Читать книгу Das war's. Letzte Worte mit Charles Bukowski - Gundolf S. Freyermuth - Страница 5
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Am offenen Sarg.
- Prolog -
“Der Tod löscht alles außer der Wahrheit;
er raubt einem Mann alles außer Genie und Tugend.
Er ist eine Art natürlicher Kanonisierung.
Er macht die Gemeinsten von uns heilig -
er setzt den Dichter in seine Unsterblichkeit ein,
und erhebt ihn in die Himmel.”
William Hazlitt
(über Lord Byrons Tod)
“Was wirklich passiert ist, ist egal.
Was ich schreibe, ist wirklich passiert.
Und rate mal, was? Ich bin immer der Held.”
Charles Bukowski
“Charles Bukowski, der schreibfreudige Schriftsteller und Poeta laureatus des Schattenlebens von Los Angeles, dessen grobgehauene autobiographische Gedichte, Kurzgeschichten und Romane seine schwer beschädigte alkoholische Jugend nacherzählten, starb am Mittwoch. Er war dreiundsiebzig Jahre alt.” Das meldete die “Los Angeles Times” am 10. März 1994.
Drei Tage später, an einem Sonntagabend, sagte Linda Lee Bukowski: “Laßt uns Hank besuchen gehen.”
Kurz vor neun Uhr rollten zwei Wagen, ein beiger Jaguar und ein silbergrauer Toyota, die weite Auffahrt vor dem Green Hills Memorial Park in Palos Verdes hinauf. Drei Männer um die fünfzig, Freunde des Toten, begleiteten Linda Bukowski: Dick Ellis, ein Arzt und begeisterter Geschichtenerzähler, den Bukowski erst im Krankenhaus kennen- und schätzenlernte; Michael Montfort, sein Leib- und Lieblingsfotograf; Carl Weissner, Bukowskis deutscher Agent und Übersetzer.
Die Sonne war schon eine Weile untergegangen, und die Luft hatte schnell abgekühlt. Der Friedhof liegt inmitten einer ruhigen Wohngegend auf grünen Hügeln. Von ihnen fällt der Blick frei hinunter ins Tal, auf Downtown San Pedro und die Kräne und Tanks des Hafens. Die Leichenhalle, ein einstöckiges Gebäude im Landhausstil, leuchtete neonhell in die Nacht.
In der Empfangshalle dämpften dicke Teppiche jeden Schall. Die elegante Dame an der Rezeption rief nach einem Führer, der die kleine Gruppe zu den Räumen geleiten sollte, in denen die Toten ruhen.
Während Linda Bukowski wartete, fielen ihre Augen auf die Tür zu dem großen Verkaufsraum. Vor ein paar Tagen hatte sie ihn zum erstenmal betreten. Als erstes hatte sie ein massiver Messingsarg für fünfunddreißigtausend Dollar angestarrt. Ganze vier Stück waren davon in den vergangenen zehn Jahren verkauft worden, allesamt an Asiaten. Linda Bukowski hatte aus dem reichhaltigen Angebot ein Exemplar aus Pappelholz gewählt.
“Das Holz ist seidenglatt”, sagt sie. “Und die Maserung ist so ... wunderschön. Aber nicht protzig. Schlicht und genau richtig für Hank.”
Der Weg zu den “Besuchsräumen” führte Linda Bukowski und ihre Begleiter an zahlreichen Türen vorbei. Die erste zur linken Hand stand offen. In ihr war ein Sarg zu sehen. Um den Toten herum hatte sich eine mexikanische Großfamilie versammelt, ein Dutzend Menschen aller Altersgruppen. Aus verborgenen Lautsprechern rieselte klassische Musik und verschluckte die Worte der Trauernden. Ein paar Türen weiter hockten zwei ältere Damen auf einer Couch und starrten stumm auf den offenen Sarg vor ihnen.
“Alles war sehr ruhig”, sagt Linda Bukowski, “ruhig und voller Frieden.”
Ganz am Ende des Ganges wartete eine geschlossene Tür.
“Ich weiß nicht mehr, was in meinem Kopf vorging”, sagt Michael Montfort, “aber ich habe irgendwie nicht damit gerechnet, wie schnell wir Hank ...”
Der Raum hinter der Tür war groß, entschieden größer als die anderen Zimmer, und er war so gut wie leer. Zwei Couchen, ein paar Sessel und zwei kleine Tischchen mit Blumengestecken verloren sich unter der hohen, bis unters Dach reichenden Decke. Das gedämpfte Licht konzentrierte sich auf eine Ecke am linken Ende des Raumes.
“Und da lag Hank”, sagt Linda Bukowski. “Ich war schon einmal vorher dagewesen, ich wußte, was auf mich zukam.”
Ein paar Schritte hinter ihr ging Michael Montfort. Linda Bukowski konnte seine Anspannung und seinen Widerwillen spüren.
