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1. Liebe und Kalkül: Bürgerliche Familiengründungen

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Ideal der Liebesheirat

Zusammenfinden sollten Mann und Frau in der Ehe. Nicht als politische und ökonomische Herrschaftssicherung, wie sie der an geburtsständischen Privilegien und äußeren Konventionen orientierte europäische Adel noch bis ins 19. Jahrhundert hinein instrumentalisierte, sondern als eine von allen sachlichen Interessen freie emotionale Beziehung zwischen zwei Partnern sollte gemäß der bürgerlichen Eheauffassung der Bund fürs Leben geschlossen werden. Liebe, nichts als Liebe sollte den Ausschlag bei der Partnerwahl geben. So belehrt wurden die Bürgerinnen und Bürger in Zeitschriften, Gedichten und Romanen. Vor allem die Dichter der Romantik führten einen Federfeldzug gegen die berechnende Vernunftheirat und für die reine Neigungspartie. 1796 deklarierte der Philosoph Johann Gottlieb Fichte (1762–1814) in seinem Naturrecht die Ehe als Herzenssache:

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Liebesheirat

aus: Johann Gottlieb Fichte, Naturrecht, 2. Teil, Jena u. Leipzig 1796/97, § 15, S. 187.

Der Mann und die Frau sind innigst vereint. Ihre Verbindung ist eine Verbindung der Herzen und der Willen. … Sonach hat der Staat über das Verhältniß beider Ehegatten gegen einander gar keine Gesetze zu geben, weil ihr ganzes Verhältniß gar kein juridisches sondern ein natürliches und moralisches Verhältniß der Herzen ist. Beide sind Eine Seele.

Die Botschaft war klar: Ehe heißt Liebe, Mann und Frau sind ein Herz und eine Seele. Doch selbst wenn Bürgerinnen und Bürger diese Schriften mit feuchten Augen lasen: So ganz beherzigten die Wenigstens das darin gepriesene Ideal. Das bürgerliche, natürlich nicht laut ausgesprochene Motto lautete dagegen: Ehe heißt Liebe und Vernunft. Und selbst „Liebe“ meinte dabei nicht eine „romantische Liebe“, die alle Konventionen über Bord werfen ließ, sondern eine wohltemperierte, eine „vernünftige“ Zuneigung.

Denn: Auch wo die Liebe beschworen wurde, schwang das Kalkül oft mit. Allein aufgrund gegenseitiger Zuneigung den Bund fürs Leben einzugehen, wäre wenigen Bürgerinnen und Bürgern in den Sinn gekommen. Familienrücksichten sprachen ein gewichtiges Wort mit. Lange unhinterfragt blieb auch im Bürgertum das Mitspracherecht der Eltern bei der Eheschließung. Zeitgenössische Lithographien zeigen noch um die Jahrhundertmitte Szenen des „Um-die-Handanhaltens“. Auf denen sitzt der künftige Ehemann, sichtlich nervös, den skeptisch dreinblickenden Brauteltern gegenüber; die Braut ist nur, offenbar heimlich lauschend, schattenhaft am Türspalt zu erkennen. Ein Thema wird bei diesem Gespräch unter sechs Augen mit Sicherheit zur Sprache gekommen sein: die finanzielle Situation des Bräutigams. Zu den üblichen und ersten Fragen, die Bürgerväter ihren potenziellen Schwiegersöhnen stellten, gehörte die nach ihrer finanziellen Situation und beruflichen Position. Nicht selten ließen Bürgerväter detaillierte Nachforschungen zur Finanzkraft des möglichen Gatten ihrer Tochter folgen. Denn eines stand fest: Eine gesicherte berufliche Existenz des Ehegatten war unabdingbare Voraussetzung für die Statuswahrung.

Dennoch: Das war nur die Zahlenseite der Medaille. Liebesbriefe zwischen Verlobten, je nach Gusto und Gabe der Schreibenden poetisch oder im Poesiealbenstil verfasst, bezeugen wortreich den Erfolg der die Liebe preisenden Poeten. So wenig wie es reine Neigungsehen gab, so wenig angemessen waren reine Vernunftpartien. Söhne und Töchter des Bürgertums überließen die Entscheidung, an wessen Seite sie vor den Traualtar traten, zunehmend weniger allein ihren Eltern. Während die Bürgersöhne ohnehin erst nach ihrer in der Regel langwierigen Berufsausbildung in bereits fortgeschrittenem Alter und daher dem Elterneinfluss weitgehend entzogen auf Brautschau gingen, waren nun auch Bürgertöchter weniger bereit, den ersten Heiratsantrag anzunehmen, wenn ihnen der Kandidat nicht zusagte. Am 20. Mai 1852 schrieb die sechzehnjährige Arzttochter Anna Maria Sauer keineswegs erfreut in ihr Tagebuch:

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Heiratsantrag

Tagebuch der Anna Maria Sauer, Eintrag vom 20. 5. 1852, Kempowski Archiv A 259.

