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Margitta (Und wenn ich sterben sollte, 2004)

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Maria atmete auf, wenn es ihr wieder einmal den Eindruck machte, dass Ruhe und Ordnung in der Stadt herrschten. Sie kochte für die Familie Kaffee und Kakao, beides von ihr wohlgehütet, schickte Bernhard nach frischen Brötchen, die sie aufschnitt und beide Seiten großzügig mit Butter bestrich.

»Du bist jetzt fast vierzehn Jahre alt, Junge«, sagte sie, besorgt hatte sie den dunklen Flaum über seiner Oberlippe bemerkt. »Das heißt nicht, dass du erwachsen bist, das nicht. Aber du bist getauft und sollst auch weiter als Christenmensch durchs Leben gehen. In einem Jahr verlässt du die Schule. Ich will, dass du konfirmiert wirst. Alles soll seine Ordnung haben.«

Bernhard erinnerte sich mit Unbehagen an Liebgotts Unterrichtsstunden und fürchtete einen neuen hinterhältigen Diener Gottes. Herbert Weisert drohte ihm: »Wenn du zu den Pfaffen gehst, brauchst du dich bei den Thälmannpionieren nicht mehr blicken lassen. Und deine Aufnahme in die Freie Deutsche Jugend kannst du dann vergessen.«

Bernhard sah die Welt nicht wie die Erwachsenen und mancher seiner Mitschüler in zwei einander feindliche Lager gespalten, und so konnte er sich auch zu keinem bekennen. Er glaubte nicht an »Klassenfeindschaft«, einen neuen Krieg, an Verzweiflung und Tod, er konnte schnell vergessen, er war voller Glauben ans Paradies, und er suchte es nicht in weiter Ferne oder womöglich im Himmel, sondern auf der Erde, vielleicht ganz in der Nähe, er musste es nur noch finden. Er lebte in gespannter Erwartung und ahnte Ungeheures, er rannte mehr als er ging, um nichts zu verpassen. Begehrlich und scheu zugleich fing er lächelnde Blicke schöner Frauen auf, die sich verlorener Träume erinnerten, ihres ersten scheuen Kusses gedachten und ihres Glaubens an die unvergängliche Liebe. Sein Herz klopfte wild. Er errötete, wenn er nur von ferne ein Mädchen sah. Er begehrte alle und wusste von keiner. Seine Träume verschafften ihm für kurze Zeit Lust und Erlösung, für die er sich dann schämte.

Die Jungen trafen sich in den Kanalwiesen. Sie betasteten aneinander die Steifheit ihrer Glieder. Sie sprangen nackt umher, griffen sich zwischen die Oberschenkel, lachten und johlten. Sie riefen nach »Weibern«, erzählten von ihren Müttern und Schwestern, bei denen sie dies und das entdeckt hatten. Sie grölten über schmutzige Witze, die sie laut tönend zum Besten gaben. Den unterernährten und etwas zurückgebliebenen Millich quälten sie mit bissigen Bemerkungen, weil er noch keine Haare an seinem »Ding« aufweisen konnte und es nicht schaffte, sein Glied steif zu bekommen. Sie riefen ihn »taubes Ei« und »leerer Sack«. Einmal, als sie, sich als Wilde wähnend, nackt umhersprangen und der Ruf nach »Weibern« laut wie nie wurde, tauchte Michas ältere Schwester auf, die den Bruder nach Hause bringen sollte. Die Jungen sprengten mit erschrockenen Aufschreien auseinander, rissen ihre Sachen an sich und verdrückten sich in den Wiesen.

Bernhard war bei allem dabei, es gefiel ihm umso mehr, je unbändiger es zuging, es war wie ein Sog, dem er nicht widerstehen konnte. Auf dem Nachhauseweg wurde ihm entsetzt bewusste: Er war nicht dazu geschaffen, ein »Heiliger« zu sein. Das Sterntalermädchen aus dem Märchen, das ihm in ihrer geschlechtslosen Reinheit jahrelang nahe gewesen war, zeigte sich unter ihrem dünnen Hemdchen aufreizend nackt, sie hatte Beine, Hüften und Brüste bekommen, und sie sprach mit dunkler und betörender Stimme zu ihm.

»Ich kann nicht in den Konfirmationsunterricht gehen«, wehrte er sich gegen die Weisung der Mutter.