“Oh, mein Gott ...”, sagte Michael Montfort, als er über ihre Schulter die Leiche seines Freundes sah. Sichtlich erschüttert ließ er sich in eins der Sofas fallen.
Seine Realität war eine andere als die, in der Linda Bukowski wahrnahm und fühlte. Was Michael Montfort gesehen hatte und immer noch sah, war beschädigter und schäbiger, billiger und trauriger. Denn mehr als mit dem Leben und Sterben des Dichters hatte die Welt, in der Montfort an diesem Abend litt, mit dem Leben und Sterben in Charles Bukowskis Kurzgeschichten zu tun.
In dieser Wirklichkeit war die Leichenhalle ein halbindustrieller Bau. Die langen Korridore im Innern ähnelten denen von Krankenhäusern. Allein der antiseptische Geruch fehlte, Beiwerk des hier aufgegebenen Kampfes gegen Krankheit und Tod. Ein Watteteppich aus Muzak verschluckte die leisen Geräusche und ließ lediglich hie und da ein Lachen oder Schluchzen über die Gänge hallen. Die Türen zu den Zimmern links und rechts standen offen. In jeder von ihnen war ein offener Sarg zu sehen; weiße, braune, schwarze. Sie ruhten auf dünnbeinigen Gestellen, und ihre Oberteile waren aufgeklappt. Um die Toten herum hatten sich Angehörige versammelt. Mehr Spanisch als Englisch war zu hören. Pizzapackungen und Pepsibüchsen standen herum. Musik spielte aus tragbaren Hifi-Anlagen. Toasts auf die Toten wurden ausgesprochen. Die meisten in den Trauergemeinden schienen in einer Art gehobener Partystimmung. Und am Ende des Alptraums lag Hank im offenen Sarg.
“Den hatten sie präpariert”, sagt Michael Montfort. “Er hatte volle Backen und lächelte. Freundlicher, als er je in seinem Leben gelächelt hat.”
“Seine Backen waren nicht voll”, sagt Linda Bukowski. “Und er lächelte nicht. Sie hatten Hank sehr unauffällig zurecht gemacht. Ohne ihn mit einem Haufen verrückten Make-up vollzuschmieren.”
Das vernarbte und verwitterte Gesicht, von dem eine Bewunderin meinte, es nähme sich gut am Mount Rushmore aus, neben Lincoln, Jefferson, Washington und Roosevelt, war sauber rasiert. Der Tote trug seine Lieblingkleidung: ein helles Hemd und einen Windbreaker. In der Brusttasche des Hemdes war sein Federhalteretui; ein Schreibstift ragte heraus. In der Tasche seiner Hose steckten sein Kamm - und ein Liebesbrief, den ihm seine Frau geschrieben hatte. Charles Bukowski war angezogen, um auf die Rennbahn zu gehen und dort wie eh und je in der halben Stunde zwischen den Starts seine Wetten abzugeben.
“Ich frage mich oft”, sagte er vor ein paar Jahren, “ob ich mich auf meinem Sterbebett (falls ich Glück habe, sterbe ich in einem) nach der dreißigminütigen Pause sehnen werde, diesem Warten zwischen den Rennen.”
“Komm, Michael!” hörte Michael Montfort Lindas Stimme, fest und bestimmt. Die schmale, feingliedrige Frau stand neben dem Toten: “Sei ein Mann. Faß ihn an!”
“Ich glaube, Michael ist einfach ausgerastet. Er ist ein solcher Hank-Freak! Er pflegt die Bukowski-Mythologie. Und in ihr wird alles ein bißchen übertrieben ...”, sagt Linda Bukowski. “Ich sah, wie Michael Hank betrachtete, und sprach leise und beruhigend auf ihn ein; daß alles in Ordnung sei, daß er sich entspannen solle, daß er Hank anfassen könne ...”
“Ich habe also seine Finger genommen, und die waren hart, hart wie kalter Zement”, sagt Michael Montfort. “Die drei anderen umarmten sich und standen stumm vor Hank. Ich bin raus und habe erstmal eine geraucht.”
“Ich hatte Hank an dem Abend einen zweiten Schreiber mitgebracht”, sagt Linda Bukowski. “Denn Hank ging nie mit nur einem Stift auf die Rennbahn. Er mußte immer zwei haben. Falls einer versagen würde.”
Linda Bukowski steckte den zweiten Stift in die Brusttasche des Toten. Dann streichelte sie seine Stirn.
“Alles fühlte sich kalt an. Nur die Augenbrauen waren noch die von Hank. Diese großen buschigen Augenbrauen, vor allem die linke. Deren Haare waren widerspenstig. Ich schob sie also wieder in Ordnung, wie ich es immer getan habe ... Alles andere aber war kalt und hart, obwohl sich die Haut bewegen ließ. Ich wußte, da war nichts mehr in dieser Hülle. Es war entsetzlich. Da war nur noch die Hülle.”