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Der Zauberstein (Aus der eigenen Haut, 2000)

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Das Meer hatte die Buntheit und Freundlichkeit des Sommers verloren. Es war wie ein ungeheures Tier, das mit den Stürmen ein wildes Spiel trieb. Die Sonne schien für immer erloschen. Öde und nass war der Strand.

Der Mann stand klein vor den herantosenden Wellen. Sein Gesicht war fast verdeckt von einem dichten schwarzen Bart und dem hochgeschlagenen Kragen seiner Felljacke.

Der Mann warf beide Arme empor und rief: »Das Meer! Welche Kraft! Welche ungezügelte Lebendigkeit!«

Die Frau stand zwei Meter von ihm entfernt. Sie hatte die Schultern hochgezogen, die Hände tief in die Taschen ihres langen Pelzmantels gesteckt. Trotz der wärmenden Pelzmütze war ihr Gesicht grau vor Kälte.

Die Frau sagte leise: »Warum das Theater. Du stehst nicht auf deiner Bühne.«

Unter dem Tosen des Sturmes konnte der Mann unmöglich die Worte der Frau gehört haben. Aber er schwieg, als hätte er verstanden. Seine Arme fielen schlaff herab.

Er und die Frau sahen auf das Kind, das hinter ihnen im Sand kniete und in kurzen Abständen Freudenschreie ausstieß. Jedes Mal wurden die Augen des Jungen groß und er sah zu den beiden Erwachsenen, wenn er in der ausgestreckten Hand einen vom Meer glatt geschliffenen Stein, eine Muschel oder einen seltsam geformten Ast hielt. Die Taschen seiner Hose und die Jacke beulten sich von den Schätzen des Meeres, die es ihm im Überfluss anbot.

»Mama! Papa!«, rief der Junge aufgeregt, mit heiserer Stimme. »Hier, was ich jetzt gefunden habe! Bestimmt ist ein Zauberstein dabei!«

Oft kam der Junge mit hoch erhobenen Händen, in denen ein bunter Stein lag, zu den Eltern gerannt: »Ist das der Zauberstein?« Das Kopfschütteln der Eltern brachte ihm nur kurze Enttäuschung. Der Strand war voller Steine. Seine Hoffnung war groß. Eine Woche war vergangen, seit die Familie hier angereist waren. Eine Woche blieb ihnen noch, bevor sie in die Stadt zurückmussten. Sie liefen Tag für Tag den Strand entlang. Nur zu den Mahlzeiten und zur Nacht gingen sie in das warme, von Stimmen und Lachen erfüllte Ferienheim.

Der Junge wachte nachts oft auf. Manchmal weckte ihn der raue Gesang der See, manchmal weckten ihn die leisen Stimmen der Eltern, die gegeneinanderstießen, scharf und spitz wie Messer, darauf aus, einander zu verletzen. Der Junge verstand nicht, worüber sie stritten, aber es tat ihm weh. Er behielt seinen Schmerz für sich und schloss ihn, wie anderes auch, das ihm zu schaffen machte, in sich ein.

Der Junge hatte keines der Märchen vergessen, von denen er einige fast auswendig kannte. Er hatte mit den Jungen und Mädchen, die ihm wie Brüder und Schwestern waren, für das Gute gegen das Böse gekämpft. Alle Geister, jeden Teufel und jedes Ungeheuer hatten sie besiegt und schließlich ihr Glück gefunden. Nun vertraute er auf den Zauberstein, von dem er wusste, dass er dem Finder jeden Wunsch erfüllte. Ihn musste er haben!

Der Junge konnte die Steine schon lange nicht mehr zählen, die er in den Händen gehalten und denen er seinen großen Wunsch vorgetragen hatte: »Lass dich bitten, lieber Stein, erfülle mir mein Wünschelein: Gib meinen Eltern ihr Lachen zurück.«

Aber keiner der Steine erfüllte ihm seinen Wunsch. Unruhe breitete sich wie ein Fieber in dem Jungen aus. Bei den langen Strandgängen wurde der Abstand zwischen den Eltern immer größer, und manchmal, wenn er irgendwo zwischen ihnen war, packte ihn die Angst, dass sie sich aus den Augen verloren hätten.

Und nachts stießen die Stimmen der Eltern immer härter und schärfer aufeinander.

Dann dachte der Junge so angestrengt, dass ihm der Schmerz hinter der Stirn und in den Schläfen pulste: Du musst den Stein finden!