»Was soll das denn heißen – du kannst nicht? Warum kannst du denn nicht?« Maria sah, roch, fühlte. »Findest du nicht auch«, sagte sie zu Bolz, »dass der Junge anders geworden ist. Selbst seine Stimme klingt verändert. Er sagt manchmal Worte, also ich weiß nicht ...«

Bolz lachte beruhigend. »Aus dem Jungen wird ein Mann, Maria. Es wird nicht lange dauern, da bringt er uns ein Mädchen ins Haus. Und ehe wir uns versehen, ist er, wie die anderen auch, auf und davon.«

Maria griff sich ans Herz, ihre Lippen färbten sich blau, sie rang nach Luft und stöhnte. Bolz bettete sie aufs Sofa und legte ihr einen kalten Waschlappen auf die Brust. Charly griente, zweifelnd und ohnehin hilflos, griff seine Aktentasche, warf sich die Jacke über und schloss sich Rita an. Die »Große« dachte an das Nächstliegende und machte sich auf die Suche nach einem funktionierenden Telefon, um den Arzt herbeizurufen.

»Du wirst doch tun, was ich dir sage, Bernd, mein Junge?« Maria rang nach Luft, sie zitterte am ganzen Körper und war nicht zu beruhigen.

Kunzke war vor ein paar Tagen abgemagert und verlegen lächelnd aus dem Krankenhaus in seine Klasse zurückgekehrt. Aus »gesundheitlichen Gründen« hatte man ihn von seiner Direktorstelle befreit. Die Jungen versuchten, ihrem Klassenleiter den Neuanfang leicht zu machen. Selten musste er sie ermahnen, ein Donnerwetter bekamen sie schon gar nicht von ihm zu hören.

Bernhard ging freitagnachmittags zum Konfirmationsunterricht in das kleine Pfarrhaus, das hinter der von Gewehrschüssen gezeichneten Kirche stand. Pfarrer Wendt, etwa fünfzig Jahre alt, reckte spähend den bleichen, hageren Schädel aus dem ihn eng einschließenden schwarzen Anzug. Mit zur Aufmerksamkeit zwingender Stimme und bereden Bewegungen der rötlich behaarten Hände trug er die biblischen Geschichten vor. Er sprach auch von der schweren Zeit der Prüfung, die den Gläubigen auferlegt worden sei, und dass die Christen sich jetzt enger denn je um ihren alleinigen Gott zusammenfinden müssten.

Bernhard gefiel seine Beredsamkeit, die Auftritte eines großen Mimen auf kleiner Bühne. In seiner kämpferischen Haltung erinnerte Pfarrer Wendt ihn an Direktor Kunzke. Auch beim Pfarrer spürte er die unumstößliche innere Überzeugung. Was er sagte, klang wahr, wie auch bei Kunzke, nur dass der Lehrer einen Gott für eine Märchenfigur hielt und über ihn lachte, während der Pfarrer ihn als lebendig bezeichnete und anbetete. Gab es also zwei Wahrheiten? Hörte Bernhard Kunzke zu, so glaubte er mit ihm an die Allmacht des Menschen, an seine Berufung zur Herrschaft über die Welt. Hörte er Wendt reden, war ihm der in den Himmeln verborgene Herrgott nahe, dem Rübezahl ähnlich, der als Berggeist den Menschen, je nachdem, ob sie ihn als übermächtigen Herrn anerkannten oder nicht, Gutes tat oder sie ins Unglück stürzte. Er fühlte sich atmen durch seinen Atem und sah sich ameisengroß auf der Erde nach seinem göttlichen Willen umhertrippeln. Pfarrer Wendt schaffte es, Bernhard noch einmal eine Tür zum Garten Eden zu öffnen. Der Junge schlüpfte durch, es war nur ein Schritt, und er tummelte sich kindlich selig mit seinesgleichen auf samtenen Wiesen zwischen Löwen, Lämmern und Tigern. In solchen Augenblicken war er ohne Wünsche, sein Glück war vollkommen. Es gab keine »Weiber« mehr, das Sterntalermädchen, im strahlend weißen Hemd, lächelte ihm schwesterlich zu.

»Bernhard ist auf dem rechten Weg«, beantwortete Pfarrer Wendt Marias besorgtes Nachfragen. »Ihr Sohn hat begriffen, dass der Glaube das Leben selbst ist.« Und Kunzke versicherte Maria beim Elternabend: »Bernhard wird den richtigen Weg gehen, Frau Bolz. Sein Bewusstsein ist stark gewachsen, er hat begriffen, dass er wissen muss, um zu leben.«

Die Mutter lächelte, sich ihrer Macht bewusst.

Bernhard fühlte sich rastlos wie das Pendel einer Uhr, er schwang hinüber und herüber und verlor an Kraft. Er suchte, nicht begreifend, Schutz bei Maria, ließ sich von ihr in die Arme nehmen, ihm wurde verziehen und er fühlte sich geliebt.

