Читать книгу Das Kalifornien-Lesebuch - Gunhild Hexamer - Страница 5
Die Königin des Goldenen Tors – der Bau der Golden Gate Bridge
ОглавлениеKeine wird mehr bewundert. Auf keine werden so oft die Objektive der Kameras gerichtet. Sie ist die Königin!
Zu ihrem strahlend roten Gewand trägt sie gerne einen Schleier aus feinster weißer Nebelwatte. Aber heute nicht. Heute zeigt sie ihr Antlitz unverhüllt.
Verzaubert von ihrer Schönheit und Eleganz bin ich hinter ihr her wie ein Paparazzo.
Als wir von Norden her über die US 101 in Richtung San Francisco rollen, schiebt sich vor uns in der Ferne der erste der roten Brückenpfeiler in den Himmel. Sofort bringe ich meine Kamera hinter der Windschutzscheibe in Position. Meine „Drive-through“-Audienz mit der Golden Gate Bridge, der großen alten Dame Kaliforniens, beginnt.
Viel zu bald kommt hinter dem ersten der zweite Brückenpfeiler in Sicht, noch weit entfernt und schemenhaft im Morgendunst, dann immer größer und klarer – und schon haben wir die Brücke überquert. Majestät hat uns ein huldvolles Lächeln geschenkt.
Doch der Paparazzo in mir ist noch nicht zufrieden. Hinter der Mautstation biegen wir rechts ab und fahren ein paar hundert Meter die Küste entlang, bis wir zu einem Parkplatz kommen. Hier sind die Überreste der alten Verteidigungsanlagen zu sehen, die „Batteries“. Aber wen interessieren alte Geschützstände, wenn sich die Golden Gate Bridge in Fotoschussweite über die türkisblauen Wellen des Goldenen Tors schwingt, der Einfahrt zur San Francisco Bay? Meine Kamera und ich beginnen augenblicklich damit, das hinreißende Motiv einzufangen.
Auf dem Rückweg zum Auto lenkt mich etwas ab. In den alten Mauern da vor mir blitzt eine gläserne Tür im Sonnenlicht. Sie wirkt hier so merkwürdig unpassend. Ich ziehe die Tür auf, trete ein – und stehe in einer Aufzugskabine. Auf einer Metallplatte an der linken Wand sind dicke runde Aluminiumknöpfe angebracht. Sie tragen jedoch keine Zahlen für Stockwerke, sondern Jahreszahlen. Ich bin in einer Zeitmaschine gelandet!
Sie glauben mir nicht? Ich weiß, die Zeit lässt sich nicht austricksen. Aber stellen Sie sich diesen Aufzug doch einfach vor und begleiten Sie mich auf meiner Zeitreise. Ich verspreche Ihnen, wir werden viel Interessantes erleben.
Eine Brücke über das Goldene Tor? Unmöglich!
Ich drücke den untersten Knopf mit der Jahreszahl 1921. In rasender Fahrt geht es zurück in die Zeit. Als die Tür sich öffnet, platze ich mitten in eine Versammlung, in der gerade eine erregte Diskussion stattfindet.
„Mit Verlaub, diese Entwürfe sind klobig und hässlich“, ruft ein stämmiger Mann mit einem vollgekritzelten Block in der Hand, der ihn als Vertreter der Presse ausweist. Mit seinem angenagten Bleistift zielt er auf eine Reihe von Bauzeichnungen, die an einer Stellwand hängen. „Eine Schande für unsere Stadt!“
„Gott hat uns diese Bucht mit ihrer außerordentlichen Schönheit geschenkt“, lässt sich die sanfte Stimme eines Pfarrers vernehmen. „Kein Menschenwerk sollte das Gotteswerk verschandeln!“
„Wir brauchen sowieso keine Brücke!“, schnauzt ein aufgeregter Mann, auf dessen kahlem Kopf Schweißperlen glänzen. „Seit Jahrzehnten bringt unsere Fährgesellschaft die Leute von Sausalito nach San Francisco und zurück, schnell, sicher und kostengünstig.“
„Sie sagen es“, stimmt ihm ein anderer zu. „Eine Brücke wäre alles, nur nicht sicher und kostengünstig. Denken Sie doch nur mal an die Stürme, die wir hier haben. Welche Brücke kann solch heftigen Böen standhalten? Und mit den Kosten würde sich die ganze Gegend bis an unser aller Lebensende verschulden.“
„Strauss“, ruft einer der Anwesenden von weiter hinten und streckt anklagend seinen Zeigefinger aus, „haben Sie etwa das Erdbeben vergessen? Wenn so etwas wieder passiert, bricht Ihre Brücke zusammen wie ein Kartenhaus. Ich habe vor fünfzehn Jahren alles verloren und weiß, wovon ich spreche.“
Der Angesprochene mit Namen Strauss, ein kleiner Mann mit akkuratem Seitenscheitel, schätzungsweise Anfang fünfzig, hört sich die Argumente höflich an. Gleichzeitig wirkt er ein wenig abwesend, so als sehe er etwas, das den anderen verborgen bleibt.
