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Im Kino (Verbotene Türen, 1985)

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Da war ein Dämon in ihm, der sein Blut heißmachte und ihn mit Sirenenstimme lockte. Er hatte Zuflucht vor sich selbst gesucht und war in ein Kino gekommen, das sich zwischen Ruinen in einem mit Abfallkübeln vollgestellten Hinterhof befand.

Der Film hatte längst begonnen. Die Platzanweiserin führte Bernhard in eine der vorderen Reihen und drückte ihn auf das ächzende Holzgestühl.

Er konnte kaum sitzen, ihm war sonderbar heiß, vor seinen Augen flimmerte es, und die Stimmen aus dem Lautsprecher dröhnten ihm in den Ohren.

Als er sich im Halbdunkel wieder zurechtfand, wurde er ruhiger. Er verfolgte das Geschehen auf der Leinwand: … ein Gewitter, ein Mann und eine Frau auf der Flucht. Sie rennen an den Händen gefasst über ein Feld. An einem Waldrand finden sie eine Hütte. »Das hätte dumm enden können«, sagt die Frau. »Ja«, sagt der Mann. »Wir haben Glück gehabt.« Die beiden umarmen sich. Der Mann zündet im Kamin ein Feuer an. Die Frau kocht Tee.

Bernhards Unruhe kehrte zurück, es drängte ihn, aufzustehen und nach draußen zu gehen. Doch spürte er in seiner Nähe eine Kraft, die ihn zwang sitzen zu bleiben. Er wagte nicht, zur Seite zu sehen, lauschte und roch. Ihn fror, dabei nahm die Hitze in ihm zu. Er wusste, rechts neben ihm saß ein Mädchen. Das Mädchen. Nun also war er ihr doch begegnet. Jetzt begriff er, dass er sie gesucht hatte. Nur sie. Als der Film eine nächtliche Szene zeigte und es im Saal dunkler wurde, sah er sie an. Sie hatte eine aus einem Militärmantel geschneiderte Jacke an, in deren hochgeschlagenen Kragen ihr Kopf geborgen war. Von ihrem Gesicht war kaum etwas zu erkennen. Als sie ihren Kopf zur Leinwand vorreckte, sah er, dass sie lange, zu einem Pferdeschwanz gebundene Haare hatte, wie sie viele Mädchen trugen. Nun lehnte sie sich wieder in das Holzgestühl zurück, und schlug die Beine übereinander. Wenn Bernhard nun doch hätte gehen wollen, hätte er sie bitten müssen, ihn vorbeizulassen. Er befürchtete, ihm würde die Stimme versagen. Links von ihm war die Reihe frei. Er kam nicht auf den Gedanken, dorthinaus zu gehen.

Bernhard versuchte, den Film anzuschauen und Sicherheit zu gewinnen. Er blickte auf die Leinwand, doch er sah nur sie. Seine Fantasie erkundete, was er nicht zu sehen vermochte. Das Mädchen war schön, es hatte weiße und reine Haut und Augen wie Kerzenlichter, wenn der Raum ohne Wind war, golden und warm. Der Mund war dunkel und voll und leicht geöffnet. Ja, das war das Mädchen. Er erkannte sie wieder. Bei einer Rollschuhlaufveranstaltung hatte sie die Bewunderung aller erregt, ein langzöpfiges Mädchen im kurzen weißen Kleidchen, das anmutig lächelnd die schwierigsten Figuren gelaufen war.

Bernhard saß auf dem Stuhl und befürchtete, dass das abgenutzte und teils mit Kistenbrettern ausgebesserte Gestühl laut knarren und den Augenblick zerstören könnte. Kühne Gedanken schossen ihm durch den Kopf. Wie wäre es, wenn er sie anspräche, wenn er sagte: Hallo!, oder etwas in der Art, die ihr gleich zeigte, dass er es gewohnt war, Gespräche mit hübschen Mädchen zu führen. – Hallo, wir kennen uns doch. Sie werden sich vielleicht nicht erinnern. Damals waren wir noch Kinder. Himmel, das ist tatsächlich eine Ewigkeit her. Tanzen Sie noch immer auf Rollschuhen? - Nein. - Ach, Sie leben jetzt zurückgezogen. Nur ab und zu gehen Sie ins Kino. Ich gehe selten ins Kino. Die Filme sind mir zu blöd. Darf - darf ich Sie nach dem Film nach - nach Hause begleiten?