Dieser Tag scheint ein wichtiger Tag in meinem Leben werden zu wollen. Heut erhielt ich oder vielmehr der Vater eine Brief, dessen Inhalt ich nicht geahnt hätte. Es war nämlich ein Heiratsantrag von einem Herrn Brachmann, mit dem ich zwar einige Male getanzt, den ich aber außerdem kaum kenne. Grosser Gott! Ich und heirathen! Im ersten Augenblick lachte ich darüber, später aber stiegen auch ernste Gedanken in mir auf. Meine Jugend ist bisher heiter und ungetrübt dahingeflossen, wie manche Unannehmlichkeiten werden sich nun entgegenstellen!

Sowohl für sie wie auch für ihre Eltern stand es zu diesem Zeitpunkt außer Frage, dass diesem Unbekannten ein Korb zu geben sei. Ein Jahr später, fast zur gleichen Zeit, wurde Fräulein Sauer wieder mit dem gleichen Ansinnen konfrontiert, wobei sie diesmal jedoch schon nicht mehr den Gedanken ans Heiraten an sich weit von sich schob, sondern nach quälendem Nachdenken am 26. April 1853 sich entschied, den Antrag abzulehnen, da von ihrer Seite „besonders der tiefste Grund, die innige wahre Liebe“ sich partout nicht einstellen wollte.

Heiratskreise

Doch trotz allen Mitspracherechts der Brautleute: „Mesalliancen“, also nach Eltern- und Gesellschaftsmeinung nicht-standesgemäße Beziehungen, waren wenig wahrscheinlich. Die Heiratsmärkte filterten die Heiratskreise. An den Orten, wo die Zukünftigen sich in der Regel trafen, weilte man innerhalb eines festgefügten sozialen Rahmens unter sich. Drei typische Treffpunkte und Anlässe lassen sich ausmachen:

Heiratsmärkte

Zum einen dienten über das ganze 19. Jahrhundert hinweg gesellschaftliche Inszenierungen dazu, Töchter und Söhne „in die Gesellschaft“ einzuführen, sie mit deren Gepflogenheiten vertraut und mit Angehörigen der eigenen Gesellschaftskreise bekannt zu machen. Familienfeiern, Bälle, Diners und Hauskonzerte gehörten zu diesen Veranstaltungen, bei denen der gegenseitige Umgang stark ritualisiert und etwaige Verstöße sanktioniert wurden. Hierbei musste man die Vertrautheit mit gepflegten Manieren unter Beweis stellen, hier demonstrierten Frauen und Töchter überdies mit Garderobe und Schmuck die Finanzkraft der Familie. Die Gästeliste dieser Veranstaltungen wurde wohlbedacht. Häufig erweckte sie gar den Eindruck, dass die Gastgeber bei der Komposition der Tischordnung gezielt Paarbildungen im Auge hatten.

Eine zweite und im Laufe des 19. Jahrhunderts zunehmend in Mode kommende Möglichkeit der Kontaktaufnahme waren Bildungsreisen und Kuraufenthalte. Da diese Bildungsreisen in der Regel zu kulturhistorisch interessanten Stätten führten, war die Wahrscheinlichkeit groß, dort auf kunstbeflissene Klassengenossen und somit auf geeignete Heiratskandidaten zu treffen. Ähnliches galt für die Kuraufenthalte. In der Regel setzte sich auch die Kurgesellschaft aus einem elitären, zumeist bürgerlich-adelig durchmischten Zirkel zusammen. Fern der Heimat, doch im Grunde in einer heimischen Gesellschaft, schienen in der Kurgesellschaft die starren Konventionen ein Stück weit gelockert, so dass sich leichter zarte Bande knüpfen ließen.

