Читать книгу Lilou Charlou - Guillermo El Oso - Страница 10

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04:00 Uhr

Irgendetwas kitzelt mich. Lilou sitzt neben mir und streicht mit ihren Haaren über mein Gesicht. Sie muss das schon eine ganze Zeit lang gemacht haben, denn sie schaut mich gespannt an.

»Was ist mein Schatz?«

Mit verschlafenen Augen blinzle ich Lilou an, sie verzieht das Gesicht, als würde ihr übel werden. Sofort springe ich aus dem Bett und will mich anziehen, als ich Lilou's Hände an meinem Rücken spüre, sie küsst mich zärtlich. Ihren warmen nackten Körper an meinem zu spüren, weckt mich vollends auf. Ich drehe mich um, schau in ihre Augen und lächle ihr zu: »Was soll ich tun?«

Sie nimmt meine Hand und legte sie geschickt auf ihren Bauch. Er fühlt sich warm und extrem hart an. Ich versuche, zu erahnen, was sie mir damit sagen will, irgendwie bin ich doch verwirrt.

....

Lilou kommuniziert mit mir in der deutschen Gebärdensprache. Während der Schwangerschaft hatte ihre Mutter Röteln und beide Innenohren von Lilou wurden so in Mitleidenschaft gezogen, dass sie völlig taub geboren wurde. Ihre Eltern bekamen das natürlich erst viel später mit und ließen das auch viel zu spät feststellen. Ihr Desinteresse am Leben spiegelte sich in ihrer oberflächlichen Art, im Umgang mit ihren Kindern und anderen wieder.

Vielleicht ist Lilou deshalb so eine starke Kämpferin mit viel Lebensmut. Ihre Familie hatte diese Situation störrisch ignoriert, so musste Lilou sich fast alles selber erarbeiten und beibringen, lernte viel durch ihren Bruder und ihre Freunde.

Dass sie in Frankfurt auf die Schule für Gehörlose ging, war nur ihrer Ausdauer und Hartnäckigkeit, sowie ihrem behandelten Arzt und dem GL-Verein Frankfurt zu verdanken. Ihren Eltern war dies peinlich und wollten sie deshalb nicht extra in eine »Behinderten Schule« bringen, Lilou könne ja schließlich auch in eine normale Schule gehen.

Doch Lilou hörte einfach nicht auf ihre Eltern und man sorgte dafür, dass sie auf die SamS gehen konnte. So lernte sie die Gebärdensprache, ihre Aussprache war einigermaßen verständlich, und konnte Lippen lesen. Das alles half ihr, sich gut durchs Leben zu boxen.

Als Lilou mir schrieb, dass sie taub war, war ich erst sprachlos und mit der Situation völlig überfordert, spürte einen tiefen Schmerz in meiner Brust und durchstöberte sofort das Internet zum Thema Gehörlosigkeit.

Die Vorstellung, dass so ein wundervoller Mensch, nicht die Melodien der Natur wahrnehmen konnte, durchdrang mich mit tiefem Mitgefühl, ich war fassungslos und tief traurig. Lilou war es aber dann, die mich motivierte, alles zu lernen und zu verstehen und ihre Empfindungen zu erleben. So konnte ich ihr endlich die Aufmerksamkeit geben, die sie verdiente die sie sich ein lebenslang wünschte.

Ich verschmolz quasi mit ihr zu einer Einheit, ich würde für sie hören, ihr die schönen Melodien begreiflich machen. Als ich mich an unser erstes Treffen erinnerte, wo ich sie ins Café einlud und mich wunderte, warum sie nicht sprach, war ich peinlich berührt. Später schrieb sie mir, dass sie es komisch fand, dass ein so alter Mann, sie ansprach und zum Kaffee einlud. Sie habe auch versucht zu verstehen, was ich von ihr wollte, aber da ich so schnell und viel redete, konnte sie einfach nicht alles verstehen.