„Leute, es geht doch hier um unsere Zukunft, um Fortschritt und Entwicklung!“, mischt sich eine mahnende Stimme ein. Sie gehört einem elegant gekleideten Mann mit dunklem Anzug und Weste. „Ich bin von der Ford Motor Company, und ich sage euch, das Automobil ist die Zukunft. Und dafür brauchen wir Straßen und Brücken. Aber nicht diese da“, seine abwinkende Handbewegung schickt die Bauzeichnungen an der Wand bereits in den Papierkorb. „Strauss, machen Sie Ihre Hausaufgaben!“
Joseph Baermann Strauss, geboren 1870, hatte Wirtschaft und Ingenieurwesen studiert und leitete nun seine eigene, sehr erfolgreiche Brückenbaufirma. Mit der Strauss Bascule Bridge Company in Chicago, die auf Klappbrücken spezialisiert war, baute er hunderte von Brücken im ganzen Land. Doch nebenbei schrieb er Gedichte. Und ohne diese träumerische Seite wäre er vermutlich nie in der Lage gewesen, so hartnäckig die Vision einer Brücke über das Golden Gate zu verfolgen.
Strauss‘ Leidenschaft für Brücken war während seiner College-Zeit in Cincinnati, Ohio, entfacht worden, als er wegen einer Verletzung eine Weile im Krankenhaus liegen musste. Von seinem Bett aus konnte er die imposante Hängebrücke sehen, die über den Ohio River hinüber nach Covington, Kentucky, führte. Dieser Anblick sollte seine weitere Laufbahn bestimmen.
Im Jahr 1917 traf Strauss auf einer Handelsmesse mit Michael O’Shaughnessy zusammen, dem Stadtingenieur von San Francisco. O’Shaugnessy hatte eine wichtige Aufgabe: Er war verantwortlich für den Wiederaufbau der Infrastruktur nach dem verheerenden Erdbeben von 1906. Viele der Überlebenden waren ins Marin County nördlich der Meerenge gezogen, arbeiteten aber weiterhin in der Stadt. Eine Brücke war jetzt notwendiger denn je.
„Strauss, gut, dass ich Sie treffe. Hören Sie, es geht um eine Brücke am Golden Gate. Können Sie für uns untersuchen, ob so ein Bauwerk machbar ist?“
Strauss nahm die Herausforderung an – die allerdings von einem ganz anderen Kaliber war als jede andere zuvor. Hier galt es eine ganze Meile zu überbrücken! Die ersten Entwürfe, die er 1921 vorlegte und die eine kombinierte Ausleger- und Hängebrücke vorsahen, wurden von Behörden und Öffentlichkeit einhellig abgelehnt.
Als die Versammlung sich zerstreut hat, höre ich, wie Strauss seufzt. Er weiß, dass noch ein mühsamer Weg vor ihm liegt.
„Machen Sie sich keine Sorgen, Mr. Strauss“, sage ich aufmunternd, „Ihre Brücke wird gebaut werden. Und mehr noch: Sie wird die schönste und berühmteste der ganzen Welt.“
Aber Strauss blickt durch mich hindurch, hat er mich nicht gehört? Ach, wie dumm von mir – ich stamme doch aus einer ganz anderen Zeit. Ich steige wieder in den Aufzug, und diesmal drücke ich den Knopf mit der Jahreszahl 1933.