Am Jahrhundertende öffnete sich europaweit noch ein dritter Heiratsmarkt: Sport, im englischen Bürgertum längst en vogue, wurde nun generell salonfähig. Das galt vor allem für Tennis und Schlittschuhlauf. Auf dem Tennisplatz oder auf dem Eis konnten sich die Jugendlichen offensichtlich eher unverbindliche und unbeobachtete Flirts erlauben, als es bei den in der Regel nach einer strengen zeremoniellen Schablone ablaufenden gesellschaftlichen Anlässen der Fall war.

Doch unabhängig davon, ob man sich auf mehr oder weniger glattem Parkett zum Walzer oder Eistanz, auf der Kurpromenade oder auf dem Tennisplatz traf: Alle die hier skizzierten Schauplätze des Näherkommens begrenzten den sozialen Kreis. Dass trotz dieser so eingeschränkten Wahlmöglichkeit zwischen den Einzelnen wirklich Zuneigung erwachsen konnte, beruhte nicht zuletzt auf gerade diesem Faktum. Sich dort scheinbar spontan ergebende Wahlverwandtschaften gründeten auf gemeinsamen Vorlieben und Geschmacksvorstellungen, einem Tableau attraktiv erachteter Eigenschaften, auf einem ähnlichen Habitus. Von daher verwundern die im Bürgertum stark endogam geprägten Heiratskreise wenig; bei der Partnerwahl wurden selten die bürgerlichen Grenzen überschritten.

Unterschiede zwischen Bildungs- und Besitzbürgertum

In welchem Verhältnis Neigung und Vernunft zueinander standen, hing auch davon ab, ob die Brautleute aus bildungs- oder wirtschaftsbürgerlichen Kreisen kamen. Gab es ein Unternehmen als familialen Fixpunkt im Hintergrund, sprachen neben der Zuneigung auch ganz unverhohlen praktische Rücksichten mit. Die Einheirat in eine „gute Familie“ galt als willkommene Chance, den Kreis derjenigen zu erweitern, mit denen man nicht nur geschäftlich, sondern auch privat verkehrte. Mit „planvollen Querheiraten“ (Jürgen Kocka) Beziehungen zwischen Unternehmen durch Familienbeziehungen zu stärken und zu festigen, war vor allem in den Anfangsjahren der Industrialisierung gang und gäbe. Mehr als später waren Unternehmer aufeinander verwiesen, wenn es darum ging, kollektive Interessen gegenüber der staatlichen Gesetzgebung und Verwaltung durchzusetzen. Wenn man dabei einen festen Verwandtenstamm an seiner Seite hatte, umso besser. Folgerichtig trafen sich im ganzen 19. Jahrhundert häufig Söhne und Töchter aus dem Wirtschaftsbürgertum vor dem Traualtar.

Neben der Maximierung geschäftlicher und gesellschaftlicher Möglichkeiten verhalfen solcherart geplante Familiengründungen überdies zu einer Minimierung möglicher Risiken. Spielten sich geschäftliche Transaktionen im Rahmen eines weitverzweigten Verwandtschaftskreises ab, bewegte man sich dabei in einem Netzwerk gegenseitigen Vertrauens, das die vertragliche Regelungsdichte reduzieren, Kosten zur zuverlässigen Informationsbeschaffung senken sowie diejenigen für die Kontrolle von Geschäftsbeziehungen einsparen helfen konnte.

Den krönenden Höhepunkt der Werbungs- und Verlobungsphase bildete eine glanzvolle Hochzeitsfeier, deren Ausrichtung traditionsgemäß dem Brautvater oblag. Ein solcher vermerkte 1895 in seiner Haus-Chronik:

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Hochzeitsfeier

aus: Ingeborg Weber-Kellermann: Vom Handwerkersohn zum Millionär. Eine Berliner Karriere des 19. Jahrhunderts, München 1990, S. 131.

Polterabend war am Montag, den 6. Mai, in unserer Wohnung. Er verlief bei herrlichem Wetter unter Benutzung des Gartens ganz entzückend. An 50 Personen waren anwesend. Die Aufführungen sind zur Erinnerung gedruckt. … Hochzeit war am Mittwoch, den 8. Mai. Die Ziviltrauung in Steglitz, in Berlin die kirchliche in der neuen Kirche von unserem alten Freund Prediger Richter aus Mariendorf. Das Festmahl fand in Berlin im ‚Englischen Haus‘, Mohrenstraße 49, statt, fein und vornehm. 85 Personen nahmen daran teil. Es hat 2575 Mark gekostet.