Geduld mit mir war von Seiten Lilou nötig, um mir die Gebärdensprache beizubringen, mit der Zeit verstand ich ihre Sprache, auch wenn sie redete, im Notfall hatten wir ja immer noch unsere Handys. Chatten mit Lilou war für mich die schönste Art der Kommunikation, sie setzte die Emoji’s so geschickt ein, dass sie dadurch ihren Gefühlen viel mehr Ausdruck und Kraft verleihen konnte.

....

Lilou hat Schmerzen, ich kann das deutlich sehen. Dabei fühle ich mich völlig hilflos. Ein Blick auf die Uhr verrät, lange hatte ich wohl nicht geschlafen.

»Wie lange hast du die Schmerzen schon?« Frage ich, mir die Augen reibend.

»Seit einer halben Stunde stärker« meinte Lilou »ist aber nicht so schlimm.«

Ich lächle sie an, weil sie das ›so‹ so lang zog.

»Ich koche uns einen Tee, dann sehen wir weiter« brummle ich vor mich hin und zieh den Bademantel über.

Lilou lächelte mich an und streichelt mein Gesicht. Diese Zartheit, Liebe und Wärme, die aus allen ihren Gesten spricht, bringt mein kleines Schokoladenherz zum Schmelzen, so wie den Schnee in der Frühlingssonne.

Von Müdigkeit keine Spur mehr. Getragen von der tiefen Zuneigung und Harmonie, gehe ich in die Küche und stelle den Wasserkocher und das Radio an. Leichte Jazz Musik durchdringt in der Nacht das Haus. Ich öffne die Fenster und Türen, um die morgendliche Frische ins Haus zu lassen.

....

Jazz war eine meiner Leidenschaften, die ich nicht so mit Lilou teilen konnte. Ich liebte schon immer Musik, und meine Musikrichtung war auch immer anders, als die der Allgemeinheit. Wenn ich auch kein musikalischer Mensch bin, so mochte ich es doch zu musizieren, mich darin zu verlieren, einfach in eine andere Welt abzutauchen, das reale Leben hinter mir zu lassen. Deshalb fing ich irgendwann nach meiner Schule damit an, Saxophon zu spielen. Es war jenes Instrument, das mich beim Jazz in eine Atmosphäre brachte, in der ich mich wohl fühlte, leicht beschwingt, freudig.

Immer wenn ich in unsrer Villa Saxophon spielte, wollte Lilou gerne dabei sein, deshalb setzte sie sich ganz Nahe vor mich, legte ihren Kopf zurück, schloss die Augen und konzentrierte sich auf ihren Körper. Sie meinte, dass sie durch die Schwingungen genau »hören« würde, was ich so spielte und das es ihr sehr gefiel. Manchmal schien es mir so, als würde sie sogar mitsingen, da sich ihre Lippen im Rhythmus der Melodie mitbewegen. Dadurch stärkte sie mein Selbstbewusstsein und ich hatte mehr Freude beim Üben und Spielen.

Wie sehr es ihr gefiel und mich gerne darin unterstützte, merkte ich, als sie ein kleines Konzert in meinem Café organisierte. Ich war sprachlos auf ihr außerordentliches Organisationstalent und ihr Vertrauen in meine Fähigkeiten.

Sie zeichnete ein Plakat, bastelte exklusive Einladungskarten, stellte ein Kuchenbüffet zusammen und sorgte dafür, dass das Personal anwesend war. Es sollte ein Benefizkonzert für gehörlose Kinder werden.

Lilou genoss voller Stolz und Bewunderung diesen Moment und teilte ihn gerne mit mir. Sie hatte eine kleine Bühne aufgebaut, die Tische neu angeordnet. Sie selbst hatte sich auch herausgeputzt. Ihre Haare frisch frisiert mit wunderschönen Locken, die ihr weit über die freie Schulter hingen. Ein leichtes dezentes Make-up, was ihre strahlend blauen Augen herausstellte und ein kräftiger dunkelroter Lippenstift betonte ihren wohlgeformten Mund. Sie war eingehüllt in ein hautenges kaffeebraunes Abendkleid und trug dazu passend elegante beigebraune Stiefeletten. Jeder musste mich unweigerlich für den größten Glückspilz der Welt halten. So eine tolle attraktive junge Frau, sein Eigen nennen zu dürfen.