Aber kaum wieder erholt und auf der Straße, vergaß er, packte ihn Unruhe, wurde er bestimmt von dem quälenden Willen, alles zu sehen, zu riechen, zu atmen, anzufassen und zu bewegen. Ungeheures passierte in der Welt. Er wollte dabei sein. Mit Ungeduld wartete er auf seinen Schulabgang. Die Oberschule kam für ihn nicht infrage, es drängte ihn auch keiner, obwohl seine schulischen Leistungen besser geworden waren. Der Abschluss der achten Klasse reichte für einen Lehrberuf. Er war es müde still zu sitzen. Was er tun wollte, wusste er nicht, es war ihm gleichgültig, wenn er nur etwas tun konnte.

Kurz vor der Konfirmation, in den letzten Stunden bei Pfarrer Wendt, fiel er zurück in Verdammnis, das Spiel mit den wilden Tieren langweilte ihn, die Früchte des Gartens Eden verloren ihre Süße, die Blüten ihren Duft. Das Sterntalermädchen blinzelte vorwurfsvoll und puppenhaft blöd. Margitta Krüger, die lange Zeit nicht mehr in der Schule gewesen war und die er fast vergessen hatte, kam zum Konfirmationsunterricht in blau-weiß gepunktetem Kleid, weißwollenen Stöckchen, die dunklen Augen hingebungsvoll auf Pfarrer Wendt gerichtet.

Margitta Krügers Augen waren es, die Bernhard auferweckten. Er begegnete ihrem Blick, setzte sich mit einem Ruck gerade und war zu großen Taten bereit. Pfarrer Wendts Geschichten verblassten, seinen Händen fehlte die Beredsamkeit, der große Mime war nur noch ein gewöhnlicher Schauspieler in einer Nebenrolle.

Bernhard fragte sich, ob er denn blind gewesen war, erst jetzt bemerkte er, dass die Jungen und Mädchen in den Unterrichtsstunden mit unheiligen Dingen beschäftigt waren, dass sie unter den Tischen Zettelchen mit schüchternen oder vulgären Liebesbotschaften umhergehen ließen, Briefmarken und Stammbuchbilder tauschten, sich stießen und knufften oder ihre Hausaufgaben erledigten.

Jesus wurde verraten und trat seinen Leidensweg zum Kreuz an. Bernhard schrieb auf eine herausgerissene Heftseite: Sehr geehrtes Fräulein! Ich sitze ganz in Ihrer Nähe. Eine Reihe hinter Ihnen. Von der Tür aus, der dritte Stuhl. Es tut mir leid, dass Jesus jetzt bald ans Kreuz geschlagen wird. Bestimmt wird viel Blut fließen. Bitte erschrecken Sie nicht. Hochachtungsvoll Bernhard Teichmann.

Die schwungvollen, nach rechts geneigten Buchstaben hatten zittrige Linien. Die Punkte nach den Sätzen waren mit der Bleistiftspitze durchs Papier gedrückt. Er las seine Botschaft durch, leise, wie ein Gedicht, und sie erschien ihm von schicksalhafter Bedeutung. Entschlossen ließ er den sorgfältig zusammengefalteten Zettel von Hand zu Hand gehen, saß mit zugekniffenen Augen in gespannter Erwartung, bis sein Nachbar ihn in die Seite boxte und ein Zettelchen zuschob. Mit zitternden Händen entfaltete er es und las die in gleichmäßiger Schönschrift geschriebene Antwort: An Herrn Teichmann (persönlich)! Sie sitzen nicht auf dem dritten Stuhl von der Tür aus gesehen, sondern auf dem vierten. Finden Sie Pfarrer Wendt auch so himmlisch? Danke für die Warnung. Geben Sie mir ein Zeichen, wenn der Jesus am Kreuz leidet. Ich werde mir die Ohren zudrücken. Es grüßt Sie Margitta Krüger. P.S. Zeigen Sie meinen Brief nicht Ihrem Nachbar, der rechts von Ihnen sitzt. Er ist ein Petzer. Seine Mutter erzählt alles meiner Mutter. Vergessen Sie nicht das Zeichen!

Er hätte aufspringen und laut jubeln wollen. Seine Niederlage gegen Liebgott war also vergeben und vergessen. Er war erhört worden! Ganz leicht war es gewesen. Er glaubte an den Zauber seiner Worte. Margitta Krügers Nachricht klang ihm in den Ohren wie himmlisches Zitherspiel.