„Die Neuvermählten sind um 10 Uhr auf die Reise gegangen“, lautete die abschließende Eintragung, die Hochzeitsreise hatte sich eingebürgert. Bezüglich der Orte, zu denen die Flitterwöchner aufbrachen, kristallisierten sich gewisse Präferenzen heraus, die den bürgerlichen Anstrich dieser tours d’amour akzentuierten. Häufig stand Italien auf dem Routenplan, wo im Schatten von Kunst und Architektur und damit vertrauten Terrains die erstmalige längere Zweisamkeit erleichtert werden sollte.

Während dieser Reisen erlebten die Eheleute auch ihre erste gemeinsame Nacht. Viele junge Bürgerfrauen standen völlig unvorbereitet dem für sie unverständlichen ehelichen Ansinnen ihres Gatten gegenüber, der ihnen vordem eher in respektvoller Distanz begegnet war. Dieses „Brautnacht-Trauma“ (Peter Gay) bot vor allem den weiblichen Bürgern kaum eine positive Ausgangsbasis für ein erfülltes eheliches Sexualleben. Während für sie in den meisten Fällen die Nacht nach der Vermählung den ersten sexuellen Kontakt brachte, waren die Ehemänner zumeist schon in der ars amandi unterwiesen. Ihre Lehrmeisterinnen kamen dabei in der Regel aus unterbürgerlichen Schichten. Wie diese so unterschiedlichen Erfahrungen und Erwartungen der Eheleute ihr Miteinander prägten, lässt sich nur ahnen. Das sonst so beredte Bürgertum verstummte vor bürgerlichen Schlafzimmertüren.

Ehealltag

So wenig wir über bürgerliche Nächte wissen: Wer tagsüber in der Ehe das Sagen haben sollte, stand für die Flut von Eheratgebern fest: Familienoberhaupt war der Ehemann und Vater. Gestützt wurde seine Position noch durch die häufig große Altersdifferenz zwischen den Eheleuten. Bürgerfrauen waren in der Regel zehn oder mehr Jahre jünger als ihre Männer. Dass bürgerliche Frauen und Männer sich zu so unterschiedlichen Zeitpunkten ihres Lebens das Ja-Wort gaben, hing damit zusammen, dass die Bürgersöhne erst nach einer langwierigen Berufsausbildung – sei es nach einem Studium und häufig daran anschließender Referendars-, Assistenten- und Vikarszeit, sei es nach längeren, häufig auswärtigen Unternehmenspraktika – auf Freiersfüßen wandelten. Ihre Auserwählten wiederum hatten eine eher poröse, einseitige und früh abgeschlossene Ausbildung durchlaufen.

Doch schon vor der Ehe war der Horizont, in dem sich Bürgerfrauen und Bürgermänner bewegten, ein anderer. Für zeitgenössische Publizisten wie dem Volkskundler Wilhelm Heinrich Riehl, der in seiner Abhandlung über die „Bürgerliche Gesellschaft“ der Familie ein eigenes, großes Kapitel widmete, war dabei weniger die sich früh abzeichnende Verengung des Wirkungskreises der Frauen auf die Familien das Problem, sondern die Würdigung dieser Position.

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„Weibliche“ und „männliche“ Sphäre

aus: Wilhelm Heinrich Riehl: Die Familie, Stuttgart u. Berlin 1925 (1. Aufl., 1854), S. 101.

Das Weib wirkt in der Familie, für die Familie; es bringt ihr sein Bestes zum Opfer dar; es erzieht die Kinder, es lebt das Leben des Mannes mit … Nun kann aber doch wahrlich die Frau fordern, nicht daß der Staat ihre Person teilnehmen lasse an dem öffentlichen Leben, wohl aber, daß er die große politische Macht der Familie, in weit höherem Maße als gegenwärtig, berücksichtige bei der Volksvertretung wie in der Staatsverwaltung. Wird man der Familie gerecht, dann wird man den Frauen gerecht, denn der Herd des Hauses ist ja der Altar, darauf sie ihr verschwiegenes und doch so entscheidendes Wirken für Gesellschaft und Staat niedergelegt haben.