Lilou hatte genau festgelegt, welche Jazz-Standards ich zum Besten geben sollte. Und ich gab mein Bestes. Viele Stammgäste und Bekannte waren doch überrascht, eine neue noch völlig unbekannte Seite von mir kennen zu lernen.

Der Abend war wirklich ein großer Erfolg, die Spende fiel großzügig aus und fand Beachtung in der Lokalzeitung und im Rundfunk. Ich werde nie vergessen, wie stolz sie auf mich war, dabei brauche ich nicht erwähnen, wie stolz ich auf sie war.

In dieser Nacht haben wir noch lange in unserer Villa am Kamin gesessen, einen guten Tropfen Wein genossen, viel gelacht, uns ausgetauscht, mit kleinen Zärtlichkeiten verwöhnt und uns unserer Liebe versichert.

Solche Abende gingen immer so lange, bis Lilou unvermittelt einschlief. Dies passierte ihr auch oft bei den nächtelangen Chats. Wir schrieben uns und mit einem Mal keine Reaktion mehr. Mitten im Gespräch schlief sie ein! Dann habe ich sie gerne hoch ins Bett getragen. Leicht, wie sie war und zart, wie sie sich anfühlte, so friedlich wie sie schlief.

....

Wie ich wieder hinauf ins Bad gehe und am Schlafzimmer vorbei komme, muss ich innerlich lachen. Lilou liegt nackt auf dem Bett, die Beine hängen schlaff am Bettrand runter, den Kopf seitlich gelegt, tief und gleichmäßig atmend. Tatsächlich! Sie ist wieder eingeschlafen. Ein Bild, das die ganze Anstrengung und Kraft, die ihr Zustand kostet, zeigt.

Ich hebe ihre Beine hoch, drehe sie aufs Bett und decke sie liebevoll mit dem Bettlaken zu.

Ich lösche schnell das Licht, denn der Teekessel pfeift, als würde er den Jazz im Radio volle Paroli bieten wollen. So stürze ich mich die Treppe herunter, gieße den Tee auf, stiefele wieder nach oben, um den Tee auf Lilou’s Nachttisch zu stellen. Vorsichtig, wie in Zeitlupe, versuche ich, mir eine Position im Bett zu suchen, damit ich Lilou nicht störe oder gar aufwecke.

....

Lilou braucht zum Schlafen nicht wirklich viel Platz. In den fünf Monaten, in denen wir uns jeweils am Wochenende trafen, schlief sie oft auf meinem kleinen Sofa. Sie kauerte sich zusammen, wickelte die Decke um sich, knuffte sich ein Kissen zurecht und schlief friedlich ein.

Als ich mich beschwerte und sie bat, sie solle doch lieber im Bett schlafen und ich auf der Couch, lächelte sie nur liebevoll und meinte, sie tut das für mich um in meiner Nähe zu sein und außerdem ist es ihr so, sehr angenehm.

Nach unserer Hochzeit wurde das ganz anders. Sie gewöhnte es sich an, in meinen Armen einzuschlafen, teilweise lag sie sogar halb auf mir. Manchmal wirkte das wie eine Schlange, die ihre Beute erstickt. Wenn es mir auch dadurch oft sehr schwerfiel einzuschlafen, liebte ich ihre Nähe ungemein, ihren Duft, ihren Herzschlag, ihre Impulse und das Gefühl, das sie mir dadurch vermittelte, sich sicher zu fühlen. Wir waren wie eine unzertrennliche Einheit.

Es gab wirklich nicht einen einzigen Tag in unserer gemeinsamen Ehe, wo wir nicht zusammen ins Bett gingen. Also gab ich mich mit dem wenigen Platz, den ich dadurch letztlich hatte zufrieden und genoss unsere Zweisamkeit.

Es erfüllte uns eben, trotz der Arbeit im Café und den Arbeiten an der Villa, dass wir sehr oft zusammen waren. Lilou begleitete mich auch immer auf notwendige Geschäftsreisen.

