirn endlich alle Teilnehmer erreicht hatte, erwachten sie wieder in emotional ganz unterschiedlichen Zuständen. Zwar hatte jeder der Beteiligten gerade den Hühnertraum miterlebt, aber je nach eigener Vorerfahrung und Vorstellungserfahrung ganz unterschiedliche Reaktionen darauf gezeigt. Darüber wollten sie sich spontan austauschen. Denn letztendlich hatten alle Hühner gesehen, die aber nicht wirklich in der Bibliothek herumsprangen.
Albert fühlte sich von dem Erlebnis mit den hart arbeitenden Hühnern außerordentlich angesprochen. Er hätte niemals angenommen, dass diese Tiere auch unter dem Burn-out-Syndrom leiden. Könnte da eine gewerkschaftliche Organisation helfen, die faire Arbeitsbedingungen schafft?
Der Delfinmensch sprach erstaunt: „Es ist schon beeindruckend für mich, dass ich so deutlich Bilder von inneren Hühnern wahrnehmen konnte, die es in meiner von Wasser geprägten Welt doch gar nicht gibt.“
Andrea, als Psychologin und Fachfrau, kannte natürlich das Phänomen aus ihrer Praxis und dozierte selbstbewusst: „Sie können mit dieser Methode jederzeit einen Elefanten in einen Fleck verwandeln, ihn verschwinden lassen und umgekehrt. Wenn Sie den Fleck da lange genug anstarren, dann haben Sie plötzlich einen Elefanten… Haben Sie schon bemerkt, mit welcher Leichtigkeit das in der Zwischenzeit funktioniert? Wenn Sie sich etwas lange genug in den Kopf setzen, brauchen Sie keine Vorversuche mehr! Das liegt dran, dass unser Gehirn in Bildern, Geräuschen, Geruch, Geschmack und Gefühl denkt, andere Informationen kennt es ja nicht. Es ist nur über die Sinnessysteme mit der Außenwelt verbunden.“ Dann wandte sie sich direkt an die Teilnehmer und fragte: „Sind Sie bereit zu einem kleinen Experiment, das das verdeutlicht?“
Die sBarcamp-Teilnehmer stimmten zu und bereiteten sich auf eine interessante Erfahrung vor.
Andrea fuhr fort: „Denken Sie nun bitte an ein Huhn… haben das alle?“ Sie wartete, bis alle genickt hatten und stellte danach die Fragen: „Wie genau sieht denn das Huhn aus, an das Sie gerade denken?“
Frau Schaf berichtete: „Das Huhn ist weiß und hat einen leuchtend roten Kamm – so nennt man doch das Hautgebilde auf dem Kopf – oder?“
Dr. Engström beschrieb sein Huhn ganz anders… Sein Huhn war braun gefleckt, sah ihn verführerisch an und begann nach einem Augenaufschlag zu gackern.
Albert sprach von einem schwarzen Huhn, das gerade Brotkrumen aufpickte, die es eigenartigerweise unter dem Tisch in einem thailändischen Restaurant entdeckt hatte – so ein Quatsch!
Der Delfinmensch beschrieb ein braun-weiß gemustertes Huhn, das neben einem Hahn in einem Biologiebuch abgebildet war, denn in seiner Welt kamen Hühner eher selten vor.
Egbert von Greifenklau, der das Experiment ebenfalls mitgemacht hatte, sah ein grau-weiß geflecktes Huhn, das gerade aufflatterte und dabei einen grünen Klecks in der Luft verlor, den er als Facility-Manager natürlich mit seinem Team wieder wegputzen musste – wie ärgerlich. Seine Vorstellung ging noch weiter. Er sah wie ein Lastwagen voller Hühner in der Bibliothek ausgeladen wurde und er wurde sichtlich nervös. Unwillkürlich kratzte er sich im Nackengefieder.
Alle hatten unterschiedliche Hühner vor ihrem geistigen Auge – je nachdem, welche Erfahrungen sie mit Hühnern bereits gemacht hatten.
Soweit, so gut … nun stellte Andrea eine weitere interessante Frage: „Was genau haben Sie getan, um mir die Hühner beschreiben zu können? Fällt Ihnen dabei etwas auf?“
Nach kurzem Nachdenken waren sich alle Beteiligten einig darüber, dass sie die Hühner vor ihrem geistigen Auge gesehen hatten bzw. immer noch sehen, wenn sie darüber nachdenken und sprechen. Sie konnten sie genau betrachten und detailliert beschreiben, um die Fragen zu beantworten.