Und sie wird doch gebaut
Der Lärm von Baumaschinen empfängt mich. Das vorher so idyllische Goldene Tor hat sich in eine Großbaustelle verwandelt, Heerscharen von Arbeitern wuseln herum. Und da ist auch der kleine Mann wieder. Er hat seinen Arm um die Schultern einer um vieles jüngeren Frau gelegt. Mit einer weit ausholenden Geste weist er oben von den Felsen hinüber zu der Meerenge. „Schau Liebes“, ruft er und versucht dabei, den Baulärm zu übertönen, „hier wird einmal meine Brücke stehen.“
Seine Frau schaut ihn bewundernd an. Toller Typ, sagt ihr Blick. „Das Betonfundament für den ersten Pylonen da drüben konnten wir schon gießen“, fährt Strauss fort, und es klingt, als habe er es eigenhändig auf das felsige Ufer gesetzt, „aber hier auf der südlichen Seite müssen wir einen Sockel mitten ins tiefe Meer bauen, so hoch wie ein zehnstöckiges Haus.“
Wie hat Strauss es geschafft, dass seine Vision Wirklichkeit werden konnte? Schließlich war doch sein erster Entwurf ein Reinfall gewesen. Doch statt aufzugeben, beriet er sich mit den besten Ingenieuren und Architekten seiner Zeit.
Sein klügster Schachzug war es, den Bauingenieur und Professor Charles Ellis in sein Team zu holen. Während Strauss unermüdlich in Politikerbüros ein und aus ging und einflussreiche Leute für seine Idee zu gewinnen suchte, führte Ellis die eigentliche Ingenieursarbeit durch.
Nach den Probebohrungen und Vermessungen vor Ort fuhr er zurück nach Chicago, zog sich in sein Büro zurück und begann zu rechnen, zwölf, vierzehn Stunden lang jeden Tag, bis ihm die Zahlen vor den Augen verschwammen. Seine Frau sagte, noch im Schlaf habe Ellis etwas von „Cosinus“ und „Sinus“ gemurmelt. Seine Werkzeuge: ein meterhoher Stapel Papier, eine Schachtel Bleistifte, ein runder Rechenschieber und eine handbetriebene Addiermaschine.
Und so nahm auf seinem Schreibtisch eine ganz neue, kühne Brückenkonstruktion Formen an, wie die Welt sie noch nicht gesehen hatte: 2,7 Kilometer lang, 27 Meter breit und 227 Meter hoch. Mit ihrer Spannweite von 1.280 Metern sollte die Golden Gate Bridge viele Jahre die längste Hängebrücke der Welt sein.
Und was sie alles leisten musste: heftigem Wind und hohen Wellen widerstehen, starken Strömungen standhalten und gelegentlich ein Erdbeben mittlerer Stärke wegstecken. Und zur Meeresoberfläche sollte auch bei Flut genug Abstand sein, dass die mächtigen Kriegsschiffe der US-Marine ohne Kollisionsgefahr hindurchfahren konnten.
Alles Teamwork
Die nächste Station auf meiner Zeitreise ist das Jahr 1937, genauer gesagt: der 28. Mai. Das große Werk ist vollbracht, die Golden Gate Bridge wird eröffnet! Ein bewegender Tag für San Francisco und die ganze Nation.
Schon am Tag zuvor war die Brücke für Fußgänger freigegeben worden, die diese Gelegenheit zu Tausenden nutzten. Und heute darf auch der Autoverkehr die neuen Fahrbahnen einweihen.
Ich sehe, wie eine Fahrzeugkolonne sich nähert. Hübsche, festlich gekleidete Frauen, die Festköniginnen, bilden eine Kette und stellen sich den anrollenden Autos in den Weg. Die Kolonne stoppt, und der Bürgermeister der Stadt und mehrere Amtsträger steigen aus. Darunter auch Joseph Strauss.
„Und nun, Mr. Strauss“, ruft eine der Damen, „übergeben Sie Ihre Brücke an den Highway District!“
Strauss, der auch mit Hut nicht größer ist als die Frauen vor ihm, ist inzwischen 67 Jahre alt, und die zwanzig Jahre, die er dieser Brücke gewidmet hat, haben ihn sichtlich mitgenommen. Seine Hände zittern, während er spricht.
