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1. Öffnung der Gesellschaft: Entstehung bürgerlicher Öffentlichkeiten

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Neue Wertehimmel und Gesellschaftsentwürfe brauchen eine Öffentlichkeit. Nur so finden sie Verbreitung, nur so können sie wirken. Das Bürgertum war sich dessen wohl bewusst. Und es schuf sich diese Öffentlichkeit und damit einen Ort der Artikulation von Erfahrungen und Erwartungen, der Kritik und Vergewisserung, der Konfliktaustragung und Verständigung. Die Vereine, oder wie die Zeitgenossen häufiger sagten, die „Assoziationen“ waren Schlüsselorte, an dem Bürgerlichkeit konstituiert, entwickelt und weitergegeben werden konnte.

Eigenarten bürgerlicher Vereine

Überall fanden sich Bürger zusammen, erfüllt von dem Bedürfnis gegenseitigen Austauschs. Sie gründeten Logen, Lesegesellschaften, Musik- und Kunstvereine, Natur-, Turn- und Nationalvereine, Schiller-, Dante- und Shakespearegesellschaften, politische Debattierklubs.

Fünf Merkmale kennzeichneten diese bürgerlichen Assoziationen:

 die Freiwilligkeit des Beitritts, des Bleibens oder auch Austritts – ein wesentlicher Unterschied zu den ständischen und korporativen Verbindungen des Ancien Régime,

 die selbstgewählten, in einer Satzung verankerten Ziele moralischer, politischer, künstlerischer oder sozialer Natur,

 die selbstgesetzten formalen Regeln, die u. a. über Aufnahmebedingungen und Mitgliederbeiträge bestimmten,

 die formale Gleichheit aller Mitglieder,

 die Bedeutung der Geselligkeit.

Das ganze lange 19. Jahrhundert hindurch blühte das Vereinsleben. Man konnte durchaus mehreren Vereinen angehören, viele Bürger taten dies. Fern von Staat, Markt und Familie vergewisserten sie sich im Kreise von Gleichgesinnten und Gleichgestimmten einer gemeinsamen Wertewelt. Diese Gesellschaften, Assoziationen und Vereine bildeten einen Grundbaustein für das, was Jürgen Habermas in seiner klassischen Studie „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ von 1962 in Absetzung zur sogenannten „repräsentativen Öffentlichkeit“ des Ancien Régimes die „bürgerliche Öffentlichkeit“ genannt hat.

Vereine als „Schulen der Bürgerlichkeit“

Auch wenn das Gros dieser Vereine in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vornehmlich der Kulturpflege diente, erfüllte das regelmäßige Zusammenkommen durchaus noch einen Zweck, der über die kulturelle Erbauung hinauswies: Allein durch ihre Organisationsform fungierten die Vereine als Schule der Bürgergesellschaft. Grundmuster der Mitbestimmung konnten hier im Kleinen ausprobiert, eine künftige liberale Gesellschaft antizipiert werden. Zunächst vor allem die Bürgermänner – Frauen wurden erst später geduldet – machten hier ihre ersten Erfahrungen mit demokratischen Praktiken: Sie diskutierten frei, gaben sich eigene Verfassungen in Form von Statuten, wählten neue Mitglieder, bildeten und besetzten Ämter und Ausschüsse, versuchten durch Reden zu überzeugen, beachteten Rituale, führten Protokoll, erstellten Jahresberichte und erfanden sich eine eigene Tradition, die regelmäßig gefeiert wurde. In diesen bürgerlich exklusiv zusammengesetzten, aber im Vergleich zu vormodernen Gesellschaften offeneren Sozietäten konnte das Ideal politischer Gleichheitsnormen einer künftigen Gesellschaft eingeübt werden, konnte, wie Margret Jacob es formuliert hat, die „Aufklärung gelebt“ werden.

Vier Phasen hat Philip Nord mit Blick auf die Vereinsentwicklung unterschieden:

 Mitte des 18. Jahrhunderts bis 1789: Entstehungsphase in der Hochzeit der europäische Aufklärung

 1820er Jahre bis zur Revolution von 1848/49: das „goldene Zeitalter“

 1860er/1870er Jahre: Liberalisierung, Nationalisierung und soziale Demokratisierung des Vereinswesens

 Phase bis zum Ersten Weltkrieg: weitere Pluralisierung und Ausdifferenzierung.

Zeitungen und Zeitschriften

Zeitgleich mit den Vereinen wuchs europaweit die Zahl von Periodika, Zeitschriften und Zeitungen. Sie gemeinsam zu lesen und zu diskutieren war ein wesentliches Anliegen bürgerlicher Vereinsgeselligkeit. Mit dem raschen Wachstum der Städte und dem Anstieg lesefähiger und -bereiter Bürgerinnen und Bürger entstand ein expandierendes Publikum. Schon vor 1850 war die Zahl der Pressetitel kontinuierlich gestiegen. 1824 kamen in Preußen 96 Zeitungen mit einer Gesamtauflage von 35.000 heraus, 1847 waren es 118 mit einer Gesamtauflage von 76. 000. 1850 erschienen 182 verschiedene Zeitungen. Blieb in den 1850er Jahren die Zahl der Zeitungen stabil, nahm sie seit den 1870er Jahren erneut zu. Auch die Gesamtauflagen der Zeitungen zogen weiter an, wobei der größte Anteil auf die Großstadtpresse und die Tageszeitungen entfiel.