„Sehen Sie, meine Damen und Herren, das nennt man visuell erinnern. Damit nicht genug – das Experiment geht weiter… Denken Sie nun wieder an das Huhn, das Sie mir gerade beschrieben haben und ändern Sie die Farbe – lassen Sie allen Hühnern blaue Federn wachsen… lassen Sie das Huhn auf Mausgröße einschrumpfen und nun erschaffen Sie quadratische Hühner-Augen, die Sie interessiert anblicken… Betrachten Sie Ihr Werk eine Weile und gönnen Sie Ihrem Huhn nun wieder seinen Ursprungszustand“, leitete Andrea die Gruppe an.
Fast alle waren erstaunt, dass ihnen die Kreation der inneren Hühner so gut gelungen war. Sie hätten jetzt die mausgroßen blauen Hühner mit quadratischen Augen auch zeichnen oder malen können, natürlich jeder im Rahmen seiner künstlerischen Begabung bzw. seiner antrainierten künstlerischen Fertigkeiten.
„Das, was Sie gerade erlebt haben, nennt man visuell konstruieren. Vorhin haben Sie visuell erinnert. Beide Vorgänge gehören zum Überbegriff Visualisieren“, dozierte Andrea abschließend.
„Das stimmt“, bestätigte Frau Schaf, „wenn ich so in die Runde schaue, sehe ich Kopfnicken. Darum schlage ich vor, lassen Sie uns an weiteren guten Fantasiereisen teilhaben, um unser Vorstellungsvermögen zu erweitern, indem wir uns neuen Themen widmen.“
„Da muss ich Ihnen vollkommen widersprechen!“, polterte Albert. „Es tut mir Leid, aber ich kann und will mir keine blauen Hühner vorstellen, das geht mir komplett gegen meine Verstandesnatur. Ich möchte bei der Realität bleiben und in der Wirklichkeit an Veränderungen arbeiten. Dazu brauche ich weder blaue Hühner noch quadratische Klapperschlangen! In diesem Moment fiel ein kleiner grüner Klecks auf die Stelle seines dritten Auges. Alle waren fasziniert davon, dass er plötzlich einem Inder mit Bindi ähnelte. Es mag sein, dass Albert die interessierten Blicke anders interpretierte, denn nun fühlte er sich motiviert, von seinen Erfahrungen aus Nicaragua zu berichten. Er begann: „Die Älteren unter Ihnen erinnern sich vielleicht noch an den Contra-Krieg, in dem die USA mit illegalen Mitteln ihre Vormachtstellung in Lateinamerika sichern wollte. Wem hätte es genutzt, wenn wir uns schöne Bilder mit einer florierenden sozialistischen Landwirtschaft mit wohlgenährten Hühnern auf Kaffeeplantagen gemacht hätten? Da war es schon notwendig, den Kaffee in den Fokus zu nehmen und ein Vertriebsnetz in der Welt aufzubauen, um die Nicaraguaner in ihrer Bestrebung nach Unabhängigkeit und Selbstbestimmung vor allen Dingen materiell zu unterstützen! Was ist da wichtiger als die Reklame. Genauso wie Erdinger Weißbier und Zott Sahnejoghurt jedem Wesen in Deutschland bekannt sind, war plötzlich weltweit Nicaragua-Kaffee als Markenzeichen ein Begriff, zudem auf der Packung auch noch stand: „Die US-Regierung versucht das Modell Nicaragua in die Knie zu zwingen!“ Sowie: „Das Land drohe, ein Opfer des Ost-West-Konflikts zu werden.“ Meine Damen und Herren, das bewegte die Welt – nicht so ein Kack mit blauen Hühnern – und Nicaragua war in aller Munde und auch der Kaffee!“
Wohlwollend näherte Egbert von Greifenklau sich Albert mit einem Hüpfer und raunte:“ Entschuldigung Herr Muster, Sie haben da etwas auf der Stirn.“ Muster verstand im ersten Moment gar nicht den Hinweis, aber in der Kaffeepause rannte er doch zur Toilette und sah in den Spiegel. Er nahm ein Papiertuch zur Hand, um den kleinen grünen Klecks abzuwischen. Das gelang ihm nur oberflächlich, denn darunter hatte sich eine Hautveränderung, ein kleiner brauner Fleck gebildet. Als er in die Runde zurückkam, wirkte er irgendwie phlegmatischer.
Egbert von Greifenklau war noch lange mit sich selbst und der Frage beschäftigt: „Träume ich oder wache ich?“
In diesem Moment entdeckte er das Huhn, das auf einem der Ohrensessel saß und begann, die Geschichte Mühelos und federleicht vorzulesen.
… die Zuhörer fielen in Trance …
… nach deren Ende erwachten sie erfrischt und munter …
… und orientierten sich wieder ganz im Hier und Jetzt …