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1. Wurzeln und Entwicklungen: Ursprünge des Bürgertums
ОглавлениеBegriffsgeschichte
Die Wurzeln des europäischen Bürgerbegriffs reichen weit in die Geschichte zurück. Seiner sprachlichen Herkunft nach gehört „Bürger“ zu dem Wort „Burg“, das auch die Bezeichnung für „Stadt“ sein konnte. Schon im Althochdeutschen verstand man unter burgari, im Altenglischen burgware und im Mitteldeutschen burgaere die Bewohner einer Stadt. Für die deutsche Wortgeschichte blieb diese Ableitung bestimmend, während sich in den romanischen Ländern unter dem Einfluss der lateinischen Kultur und Sprache bereits im hohen Mittelalter zwei oder auch mehrere Bezeichnungen für „Bürger“ herausbildeten. So gesellte sich im Französischen im 11. und 12. Jahrhundert zu dem Wort bourgeois die Bezeichnung citoyen dazu, während der deutsche Sprachbereich bis heute nur das vieldeutig verwendete Wort „Bürger“ kennt. „Bürger“ meint im Deutschen sowohl den „Staatsbürger“ als auch den Angehörigen einer sozialen Formation.
Die sprachgeschichtliche Nähe des Begriffs zur Stadt, die den Bürgerbegriff im europäischen Kontext kennzeichnet, ergab sich aus seinem Ursprung im antiken Stadtstaat. Für Aristoteles bedeutete die polis die Vereinigung von Bürgern, die „bürgerliche Gesellschaft“. Doch nicht allein die Ansässigkeit in der Stadt, sondern auch die Teilhabe und Teilnahme an der dortigen Herrschaft machte den antiken Stadtbewohner zum Bürger. Eben dies unterschied ihn von den übrigen Einwohnern, den Sklaven, Bauern, Händlern und Tagelöhnern.
Unter dem Einfluss des Christentums erfuhr der Begriff „Bürger“ eine Ausweitung. Die im Neuen Testament verkündete Idee der Bürgerschaft aller Menschen im zukünftigen „Gottesstaat“, im Civitas Dei, fand, angestoßen von der gleichnamigen Schrift des frühchristlichen Kirchenlehrers Augustinus (354–430), weite Verbreitung. Neu war nun vor allem die Ankoppelung der „Arbeit“, der „geschäftige[n] Lebensführung“ an den Bürgerbegriff. Als Landbesitzer und Krieger hatten die antiken Bürger der Sphäre der Arbeit noch fremd, ja feindlich gegenübergestanden. Verächtlich schauten sie auf das Handwerk herab und überließen es Sklaven und anderen Unfreien. Dies sollte sich ändern: Die ausgewogene Balance zwischen Geschäftigkeit und Müßiggang wurde fortan ein wesentlicher Teil bürgerlicher Identität, wobei das Selbst als auch die Gemeinschaft gleichermaßen davon profitieren sollten.
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Ideal der Vereinbarkeit von Muße und Geschäftigkeit
aus: Augustinus: Vom Gottesstaat (um 410 n. Chr.), München 1977/1978, Bd. 2, 564f.
Was aber jene drei Arten der Lebensführung anlangt, die müßige, die geschäftige und die aus beiden zusammengesetzte, so kann man zwar unbeschadet des Glaubens auf jede dieser Weise sein Leben zubringen und den ewigen Lohn erlangen, doch muß jeder darauf achten, was er um der Liebe willen tun muß. Demnach darf niemand so müßig sein, daß er in seiner Muße das Wohl des Nächsten vergißt, aber auch nicht so geschäftig, daß er die geistliche Betrachtung versäumt. Bei der Muße soll nicht etwa träges Nichtstun locken, sondern das Erforschen und Auffinden der Wahrheit, und jeder darauf bedacht sein, in der Erkenntnis fortzuschreiten und, was er gefunden, auch dem Nächsten gönnen. Beim tätigen Leben aber ist nicht weltliche Ehre und Macht anzustreben – denn alles unter der Sonne ist eitel.
Herausbildung von Städten
Seit dem 11. Jahrhundert bildeten sich inmitten der grundherrlich-agrarisch geprägten Gesellschaft die Städte als genossenschaftliche Verbände „freier“ Bürger heraus. „Stadtluft macht frei“ – dieses geflügelte Wort erfanden rückblickende Historiker, um das vergleichsweise freiheitliche und selbstbestimmte Dasein städtischer Bürger vor dem Hintergrund einer in herrschaftlichen Zwängen befangenen Welt hervorleuchten zu lassen. Doch auch die Bürger mittelalterlicher Städte, wenngleich weitgehend unabhängig von adliger Herrschaft und Landbesitz, blieben Teil einer feudalen Welt und damit eingebunden in deren Regeln und Reglementierungen. Doch immerhin gehörte zu ihrem Selbstverständnis nun das Wissen um die Möglichkeiten politischer Teilhabe, das Gefühl, durch eine gemeinschaftlich beschlossene Rechtsordnung gegen Willkür geschützt zu sein, die Überzeugung, dass die Wahrnehmung verbriefter Rechte und Pflichten das Wohl der Gesamtheit gewährleistet. Überlieferungen zufolge haben Stadtbürger überall in Europa zwischen dem 13. und dem 17. Jahrhundert ihr Zustimmungs- und Kontrollrecht dem Rat gegenüber immer wieder eingefordert und durchgesetzt. Nichts Geringeres als Mitsprache und Rechtssicherheit stand auf dem Spiel; Gewalt und Bedrückung durch diejenigen, die wirklich das Sagen hatten, galt es im Zaum zu halten und abzuwehren.
