Читать книгу Das Kalifornien-Lesebuch - Gunhild Hexamer - Страница 11

Make Love, not War – die Hippie-Zeit in San Francisco

Оглавление

„If you are going to San Francisco, be sure to wear some flowers in your hair“, trällerte ich zum x-ten Male leise vor mich hin, während der Bus Meile um Meile nach Westen schnurrte. Meinem Kumpel, der neben mir saß, war inzwischen deutlich anzusehen, dass er statt meiner Stimme lieber die von Scott McKenzie gehörte hätte, aber ich ließ mir von ihm nicht die Vorfreude verderben. Gerade als ich zu der Stelle gelangte, „All across the nation, such a strange vibration“, nahm der Bus das Stichwort auf und begann tatsächlich, seltsame Vibrations von sich zu geben. Erschöpft schnaufend bewegte er sich noch einige Meter vorwärts, dann ruckte er kurz und blieb schließlich stehen. Wir hatten eine Panne.

Dem Fahrer gelang es, einen Pannendienst zu rufen, was damals in den Achtzigern, als es noch keine Handys gab, einige Zeit in Anspruch nahm. Zumal wir in der Pampa gelandet waren, irgendwo westlich des Yosemite Valley. Die Reisenden stiegen alle aus und vertraten sich am Straßenrand die Beine. Ich tat das Gleiche, und da die Gegend nicht zu Besichtigungen oder sonstigen Aktivitäten einlud, hing ich dabei meinen Gedanken nach.

Sehnsuchtsziel San Francisco – wann hatte das angefangen? Natürlich war auch Los Angeles ein begehrtes Ziel an der Westküste, aber aus anderen Gründen. Von L. A. träumten die Leute vor allem wegen der Filmindustrie und all dem Glanz und Glamour, der damit verbunden war. Von San Francisco dagegen träumte man, wenn man entweder schwul war oder sich eine sanftere Welt voller Liebe vorstellte, was beides auch gleichzeitig zutreffen konnte.

Als ich mit dem Bus gen San Francisco rollte – wenn sich auch gerade in diesem Moment kein Rad bewegte –, war die hohe Zeit der Flower Power schon eine Weile vorbei. Dennoch löste die Vorstellungswelt der Blumenkinder bei jungen Leuten auf allen Kontinenten immer noch Sehnsucht aus, so wie bei mir.

Ich dachte an den legendären „Summer of Love“ im Jahr 1967, als Tausende von jungen Leuten nach San Francisco strömten, vor allem in den Stadtteil Haight-Ashbury, der seinen Namen der Kreuzung von Haight Street und Ashbury Street verdankt. Dort sammelten sich in jenem Sommer all diejenigen, die vom „Establishment“ die Nase voll hatten. Aus gutem Grund, denn der Vietnamkrieg war seit Jahren in vollem Gange. US-Präsident Lyndon B. Johnson hatte verkündet, er wolle die Kommunisten das Fürchten lehren, und verheizte bedenkenlos die jungen amerikanischen Soldaten – von den immensen Verlusten auf Feindesseite ganz zu schweigen –, während die US-Rüstungsindustrie ertragreiche Zeiten feierte.

Auf diesem Nährboden entstand der Spruch der Antikriegsbewegung: „Make love, not war!“ Der amerikanische Sozialkritiker George A. Legman behauptete, er habe den Spruch geprägt, aber ob das nun stimmt oder nicht, ist für die Wirkung nicht von Bedeutung.

Ja, mit der Liebe hatten es die jungen Protestler ohnehin, nicht nur als Gegenmittel gegen den Krieg. Genauer gesagt, sie hatten es mit Sex, denn der durfte offiziell nur im engen Korsett gesellschaftlicher und moralischer Regeln stattfinden. Die neue Zeit dagegen rief die freie Liebe aus. Dass diese so unbeschwert praktiziert werden konnte, lag auch daran, dass seit einigen Jahren die Antibabypille speziell den Frauen zu einem Genuss ohne Reue verhalf.

Blumen im Haar

Ich stellte mir vor, wie Gruppen von langhaarigen Hippies, zumeist College-Studenten, auf den Wiesen der Parks in San Francisco lagerten, umwabert von den krautig-würzigen Rauchwolken ihrer Joints. Mit auf diese Weise erweitertem Bewusstsein brachten sie in heißen Diskussionen alles auf den Prüfstand, was Gesellschaft, Staat und Kirchen ihnen bisher vorgegeben hatten. Ganz neue Ideen blitzten auf, nichts sollte so bleiben, wie es war!

