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Brunnenkinder (Und wenn ich sterben sollte, 2004)

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©HeRaS Verlag, Rainer Schulz, Berlin 2020

www.herasverlag.de

Layout Buchdeckel Rainer Schulz



Bernhard rannte aus dem Gehöft der Großeltern und den Hügel hinunter, bis die Apfelbäume ihn vor der Großmutter versteckten. Er aß den Käse von der dicken Scheibe Brot, die er aus der Küche stibitzt hatte, dann kaute er Stück um Stück die krustige Rinde. Das Brotinnere befeuchtete er mit Speichel und knetete es, brach dann die Masse auseinander, rollte sie zu Kügelchen, die er sich in den Mund schob und auf der Zunge zergehen ließ.

Mittlerweile hatte er das Dorfinnere erreicht. Vorm »Ross«, der bis auf das Dach mit wildem Efeu umrankten Dorfkneipe, lehnten Fahrräder, deren Felgen mit Stricken oder Hartgummireifen umspannt waren. Im Schatten einer Pappel saßen Jessner-Franz, Karla und noch ein paar Jungen und Mädchen, die von der Feldarbeit ausruhten und mit Löffeln ihre Kochgeschirre auskratzten.

Bernhard blieb bei ihnen stehen. Er löste mit den Fingerspitzen Krumen aus seinem Knetbrot und steckte sie genüsslich in den Mund.

Das Kochgeschirrgeklapper wurde leiser und verstummte. Die Kinder sahen auf das Stück Brot in Bernhards Händen. Jessner-Franz, ein lang aufgeschossener Junge mit kahl geschorenem Kopf und geröteten Händen und Füßen, einer von den Zugewanderten »aus Hinterpommern«, wie Großvater verächtlich sagte, schluckte mehrmals, hustete und spie vor Bernhards Füße. Im vergangenen Winter war er mit seiner Mutter und seiner zweijährigen Schwester ins Dorf gekommen. Er hatte auf den Tod gelegen, aber die uralte Jelanka hatte ihm das Fieber weggehext und ihm einen alten Uniformmantel geschenkt.

Jessner-Franz zog aus einer der Manteltaschen einen kleinen Spiegel, ließ die Sonne aufs Glas scheinen und lenkte den blitzenden Lichtstrahl auf Bernhards Augen. Die Jungen und Mädchen rutschten sitzend auf dem staubigen Boden heran. Sie bildeten einen Kreis um Bernhard und Jessner-Franz.

Bernhard versuchte, durch Drehen des Kopfes dem blendenden Lichtstrahl auszuweichen. Er hatte sich schon mit Jessner-Franz und anderen Jungen geprügelt, weil sie ihm die Faust entgegenstreckten und ihn »Städter« und »Weißkäse« riefen und die Großeltern als »Leuteschinder« und »Halsabschneider« beschimpften und in Richtung des Mainbachschen Hügels spuckten.

Heute wollte Bernhard einer Prügelei nicht aus dem Weg gehen. Nicht hauptsächlich den Schmerz fürchtete er, es war der Hass, der ihm aus den Augen seiner Gegner entgegenschlug.

Die böseste Prügelei hatte er mit Jessner-Franz gehabt, der vor Schmerz aufgeschrien hatte, wenn Bernhard ihn im Gesicht traf, und in rasende Wut geriet. Bernhard hatte nur fliehen können, wofür er sich nicht einmal geschämt hatte.

Bernhard sah verstohlen zu Karla, der er immer wieder einmal im Dorf oder auf den Feldern begegnet war. Sie lehnte an dem verrosteten Eisengitter vor der Schenke. Das Mädchen war wie die anderen barfuß. Ihre Füße waren braun gebrannt und von der Feldarbeit zerkratzt. Das Frauenkleid, das sie trug, hatte sie mit Bindfaden bis zu den Knien hochgerafft. Ihr Gesicht war rund und glatt wie ein Pfirsich. Sie hatte schwere hellbraune Zöpfe, in denen Lichtpunkte hin und her hüpften. Bernhard versuchte vergeblich, einen Blick von ihr zu erhaschen. Doch sie sah wie gebannt zur halb offenstehenden Schenkentür.

Ihm fehlte mit einmal der Mut zu einer Prügelei. Er überlegte, wie er den Kreis der Dorfkinder verlassen könnte, ohne als Feigling zu gelten.

Aus der Kneipe waren Stimmen zu hören, das Aufschlagen von Fäusten und Biergläsern auf Tischplatten. Jemand schrie: »Schnaps will – will ich! Noch, noch ’nen Schnaps, du – du Spiri – Spirituspanscher!«

Karla senkte den Kopf, löste hastig ihre Zöpfe auf und zog sich die helle Flut von Haaren über die Ohren.

Jessner-Franz stand langsam auf, er überragte Bernhard fast um Kopfeslänge. Verlangend stierte er auf den kleinen Brotklumpen in Bernhards Hand und ließ das gespiegelte Licht darauf fallen.

»Teile!«, forderte er.

Bernhard sagte widerwillig, aber bestimmt: »Der Sieger gewinnt Brot und Spiegel.«

Jessner-Franz blickte auf seine zerschundenen Hände, knackte mit den Fingern, drehte die Handgelenke hin und her. Er sagte dumpf: »Okay.«

Der Kreis der Jungen und Mädchen schloss sich enger um die beiden Widersacher. Hoch über ihnen, in den dichten Blättern der Pappel zeterten Sperlinge.

Bernhard steckte den Rest des Brotes in die Hosentasche und ballte die Hände. Er bemühte sich, langsam zu atmen, überlegte, wo er mit seinen Fäusten den Feind treffen musste, um ihn womöglich gleich kampfunfähig zu machen.