In einer Nacht hatte ein wütender Sturm das Meer weit übers Ufer hinausgeworfen. Am Morgen flogen dunkle und helle Wolken wie geballte Vogelschwärme vom Meer her ins Land. Der Strand war bedeckt mit bunten Schätzen. Doch der Junge war ohne Hoffnung. Bevor sie das Ferienheim verließen, hatte die Mutter gesagt, dass der Vater und sie mit ihm reden müssten. Es wäre etwas passiert, zwischen ihr und dem Vater. Der Vater hatte gesagt: »Du bist doch schon ein Mann, Sohn. Du wirst das verstehen.«

Der Junge lief zwischen Vater und Mutter. Die Eltern schwiegen. Nur manchmal sahen sie sich an, vorwurfsvoll, fremd, böse.

»Es ist ...«, begann der Vater.

»Versuche es zu verstehen ...«, sagte die Mutter.

Da rief der Junge: »Der Zauberstein!« Er rannte von den Eltern weg auf etwas leuchtend Weißes zu, nach dem die Wellen langten, um es ins Meer zurückzuholen. Als er nahe genug heran war, bewegte es sich, als wäre es lebendig, und der Junge blieb abwartend stehen.

»Eine Möwe«, hörte er den Vater sagen und die Mutter: »Das arme Ding – ein Flügel ist wohl verletzt.«

Sie standen betroffen vor dem Vogel. Eine Möwe gehört in die Luft, wo sie im kühnen Flug zu Hause ist. »Sie bewegt sich«, sagte die Mutter. »Seht nur – sie quält sich ...« Der Vater bückte sich, hob einen schweren Stein auf. Die Mutter wandte sich schnell ab.

»Nein!«, rief der Junge. »Tu´s nicht!«

Beide, der Mann und die Frau, zuckten zusammen. Der Stein fiel aus der Hand des Mannes.

Der Junge zog seine Jacke aus, barg vorsichtig die Möwe darin und ging entschlossen zurück zur Unterkunft. Der Mann und die Frau folgten ihm. Einmal drehte sich der Junge um, und er sah sie nebeneinanderlaufen, fast so nahe wie früher.

Von nun an suchte der Junge nicht mehr nach dem Zauberstein. Er blieb im Zimmer und saß auf dem Fußboden neben der Möwe, die er auf sein Kopfkissen wie in ein Nest gelegt hatte. Er fütterte den Vogel, reinigte ihm das Gefieder und sprach leiser zu ihm. Er erzählte ihm seine Lieblingsmärchen, und er summte Lieder von Meer und Wind.

Manchmal saßen der Mann und die Frau stumm dabei, sie fanden kein Wort, waren hilflos und zugleich erleichtert, es war, als wären sie vertrauensvoll in ein Geheimnis eingeweiht worden.

»Du bringst uns Glück«, flüsterte der Junge der Möwe zu. »Gib nur zu, du bist der Zauberstein. Hast dich in eine Möwe verwandelt.«

»Krrjäh - gijäh«, antwortete die Möwe.

An ihrem letzten Urlaubsmorgen gingen sie noch einmal zum Strand. Der Junge trug die Möwe in der Armbeuge. Die See lag vor ihnen wie eine unendlich große Scheibe aus grünem Glas. Die Kälte ging ihnen, trotz der Wintersachen, unter die Haut. Der Ufersand war stellenweise mit einer feinen Eisschicht bedeckt, die klirrend unter den Füßen zerbrach.

Sie stiegen auf das Steilufer, vor ihnen lag das Meer, freundlich gefärbt von der aufflammenden Sonne.

»Lass sie fliegen«, sagte der Vater. »Sie gehört auf Meer. Du wirst sehen, sie kann fliegen.«

Der Vater nickte der Mutter auffordernd zu.

»Wir – du kannst das Tier nicht mitnehmen«, sagte die Mutter. »Das geht nicht.«

Der Junge spürte den Körper der Möwe, er blickte in ihre kleinen schwarzen Augen, die ihm sagten, dass sie ihm nicht vertraute, was immer er auch tun würde. Er hielt den großen weißen Vogel den Eltern hin. Die Frau und der Mann wandten sich ab.

Der Junge warf den Vogel in die Luft. Er hörte klatschenden Flügelschlag und einen schrillen Schrei: »Krrjäh - gijä gijä!«

»Sieh nur!«, riefen der Mann und die Frau. »Sie fliegt!«

Der Junge öffnete die Augen. O ja, die Möwe flog! Er wollte schon weggehen, da sah er sie, wo Himmel und Meer scheinbar eins wurden, ins Wasser fallen wie ein kleiner weißer Stein.

Berührungen

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