All das war möglich. Und noch viel mehr könnte er ihr sagen. Er wurde sich ihrer vollkommen sicher. Wie genau er sie kannte, hatten sie doch als Kinder im Sandkasten zusammengespielt. Er nannte sie Claudia. Lautlos wiederholte er ihren Namen, bis sie ihn einmal kurz ansah. Das Blut schoss ihm heiß in den Kopf – sie hatte ihn wiedererkannt!

Jetzt wollte er ihren Namen laut aussprechen. Fräulein Claudia, wollte er sagen. Claudia. Seine Lippen klebten trocken aneinander. Ich habe ja Zeit, dachte er. Der Film läuft noch eine Ewigkeit. Sie rennt mir nicht weg. Er konnte sich überlegen, was er ihr sagen würde, etwas, was ihn als Mann zu erkennen gab. Lässig musste es sein. Das klang nicht schlecht: Hallo, Claudia, ich lade Sie nach dem Film ein. Okay? Wozu er sie einlud, wusste er nicht. Er hatte Zeit, so viel Zeit.

Da sah Bernhard ihren Arm, keine drei Zentimeter von seinem Arm entfernt. Der Jackenärmel war bis zum Ellenbogen hochgerutscht. Ihr Unterarm war schmal und mündete in eine kleine weiße Hand, die die Stuhllehne umfasst hielt.

Er erschrak, ihn durchzuckte der Gedanke: Greif nach ihrer Hand! Nimm ihre Hand in deine Hand! Etwas Zwingendes war in dem Gedanken. Er wollte sich dagegen wehren, aber da sprach diese innere Stimme, die er in letzter Zeit häufiger und zwingender zu hören bekam, zu ihm: Du hast keine Angst, Bernhard. Greif zu! Nimm sie dir!

Ihm trat der Schweiß auf die Stirn, er versuchte durchzuatmen, ein Wort zu finden, das ihn erlöste. Aber das Wort war lange verloren, es lag in der Zeit, in der er mit den Vögeln gesprochen hatte. Er sah fasziniert zu, wie sich seine Hand langsam von der Stuhllehne löste, wie sie aufstieg und über der Hand des Mädchens stand – wie ein Raubvogel.

Er schloss die Augen und spürte sich fest zufassen. Sie zuckten beide zusammen. Das Mädchen schrie leise auf. Ihm war, als hätte eine Katze geschrien wie in einer dieser Frühlingsnächte, wenn der Mond sich hellgrün am Himmel ballte.

Mein Gott!, dachte er. Was hast du getan! Er ließ die Hand des Mädchens nicht los, warte ab, was da passieren würde. Die Hand des Mädchens lag geborgen in seiner Hand, wie ein warmes Vögelchen in seinem Nest. So einfach ist das, dachte Bernhard triumphierend. So einfach! Nur einen Augenblick lang musste er nachgeben, und alles andere geschah wie von selbst. Er saß im Wohlgefühl seines Sieges. Auf der Leinwand raste ein Auto in eine Gruppe Menschen. Maschinengewehre belferten. Angstschreie ertönten. Eine Sirene schrillte auf. Ein Haus stand in Flammen. Eine Stadt brannte ab.

Bernhard lockerte seinen Zugriff etwas. Die Hand des Mädchens bewegte sich vorsichtig; aber sie wollte nicht fliehen.

Was nun?, überlegte er. Der Griff seiner Hand wurde wieder fester. Er starrte auf die Leinwand, wo Licht und Dunkel einander hetzten. Er fühlte, das Mädchen wartete auf etwas. Sie lächelte. Lachte sie ihn aus? Was sollte er sagen? Was tun?

Claudia, dachte er; aber der Name klang ihm fremd. Er selbst war sich fremd.

Erst am Schluss des Filmes, als das Licht im Saal aufleuchtete, gab er ihre Hand frei. Er rannte nach draußen. Von der Straße aus, in einem zerbombten Keller verborgen, beobachtete er die Menschen, die aus dem Kino kamen. Angespannt wartete er auf ihr Gesicht. Ihre Hand, die er über eine Stunde gehalten hatte, wollte er noch einmal sehen. Es traten viele Mädchen auf die Straße, aber er konnte sie nicht herausfinden. Dann war er allein. Er meinte, im Tiefflug aufheulende Flugzeuge zu hören, warf sich in den Schutt und deckte die Hände über den Hinterkopf.

Spätabends kam er nach Hause. »Kind«, sagte die Mutter streng. »Wo kommst du so spät her, Junge?«

Bernhard verbarg sich in ihren Armen, ließ sich von ihrem warmen Atem streicheln.

Am nächsten Tag aber war er wieder auf der Straße. Von nun an suchte er dieses Mädchen, von dem er alles ahnte und nichts wusste.

Berührungen

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