Abseits von politischen Belangen sorgten die Bürger der mittelalterlichen Städte vor allem als Kaufleute und Handwerker für ihren Lebensunterhalt. Gewerbe und Handel gerieten jetzt zum Kernstück des bürgerlichen Lebens. Dieser Typus des mittelalterlichen Stadtbürgers unterschied sich zunächst einmal rechtlich sowohl von allen ländlichen Schichten, die sich aus Adligen, Bauern, Kleinbauern, Landhandwerkern und Heimgewerbetreibenden zusammensetzten als auch von der großen Masse der in den Städten lebenden Unterschichten wie dem Gesinde, den Arbeitern, den Handwerksgesellen, den Betreibern „unehrenhafter“ Gewerbe und den Armen. Die zumeist männlichen Inhaber des Bürgerrechts durften innerhalb der Stadtmauern einem selbstständigen Erwerb nachgehen, eine Familie gründen und einem Haushalt vorstehen, Handel betreiben, Ständevertretungen, Zünften und Vereinen beitreten, hatten in begrenztem, doch wachsendem Umfang Teil an der städtischen Selbstverwaltung, durften Wälder und Wiesen der städtischen Allmende nutzen und konnten im Fall der Armut und Hilflosigkeit mit Fürsorge durch die Gemeinde rechnen. Im Gegenzug hatten sie Steuern zu entrichten und sich einer eigenen Gerichtsbarkeit zu unterstellen.
Das Bürgerrecht war ein exklusives Recht. Es wurde durch Geburt erworben und konnte auf Antrag auch an Bewerber verliehen werden, wenn sie ein bestimmtes Vermögen und gewisse Leistungen aufbrachten. Prinzipiell stand auch Frauen dieses Recht zu – doch nur in sehr beschränktem Umfang. Erst als Witwe durfte eine Frau einen ererbten Handwerks- oder Handelsbetrieb in eigener Regie mit allen daran geknüpften Rechten und Pflichten führen, als Ehefrau besaß sie diese Befugnis hingegen nur indirekt, über ihren Mann vermittelt. Außerdem war es ihr verwehrt, über die inneren Geschicke des Gemeinwesens mitzubestimmen. Weibliche Amtsträger, Frauen als Ratsmitglieder oder auch Wählerinnen sucht man im 18. Jahrhundert vergebens.
So war es in der Regel nur eine größere Minderheit zwischen 10 und 30 Prozent innerhalb der gesamten städtischen Bewohnerschaft, die das volle Bürgerrecht für sich in Anspruch nehmen konnte. Dazu gehörten selbstständige Handwerksmeister, wohlhabende Kaufleute, Ladenbesitzer und Gastwirte, in den größeren Städten vor allem seit dem 15. und 16. Jahrhundert dann auch Ärzte, Juristen und Angehörige der protestantischen Geistlichkeit. Ungeachtet der einigenden Sonderstellung durchzog auch die Bürgerschaft eine hierarchische Ordnung, die im städtischen Alltags- und Festtagsleben ihren Ausdruck fand: in den strengen Kleiderordnungen, in der festen Sitzordnung in der Kirche, in den mehr oder minder pompösen Hochzeitsfeiern oder in der Länge des Glockengeläuts beim letzten Geleit.
Darüber hinaus entwickelten sich unter diesem Stadtbürgertum des Ancien Régime bereits Ansätze einer eigenständigen Kultur mit besonderen Normen und Lebensformen. Man schätzte die Arbeit, strebte nach Besitz, zeigte sich religionsverhaftet, bemühte sich um Sparsamkeit und Rechtschaffenheit, beharrte auf einer gestuften Gesellschaftsordnung und beanspruchte begrenzte politische Mitsprache. Diese mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Traditionen und Ideen der europäischen Bürgerstadt bildeten später eine wesentliche Voraussetzung für den Aufstieg des modernen Bürgertums. Ungeachtet dieser Vorreiterrolle zeigten sich Teile dieses alten Stadtbürgertums gegenüber Herausforderungen, die am Ende des 18. Jahrhunderts auf der Tagesordnung standen, als traditionsverhaftet und neuerungsfeindlich, auf ihre Privilegien pochend und um sie fürchtend. Man hatte sich hinter seinen Stadtmauern eingerichtet, der Alltag war von Not frei, wohlgeordnet und risikolos. Dies galt es zu bewahren.