Eine Aufwertung der fraueneigenen Familiensphäre galt es zu fördern. Literatur, die diesem Auftrag nachkam, gab es im 19. Jahrhundert zuhauf. Pfarrer, Journalisten, Pädagogen und Mediziner machten Bürgerfrauen darin ihre „Berufung“ schmackhaft, indem sie nicht müde wurden, ihre Bedeutung zu unterstreichen. Und viele Bürgerfrauen fanden wirklich Gefallen an der „hehren“ Aufgabe, betrachteten die Familie als ihren ureigenen Ort, an dem sie gestaltend wirken konnten. Als Hüterin des auf der bürgerlichen Werteskala weit oben platzierten Familiensinns gaben sie Rhythmus und Tonfall des Familienlebens vor, führten Regie über die familialen Alltage und Festtage, erzogen die Kinder zu künftigen Bürgerinnen und Bürgern, bestritten den Haushalt mit einem häufig wenig opulenten Budget, inszenierten sich und die Familie bei Geselligkeiten, befehligten das Dienstmädchen, pflegten den Kontakt zur nahen und weiten Verwandtschaft und bewährten sich als Krisenmanagerin. Eine Fülle von Pflichten fürwahr, die hier zusammen kam. Entsprechend mischten sich Stolz und Sorge in den Tagebüchern von Bürgerfrauen. So auch bei der sechsfachen Mutter und Berliner Kaufmannsgattin Helene Eyck:

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Aufgaben der Frau

aus: Helene Eyck: Tagebuch, Eintrag vom 26. November 1897, Privatarchiv Eyck, Calgary, Alberta, USA.

Ein Vater solch grosser Familie mit ihren Ansprüchen an das Dasein hat’s wahrlich nicht leicht, besonders wenn er im vorgerückten Lebensalter noch um das tägliche Brot zu schaffen hat und weniger denn je Aussicht auf eine sorgenfreie Zukunft ist. … Und dagegen die grossen Kinder! Das volle Haus – der Wunsch, angenehm zu leben, die Erziehung in jeder Beziehung zu vollenden, das alles zusammen gezogen und verglichen giebt ein Exempel das leider nicht stimmt. Und wo ist hier der Hebel anzusetzen? Wo die Besserung zu erwarten? Natürlich zuerst bei mir, durch meine Kunst sollte es geschehen, dass wir auf einem einfacheren und kleineren Fusse leben. Und wir thun es auch und bin ich mir bewusst für meine Person besonders mich wirklich einzuschränken! Auch mit der Kleidung der Kinder geschieht es – aber ob im Haushalt nicht manches noch viel einfacher sein könnte, bestreite ich nicht, füge jedoch hinzu, dass es ausserordentlich schwer ist, wenn man gewisse Lebensgewohnheiten und Anforderungen, wozu ich in erster Reihe die Erhaltung des Bestehenden, also der Wirthschaft rechne, nicht ablegen möchte. Ja und ich möchte nicht gern, möchte doch den Kindern und uns ein angenehmes Heim bieten, möchte ihnen auch Freundschaft und Umgang erhalten und sie noch nicht allzusehr mit den Sorgen des Lebens bekannt machen.

Der Spagat zwischen bürgerlichem Anspruch und Wirklichkeit erwies sich in der Tat als „Kunst“, in der sich Bürgerfrauen tagtäglich zu bewähren hatten. Hinzu kam die Aufwertung der Mutterschaft; im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde sie in einem anschwellenden Chor von Kirchenmännern, Sozialmoralisten, Pädagogen, Schriftstellerinnen und Ärzten als gleichsam heilige Aufgabe verklärt. Gebetsmühlenartig machten sie sich über die Instinkte, Gefühle und Pflichten der Mütter Gedanken, die Väter kamen in diesem primär bürgerlichen Diskurs kaum vor.

Im Bürgeralltag sah das anders aus. Hier ließen sich Bürgerfrauen und -männer keineswegs davon abhalten, die ihnen zugewiesene Sphäre zu verlassen. So wie Bürgermänner auch mal unvernünftig agierten und sich ihre Gefühle nicht verbieten ließen – auch wenn sie diese dem Männlichkeitsideal der zweiten Jahrhunderthälfte folgend weniger nach außen trugen – so agierten ihre Frauen durchaus auch öffentlich, weitblickend und rational. Die meisten Bürgerinnen und Bürger zeigten sich als regelmäßige Grenzgänger, die die normative Mauer zwischen privat und öffentlich jeden Tag aufs Neue bröckeln ließ. Ehefrauen, die berufliche Ratschläge gaben, finden sich dabei ebenso wie Ehemänner, die sich über das Stillen der Säuglinge Gedanken machten. Im August 1856 schrieb Theodor Fontane kurz nach der Geburt seiner Tochter an seine Gattin Emilie:

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Eheleben

aus: Theodor an Emilie Fontane, Brief vom 2. 8. 1856, in: Emilie u. Theodor Fontane: Dichterfrauen sind immer so. Der Ehebriefwechsel 1844–1857, hg. v. Gotthard Erler, Berlin 1998, S. 371f.