„Diese Brücke braucht keine Loblieder und keine großen Reden“, beginnt er mit leiser Stimme, „sie spricht für sich selbst. Wir, die wir so lange und so hart gearbeitet haben, sind dankbar. Was die Natur vor langer Zeit getrennt hat, fügt der Mensch mit dieser Brücke wieder zusammen.“
Ach, wo steckt eigentlich Charles Ellis? Soweit ich weiß, hat er doch die endgültigen Pläne erstellt. Doch Strauss, der kleine Mann mit dem großen Ego, hat ihm diesen Ruhm nicht gegönnt. Kaum waren die Pläne von den Behörden genehmigt worden, schickte Strauss seinen leitenden Ingenieur in Urlaub. Kurz vor Ende dieses Urlaubs erfuhr Ellis, dass er nicht mehr wiederzukommen brauchte.
Anschließend ging Strauss sehr gründlich vor: Er entfernte Ellis‘ Namen aus allen Dokumenten, wie ein siegreicher Herrscher, der die Geschichtsbücher zu seinen eigenen Gunsten ändert. Und schon bald hätte jeder bei der Erwähnung des Namens erstaunt gefragt: Who the fuck is Ellis?
Tatsächlich ist die Brücke ein Ergebnis von Teamwork. Von ungezählten Bauarbeitern, Stahlarbeitern und Malern. Von den vielen Fachleuten, die ihr Wissen und ihre Ideen beigetragen haben, so zum Beispiel der Architekt Irving F. Morrow, der das äußere Aussehen der Brücke mitgestaltet hat. Das Art-déco-Design entstammt seiner Ideenkiste und ebenso die unverwechselbare Farbe, genannt „International Orange“.
Und ohne Amadeo P. Giannini, den Präsidenten der Bank of America in San Francisco, wäre die Brücke zu der Zeit überhaupt nicht gebaut worden. Denn während der Wirtschaftskrise, der „Großen Depression“, die auf den Börsencrash von 1929 folgte, hätte man jeden für verrückt erklärt, der Anleihen für ein solch gewaltiges Projekt zu kaufen wagte.
In dieser Situation kam Strauss in Gianninis Büro und bat ihn um Hilfe. „Wenn die Bank of America diese Anleihen nicht kauft, kann die Brücke nicht gebaut werden“, sagte er rundheraus.
Giannini nickte. „Ich verstehe. Was meinen Sie, wie lange wird Ihre Brücke halten?“
„Für immer!“, erwiderte Strauss mit Überzeugung.
„Kalifornien braucht diese Brücke“, sagte Giannini. „Wir werden die Anleihen kaufen.“
Jeder Autofahrer, der in den nachfolgenden Jahrzehnten die Brücke passierte, würde mit seiner Mautgebühr dazu beitragen, Tilgung und Zinsen des Kapitals in Höhe von 35 Millionen Dollar zu bezahlen.
Die letzte Anleihe wurde 1971 eingelöst, und seitdem dienen die Mauteinnahmen nur noch dazu, das durch Wind und Meer, Wetter und Verkehr strapazierte Bauwerk instand zu halten und die Stabilität noch weiter zu verbessern.
Übrigens gelang es Strauss nicht nur, seine Brücke in kürzerer Zeit, sondern auch zu geringeren Kosten zu bauen, als ursprünglich veranschlagt. Allein das war schon eine erstaunliche Leistung.
Ich steige wieder in meinen Aufzug, drücke den obersten Knopf und hoffe, dass die Zeitreisenautomatik intelligent ist und mich nicht in Raum und Zeit stranden lässt.
Da ist sie wieder, die Schöne, immer noch im freundlichen Licht der Morgensonne. Die Autos, die über die Fahrbahnen rollen, wirken unter den mächtigen Pylonen klein und nebensächlich. So als ginge es nicht um eine Verkehrsverbindung, sondern einzig und allein um das Kunstwerk, das die Meerenge des Goldenen Tores schmückt und sich in die Natur einpasst, als hätte es immer schon dazugehört.
Eine Brücke wie ein Versprechen. Auf die wunderbare Stadt San Francisco, auf den goldenen Westen Amerikas. Das, was die Freiheitsstatue auf der östlichen Seite des Kontinents für die Einwanderer symbolisiert, verspricht im Westen die Golden Gate Bridge: Freiheit und die Chance auf ein besseres Leben.