Das Wort „Hippie“ leitete sich von „hip“ ab, und „hip“ war und ist noch heute, wer sich modern und zeitgemäß gibt und irgendwie cooler ist als der langweilige Rest der Gesellschaft. Zum Zeichen für ihre von Frieden und Liebe geprägte Gesinnung schmückten die Hippies sich mit Blumen, was ihnen bald die Bezeichnung Blumenkinder einbrachte.

Vorausgegangen war dem „Summer of Love“ das „Human Be-in“ am 14. Januar desselben Jahres im Golden Gate Park, besucht vor allem von den Studenten der Universitäten und Colleges von San Francisco und Berkeley. Die Studenten waren desillusioniert und wandten sich gegen eine Gesellschaft, die sie von Konsumwahn, seelenlosem Leistungsdenken und einer verlogenen Moral gekennzeichnet sahen.

Warum eigentlich ausgerechnet San Francisco? „Diese Stadt ist so stockkonservativ, einen besseren Kontrast für unsere Ideen hätten wir uns doch gar nicht wünschen können“, brachte es einer der Hippies auf den Punkt, als er auf der Straße interviewt wurde.

Ausgehend von den Parks und Straßen in Haight-Ashbury gelangten Ideen zur Verbreitung, die für uns heute selbstverständlich und Teil des Mainstreams geworden sind. Die Hippies kündigten das Zeitalter des Wassermanns an und propagierten neben der freien Liebe die Auflösung festgefügter Geschlechterrollen. Sie setzten den bestehenden Dresscode außer Kraft, ließen sich, Männer wie Frauen, die Haare wachsen und kleideten sich in bunte Schlabbergewänder. Sie wandten sich fernöstlichen Philosophien und der Esoterik zu, gründeten Landkommunen und ernährten sich mit Biolebensmitteln. Die Ideen waren nicht unbedingt neu, aber die Blumenkinder machten sie erst populär.

Die Hippie-Bewegung brachte eine nie dagewesene kulturelle Vielfalt in die Gesellschaft und hatte großen Einfluss auf Literatur, Musik, Kunst, Film und Mode. Die Hymnen der Bewegung, eben jener Ohrwurm von Scott McKenzie und „All you need is love“ von den Beatles, gingen um die ganze Welt und besetzten monatelang die ersten Plätze in den Charts.

Leider war ich in der Zeit, als sich auf der anderen Seite der Erdkugel so unerhört spannende Dinge ereigneten, noch ein kleines Mädchen, das mit seinem Roller auf einer kleinen Dorfstraße auf und ab fuhr. Wäre ich die entscheidenden Jahre älter gewesen, hätte ich einen alten VW Bulli ganz kultig in psychedelischen Farben angemalt und wäre mit ihm auf der Route 66 quer durch Amerika gereist. Mit zerrissenen Jeans und einem schreiend bunten Batik-T-Shirt, mit Jesuslatschen an den Füßen und Blumen im Haar.

Nur von den Drogen hätte ich die Finger gelassen, denn die waren mir unheimlich. Als die Hippie-Bewegung über den Ozean auch zu uns schwappte, klärte man uns in der Schule umfassend über Drogen auf. Die Bilder von halbtoten Drogenkranken und schmuddeligen Spritzen schockten mich so, dass ich nachhaltig abgeschreckt wurde.

Das Ende des Sommers

Eine zielgerichtete Bewegung um mich herum ließ mich aus meinen Träumen wieder auftauchen. „Steig ein, wenn du nicht hierbleiben willst!“, rief mein Kumpel mir zu und verschwand im Bus.

Der Pannendienst hatte den Motor wieder zusammengeflickt, wir konnten weiterfahren. Ich schaute auf die Uhr und seufzte ein wenig. Die Zwangspause hier auf der öden Landstraße hatte mir fast zwei Stunden meiner kostbaren Zeit geklaut. Viel Zeit für San Francisco blieb da nicht, denn der Sommer ging zu Ende, und schon morgen würde ich wieder zurück nach Europa fliegen, um ganz brav und mit Hilfe von Papis monatlichen Überweisungen mein Studium fortzusetzen.