Hieran knüpf’ ich am besten gleich einige Bemerkungen über Georgens Schwesterchen. Daß Du, unberufen und unbeschrien, so wohl bist, freut mich außerordentlich zu hören. Pflege Dich gut, habe Bewegung aber mäßig, iß Fleisch und trinke (nach George’s Vorschrift) Kaffe, so wird mit Gottes Hülfe alles gut gehn. In Betreff einer Amme kann ich von hier aus wirklich keinen Rath geben. Alle Ammen sind greulich aber nothwendig. Da liegt ohngefähr mein Rath drin, d. h. nimm eine und bezwinge Deine Abneigung in dem Gefühl, daß solche lebendige Milchquelle nöthig ist. Fühlst Du vorher, daß Du das nicht kannst, so nimm lieber keine. Sonst entsteht Aerger, Du wirst krank, die Amme auch und schließlich auch das Kind. Nur so viel sei schon heute gesagt, laß Dich nicht durch Oekonomie und Geldrücksichten abhalten, eine Amme zu nehmen. Es muß beschafft werden und so viel werd’ ich doch wohl von hier aus zuverdienen. Du mußt die Sache mal mit Koblanck besprechen. Du scheinst über den guten Doctor absichtlich zu schweigen, um mich nicht eifersüchtig zu machen.

Ehekrisen

Die Amme der Fontanes blieb ein Problem, aber auch die sehr unterschiedlichen Erwartungen, die die Eheleute an sich stellten. Ihn „schwimmfähig“ zu halten, sah der Journalist und Schriftsteller als die erste Pflicht seiner Ehegattin, die sich immer wieder auf die spontanen, dem familialen Budget nicht eben zuträglichen Entscheidungen ihres Gatten einzustellen hatte. Nicht nur der Ehebriefwechsel zwischen den Fontanes enthüllt die Diskrepanz zwischen Erwartung und Erfahrung, die in vielen bürgerlichen Ehen den Alltag überschattete. Gerade weil das Bürgertum im Unterschied zu anderen Schichten und Zeiten zuvor die Ehe und das Eheleben mit so hohen Erwartungen befrachtete, blieben Enttäuschungen nicht aus.

Denn: Mustergatten und Musterehen waren rar. In einigen Fällen – und auch das war ein beliebtes Motiv von Bürgerkritikern der schreibenden und zeichnenden Zunft – begaben sich Bürgermänner unter Umgehung des ehelichen Treueschwurs auf außereheliche Abwege. Selbst dann reichte die Liberalität der Ehefrau gegenüber der Libertinage des Gatten häufig so weit, diese Seitensprünge zu tolerieren. Es galt, den Schein einer heilen Ehe aufrechtzuerhalten. Die herrschende Doppelmoral, die Männern weit mehr Spielraum bot, um ihre sexuellen Bedürfnisse auszuleben, betitelte dieses männliche Tun euphemistisch als „Kavaliersdelikt", während Ehebrecherinnen – die häufig von authentischen Fällen inspirierten Romane Fontanes führten dagegen gekonnte Klage – in der Regel mit gesellschaftlichem Verstoß sanktioniert wurden.

Zu einem Auseinandergehen führte das Auseinanderleben selten; nur ein Bruchteil von Bürgerehen endete vor Gericht. Dass es mit einem nicht geringen Risiko verbunden war, sich von Tisch und Bett des techtelmechtelnden oder ungeliebten Gatten zu trennen, hing nicht zuletzt von den eingeschränkten Finanzbefugnissen der bürgerlichen Ehefrauen ab, die mit der Eheschließung häufig ihren Besitz der Verwaltung und Nutznießung dem Gatten überließ. Hinzu kam das jeweils herrschende Scheidungsrecht. Die im Allgemeinen Landrecht von 1794 vergleichsweise liberalen Vorgaben, die, gleichsam als Vorform des „Zerrüttungsprinzips“ auch die Auflösung einer Ehe bei tief „verwurzelten … Widerwillen“ erlaubten, führten zu einem im europäischen Vergleich beträchtlichen Scheidungsvolumen. Zwischen 1849 und 1860 wurden 35.490 Ehen geschieden, im Deutschen Reich gingen allein 1899 9.433 Ehen aufgrund eines Richterspruches auseinander.

Blütezeit des Bürgertums

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