Oft gab es witzige oder unangenehme Situationen, an die wir uns aber schnell gewöhnten. Wir wussten sie zu nehmen, beziehungsweise wussten wir, wie wir zu reagieren hatten, oder vermieden gleich Situationen, die unangenehm hätten werden können.

Am schwierigsten war es in den Hotels! Wir wurden oft als Vater und Tochter bezeichnet, sie wurden nervös und fragten uns, ob wir lieber ein Zimmer mit zwei Einzelbetten wollten oder besser zwei Einzelzimmer. Wir vermieden es, so gut es ging, in Hotels zu übernachten. Auch Passanten schauten oft verwundert hinterher, schüttelten mit dem Kopf, gaben ungeniert ihr Unverständnis zur Kenntnis oder waren einfach nur perplex, wenn Lilou ihre Freude zum Ausdruck brachte und mich in aller Öffentlichkeit küsste.

Einmal wurde ich privat bei einem Geschäftsfreund eingeladen. Ich glaube, es war in Hamburg. Er wusste nicht, dass Lilou mit kam und so hatte er für mich nur ein Sofa zum Schlafen vorbereitet. Als er dann Lilou sah, wusste er nicht, wo sie schlafen sollte. Ich erklärte ihm, dass wir es uns schon auf dem Sofa gemütlich machen würden. Er schaute uns mit großen Augen an und versicherte sich bei Lilou, ob es ihr wirklich recht sei. Lilou musste herzlich lachen.

Für uns war das eine sehr schöne Nacht. Wir gingen wie gewöhnlich erst spät schlafen. Jeder legte sich auf seine Seite des Sofas, so dass jeweils der andere, die Füße des anderen im »Gesicht« hatte. Lilou war richtig aufgedreht und wir chatteten wie zu unseren besten Zeiten, als wir uns kennenlernten. Dabei liebkosten wir unsere Füße, redeten über uns, unsere Villa, unser Café und unser Lieblingsthema Familie.

Wir hatten einfach kein Auge zu bekommen. Immer wieder kamen neue Gedanken, neue Gefühle, neue Ideen und Emotionen. Mal krabbelte Lilou auf mir rum, um mich zu küssen, ein anderes Mal biss sie mir in den großen Zeh. Mal kitzelte ich sie an den Füßen und mal balgten wir uns wie kleine Kinder. Dann chatteten wir weiter. Schrieben und schrieben und schrieben. Und plötzlich schien es hell zu werden und wir gingen in unseren Schlafsachen auf den Balkon, um den neuen Tag willkommen zu heißen. Lilou machte uns einen starken Kaffee und wir genossen die kühle frische Morgenluft eng umschlungen. Ich lauschte dem Treiben der Großstadt, das aufgeweckte Kreischen der Möwen, Lilou’s Nähe und die Seeluft.

Angestachelt durch diese Atmosphäre nötigte mich Lilou, sofort zum Hafen zu gehen. So hatten wir uns morgens um fünf Uhr angezogen und liefen runter zum Hafen, um einen sagenhaften malerischen Sonnenaufgang zu erleben. Wir standen am Kai und alles um uns herum wurde orangerot getaucht. Die Schiffe an den Landungsbrücken wirkten wie Schatten. Einfach atemberaubend.

Ich umschlang Lilou von hinten. Sie legte ihren Kopf an meine Brust. Wir gaben uns ganz dieser Stimmung hin, nahmen die salzige Meeresbrise auf und wehten uns weit weg, mitten auf den Ozeanen dieser Welt, losgelöst von allen sozial-moralischen Normen.

Ich sagte ihr, wie glücklich ich hier mit ihr bin, dass es nichts Schöneres gab, als mit ihr zusammen zu sein. Wir beide hatten deutlich Tränen in den Augen. So sehr nahm uns dieser Moment mit.

Als wir wieder bei unserem Geschäftsfreund waren, kuschelten wir uns zufrieden aber müde aufs Sofa und schliefen friedlich ein. Wir waren in der Tat, ein in jeder Hinsicht, außergewöhnliches Paar.

Lilou Charlou

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