Auch in Haight-Ashbury im Jahr 1967 wurden die Tage immer kürzer, und der lange Sommer, den die Hippies wie einen Rausch erlebt hatten, musste dem Herbst weichen. Der Stadtteil war dem überraschenden Ansturm einer kompletten Protestgeneration nicht gewachsen und sah inzwischen aus wie das Gelände eines großen Open-Air-Festivals – nach dem Fest und bevor die Aufräumkommandos und Reinigungskräfte anrücken. Hunger, Drogenprobleme, Krankheiten und Kriminalität breiteten sich in der Gegend aus.

Die meisten der Blumenkinder gingen wieder zurück ans College. Diejenigen, die noch blieben, veranstalteten am 6. Oktober eine Scheinbeerdigung. Unter dem Motto „Der Tod des Hippies“ trugen sie die Szene in Haight-Ashbury symbolisch zu Grabe.

„Wir wollten deutlich machen, dass hier etwas zu Ende gegangen ist“, erklärte die Organisatorin Mary Kasper, „und eine Botschaft an Gleichgesinnte in der ganzen Welt richten: Kommt nicht mehr hierher, bleibt, wo ihr seid, und bringt die Revolution zu euch nach Hause.“

Und wer in jenem Sommer versäumt hatte, herzukommen, konnte sich von den Songs des Musicals „Hair“, das im Oktober desselben Jahres Off-Broadway startete, in die Stimmung von „Love and Peace“ versetzen lassen. „Hair“ ist quasi die Oper gewordene Hippie-Zeit und vereinigt all die großen Themen, die die junge Generation damals bewegten.

Auch die anpassungsfähige Geschäftswelt bemächtigte sich der Hippie-Bewegung und kommerzialisierte erfolgreich Schlabberröcke, Batiktücher und sonstiges Zubehör. Viele Hippies der ersten Stunde fühlten sich davon abgestoßen, waren sie doch genau gegen diese kapitalistische Durchdringung aller Bereiche von Kultur und Gesellschaft angetreten.

Nachdem es von den Blumenkindern völlig überrannt worden war, erlebte Haight-Ashbury zunächst einen Niedergang, erholte sich jedoch wieder und profitiert heute von seinem Ruf als ehemaliges Epizentrum der Hippiebewegung. Wer nach Accessoires aus den Sechzigern sucht, wird hier immer noch fündig werden, ganz gleich, ob es sich um Kleidung und Schmuck, Schallplatten, Bücher oder Poster, Buddha-Figuren oder Räucherstäbchen handelt.

In den Cafés kann man tagsüber entspannt die Zeit verbummeln, um anschließend in den ausgefallensten Bars und Clubs die Nacht zum Tag zu machen. Auch den vielen Obdachlosen gefällt es in Haight-Ashbury nach wie vor. Sie hängen im angrenzenden Golden Gate Park herum, doch nicht wenige machen den Eindruck, als sei ihnen die Bewusstseinserweiterung nicht gut bekommen.

Als sich Vorfreude und Spannung bei mir gerade wieder in der Aufwärtskurve befanden, fing der Bus von Neuem an zu ruckeln und zu husten. Nach einem letzten ärgerlichen Knurren rollte er aus und blieb stehen. Wieder rief der Fahrer den Pannendienst, wieder lungerten wir auf einer Landstraße herum, völlig abhängig davon, dass es diesem altersschwachen Vehikel doch noch gelingen würde, uns zurück in die Zivilisation zu bringen.

Überraschenderweise tat es genau das. Als wir endlich in San Francisco ankamen, checkten wir schnell in einem Billighotel ein und starteten ein Besichtigungsprogramm unter dem Motto „San Francisco im Schnelldurchlauf“. Aus dem bisschen Tag und der anschließenden Nacht versuchten wir herauszuholen, was eben ging: Fahren mit der berühmten Cable-Car-Straßenbahn, Dinner bei Fisherman‘s Wharf, ein Blick auf die Golden Gate Bridge – an mehr kann ich mich, ehrlich gesagt, nicht mehr erinnern, es ging einfach alles viel zu schnell. Kein Gedanke mehr an Blumen im Haar, von einem Möchtegern-Hippie hatte ich mich in eine gehetzte Touristin verwandelt.

Als ich fast dreißig Jahre später wieder nach San Francisco kam, holte ich das Versäumte nach. Im Golden Gate Park pflückte ich ein orange-gelbes Blümchen am Wegrand, steckte es mir ins Haar, streckte Zeige- und Mittelfinger nach vorne und röhrte: „Love and peace!“

Voll peinlich, diese Alt-Hippies.

Das Kalifornien-Lesebuch

Подняться наверх