Vor allem die häufig reich bebilderten Zeitschriften – 1914 gab es davon fast 6.500 – erlebten eine Hochphase. Den Löwenanteil verbuchten die beliebten „Familienzeitschriften“. Spitzenreiter war die von Ernst Keil (1816–1878) im Jahr 1853 aus der Taufe gehobene „Gartenlaube“. Bereits Mitte der 1870er Jahre erreichte sie Auflagen von knapp 400.000. Was in der Familienzeitschrift zu finden war, wovon sie sich eher distanzierte, beschrieb der Herausgeber in seinem programmatischen Prolog:

Q

Aufschwung der Zeitschriften

Prolog von Ernst Keil zur ersten Aufl. der Gartenlaube, 1853.

Wenn Ihr im Kreise Eurer Lieben die langen Winterabende am traulichen Ofen sitzt oder im Frühlinge, wenn vom Apfelbaume die weißen und rothen Blüten fallen, mit einigen Freunden in der schattigen Laube – dann leset unsre Schrift. Ein Blatt soll’s werden für’s Haus und für die Familie, ein Buch für Groß und Klein, für Jeden, dem ein warmes Herz an den Rippen pocht, der noch Lust hat am Guten und Edlen. Fern von aller raisonnirenden Politik und allem Meinungsstreit in Religions- und anderen Sachen, wollen wir Euch in wahrhaft guten Erzählungen einführen in die Geschichte des Menschenherzens und der Völker, in die Kämpfe menschlicher Leidenschaften und vergangener Zeiten. Dann wollen wir hinaus wandern an Hand eines kundigen Führers in die Werkstätten des menschlichen Wissens, in die freie Natur, zu den Sternen des Himmels, zu den Blumen des Gartens, in die Wälder und in die Eingeweide der Erde, und dann sollt Ihr hören von den schönen Geheimnissen der Natur, von dem künstlichen Bau des Menschen und seiner Organe, von allem, was da lebt und schwebt und kreucht und schleicht, ,was Ihr täglich seht und doch nicht kennt. … So wollen wir Euch unterhalten und unterhaltend belehren. Über das Ganze aber soll der Hauch der Poesie schweben, wie der Duft der blühenden Blume, und es soll Euch anheimeln in unsere Gartenlaube, in der Ihr gut-deutsche Gemüthlichkeit findet, die zu Herzen spricht.

Das Konzept ging auf, mit Vorliebe griff das Bürgertum zu dem Keilschen Blatt. Überholt wurde es in der Lesergunst später von der „Berliner Illustrirten Zeitung“, die 1908 eine Auflage von 800.000 Stück verzeichnen konnte.

Neben den Zeitschriften, die in den Bürgerfamilien von Hand zu Hand gingen, gewann nach der Jahrhundertmitte die Parteipresse an Gewicht. Für einen politischen Journalisten galt es jetzt nicht mehr als opportun, sich hinter einer scheinbaren „Unparteilichkeit“ zu verstecken. Hierzu war er lange Zeit im Deutschen Reich genötigt gewesen, um unter dem Druck der Zensur überhaupt bestehen zu können. Jetzt definierten professionell schreibende Bürger das Bekenntnis zu ihrer politischen Gesinnung als ihre Standesehre; „Unparteilichkeit“ geriet in der deutschen Presselandschaft zum Synonym für „Gesinnungslosigkeit“. Mit solcherart Presse erwuchs, wie Jörg Requate gezeigt hat, kein tendenziell unabhängiges Gegengewicht zu den Parteien und Verbänden, sondern ein Forum, auf dem die Parteien ihre Programme vertreten konnten.

Im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts stieg die Zahl der politischen Zeitungen enorm. In den 23 Jahren von 1824 bis 1847 war sie schon von 96 auf 118 gestiegen, bis 1850, beflügelt von der Revolution von 1848/49, schoss die Quote noch einmal rapide nach oben: 184 „politische Zeitungen“ verzeichnete die Preisliste des Berliner Zeitungsamtes. Für ganz Deutschland schätzt man die Zahl der Zeitungen im Jahr 1849 auf etwa 1.700.

Vielzahl und wachsende Vielfalt der Presse weiteten den öffentlichen Kommunikationsraum nicht nur kräftig aus, sondern führten auch zu seiner weiteren Ausdifferenzierung. Angesichts dessen haben Forscher in jüngerer Zeit, unter ihnen Nancy Fraser, Joan Landes, Mary Ryan und Geoff Eley, in Absetzung gegenüber dem ihnen zu homogenisierend erscheinenden Habermaschen Öffentlichkeitsbegriff, dafür plädiert, eher von Öffentlichkeit im Plural, von einer Fülle von „Teilöffentlichkeiten“ zu sprechen.

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