Ein untersetzter hakennasiger Mann trat aus der Kneipe. Er zog Pawlik mit sich, einen riesigen bartstoppeligen Invaliden, der Mühe hatte, mit seinem einen Bein und der Krücke die Balance zu halten.

Die beiden Männer mühten sich die Stufen zur Straße hinunter und blieben bei den Fahrrädern stehen, wobei der eine versuchte sich am anderen festzuhalten. Der Hakennasige sagte: »Pa – Pawlik, du – du bist doch mein Freund – ach, was sa – sage ich, mein Bruder bist du. Es ist so, als wärst du ich – geht das in deinen Schädel?«

Pawlik ließ den schweren Kopf vor seiner Brust pendeln. »Ich bin Invalide«, sagte er. »Sieh doch nur her, oder bist du denn blind?« Er starrte auf das mit Sicherheitsnadeln im Bereich des Oberschenkels fixierte leere Hosenbein.

Der Hakennasige sagte beschwörend: »Du bist – mein Freund, Pawlik – das bist du doch! Fünf Jahre hat meine Frau auf mich – gewartet hat sie. Fünf Jahre! Und nun ist mit mir – wie soll ich sagen – nischt mehr los. Das – das ist so und nicht anders.«

Der Hakennasige sprach weiter, seine Stimme wurde leiser. Bernhard hatte Mühe, ihn zu verstehen. »Ein Granatsplitter, Pawlik ...« Der Hakennasige griff sich zwischen die Oberschenkel. »Mann, Pawlik – ich will sie nicht verlieren, sie ist doch meine Frau – versteh doch. Also würdest du – was soll ich sagen – würdest du mir, wo du doch mein Freund bist – würdest du uns aushelfen?«

Schritt für Schritt und leicht schwankend entfernten sich die beiden. Die Hände des Hakennasigen waren im Ärmel von Pawliks Joppe verkrampft.

»Was ist denn nun? Komm schon, Städter!« Jessner-Franz fuchtelte bedrohlich mit seinen knochigen roten Fäusten vor Bernhard herum.

Bernhard sah zu Karla, die den beiden Männern ein paar Schritte hinterhergelaufen war und nun vor einer Hausmauer kauerte und ihre schmutzigen Hände aufs Gesicht drückte. Er durchbrach den Kreis der überraschten Dorfkinder und rannte zu ihr. Die Jungen und Mädchen sprangen sogleich auf, pfiffen und klapperten mit den Kochgeschirren. Karla drückte den Kopf auf ihren Schoß, ihre Schultern zuckten. Bernhard schob verlegen die Hände in die Hosentaschen. Er fragte: »Der mit der Vogelnase – das ist doch dein Vater?«

Karla schob sich, den Rücken an der Hausmauer, langsam hoch und rieb mit dem Saum des Kleides die Tränen aus ihrem Gesicht. Sie schluchzte auf und sagte: »Abends – da bringt er manchmal Männer mit nach Hause. Mich – schickt er ins Bett ... Ich kann aber nicht schlafen. Er – er läuft in der Küche auf und ab, oder er schärft auf dem Hof die Sense ... Und Mutter – sie lacht dann so laut, nein – sie schreit ...«

Karla drehte sich von ihm weg, blieb aber stehen.

Bernhard ging zu den Jungen und Mädchen zurück. Er sah Jessner in die Augen und wusste, dass er ihm wieder unterliegen würde.

»Tauschen wir«, sagte Bernhard. »Mein Brot gegen deinen Spiegel.«

Die Jungen und Mädchen riefen wild durcheinander. Jessner musterte Bernhard, dann sah er kurz auf seine wunden Hände und sagte: »Okay. Tauschen wir.«

Unter dem Geschrei der Kinder wechselten Brot und Spiegel den Besitzer. Bernhard lief zurück zu Karla, die ihn verunsichert, aber neugierig ansah. In einigem Abstand blieb er vor ihr stehen, streckte den Arm aus und reichte ihr wortlos den Spiegel.

Sie nahm ihn zögernd, sah hinein und zupfte mit flinken Fingern an ihren Haaren, spuckte sich auf den Handrücken und wischte damit über Stirn und Wangen.

Bernhard lachte leise auf. Eine sanfte warme Welle ging ihm durch Kopf und Brust. Er griff unwillkürlich nach ihren Händen, zuckte aber zurück, bevor er sie berührt hatte.

Aus einem Gehöft schoss mit aufheulendem Motor ein Jeep heraus. Drei amerikanische Soldaten saßen darin. Vor ihrer Brust hingen Maschinenpistolen. Ein vierter Soldat, dunkel wie die Nacht, saß lässig am Steuer des Wagens und rief ihnen lauthals lachend, die Kinder nachahmend zu: »Give me chocolate! Give me chewing gum!«

Der schwarze Ami lenkte den Jeep gewagt von einer Straßenseite zur anderen. Er hupte dabei anhaltend, dass ein schriller Ton alle anderen Geräusche übertönte. Staub wirbelte hoch auf. Die anderen Soldaten lehnten sich weit aus dem offenen Wagen heraus. Die Maschinenpistolen schlugen gegen das Blech des Autos. Ein Soldat warf in hohem Bogen eine Tafel Fliegerschokolade in die Straßenmitte. Der Jeep hielt an mit kreischenden Bremsen. Die Soldaten lehnten sich in den Sitzen zurück und warteten gespannt ab, welches der Dorfkinder wohl die Prügelei um die begehrte Schokolade gewinnen würde. Bernhard erreichte die Tafel Schokolade noch vor Jessner-Franz. Er presste sie an seine Brust und rannte wie um sein Leben durch die winkeligen Gassen des Dorfs und den Hügel hinauf zum Gehöft der Großeltern.

Berührungen

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