Mutig geworden, suchte er nun offen den Blick des Mädchens. Er sah suggestiv auf ihren Rücken, dass sie sich zu ihm umschaute. Er nickte, und sie drückte sogleich beide Hände auf die Ohren. Die Kreuzigung Jesu kam Minuten später, als sie längst die Hände von den Ohren genommen hatte; aber sie bekam nichts davon mit, obwohl er das Zeichen vergessen hatte. Es gab fortan nur noch sie zwei, in jeder Bewegung fühlten sie sich vom anderen wahrgenommen, in jedem Gedanken erkannt. Sie lachten oft gemeinsam und meist an völlig unpassenden Textstellen. Pfarrer Wendt rügte sie, sie erröteten und fielen bald darauf in ihr kindliches Werben zurück.

Bernhard hatte mit Margitta Krüger eine dritte Möglichkeit zu leben gefunden; es gab also ein Wesen, das zwischen den Weibern und den Engeln stand. Margitta Krüger war von der Reinheit des Sterntalermädchens, aber sie war auch von Fleisch und Blut wie die Weiber, und bestimmt konnte man sie auch berühren, wenn er das auch nicht wagte.

Nach den Konfirmationsstunden blieben beide, ohne es abgesprochen zu haben, hinter den anderen zurück, die mit Geschrei den Kirchhügel hinunterstoben. Sie fanden eine Bank vor den Goldregenbüschen nahe der Kirchenmauer, setzten sich umständlich, sahen in die gewaltige Kuppel des Himmels, die von der zum Abend noch einmal aufflammenden Sonne mit gleißendem Rot ausgeleuchtet wurde, als wäre es ein Zeichen. Die Luft war sommerlich warm und weich. Auf dem Wege duschten sich Sperlinge mit Staub und tschilpten unentwegt. Die Stadt summte indessen müde vom Tag.

Sie saßen minutenlang schweigend, ohne sich anzusehen, mit pochenden Herzen. Er fühlte seine Kehle trocken, den Nacken steif und die Finger starr. Es ging ihm nicht gut, in ihm schien nichts an seinem Platz, und doch hätte er mit keinem getauscht. Er lebte im Augenblick. All das namenlose Verlangen, das ihn in den letzten Wochen getrieben hatte, erschien ihm erfüllt. Mehr brauchte es nicht, mehr konnte nicht sein. Er hatte endlich die Tür gefunden und war hindurchgegangen. Er war ohne Last, ohne Gedanken an das ersehnte Wort, an das willkommen heißende Lächeln, den weisenden Weg und den erlösenden Kuss. Ja, er war über die Schwelle gegangen, hatte abgeworfen, was ihm angehangen hatte, und stand nun, neu geboren und voller Erwartung, noch einmal ganz am Anfang.

Zusammen und jeden Schritt hinauszögernd gingen sie von der Schule nach Hause, bis sich nach kurzer Strecke ihre Wege trennten. Sie reichte ihm zum Abschied die Hand. Er nahm und drückte sie, dass sie leise aufschrie. Als sie nicht mehr zu sehen war, rannte er los, in großen Sprüngen, die Arme, wie sein Bruder Charly es tat, hochgeworfen, und er dachte, wenn er nur wollte, könnte er jeden Augenblick abheben und fliegen.

Herbert Weisert hatte nun wohl endgültig mit Bernhard gebrochen. Er hatte ihm den Zutritt zum Bastelschuppen der Pionierorganisation verwehrt, die Faust gegen ihn erhoben und gedroht: »Lass dich hier nicht wieder sehen! Ich schlage dich kurz und klein, Teichmann, du Pfaffenknecht!«

Bernhard hatte ihm nicht erklären können, was er sich selbst nicht zu erklären wusste. Er hatte eindringlich an ihre Freundschaft appelliert, um die weitere Teilnahme an den Pioniernachmittagen gebettelt. Weisert hatte vor ihm die Schuppentür zugeschlagen. Im Unterricht oder wenn sie sich auf der Straße begegneten, hatte er keinen Blick mehr für ihn übrig, geschweige denn ein Wort. Dieser Junge war wie aus grauem Stein, in dem ein unbarmherziges Feuer loderte.

Bernhard hätte seiner Freundschaft zu Weisert alles geopfert, nur nicht seine Liebe zu Margitta Krüger. Freundschaft und Liebe waren wohl unvereinbar. Wie die Jungen Pioniere und der Konfirmationsunterricht. Er und Herbert befanden sich in gegensätzlichen, vielleicht sogar einander feindlich gegenüberstehenden Welten. Und sie hatten gewählt.

War Bernhard mit dem Mädchen zusammen, bereute er nichts. Dann war alles richtig und gut, dann war er frei von allen Zweifeln und Selbstvorwürfen. Sie versuchten, jeden Tag zusammen zu sein. Manchmal reichte die Zeit nur für eine flüchtige Begegnung zur großen Pause auf dem Schulhof. Ihre Blicke bauten eine Brücke, die für eine kurze, aber innige Berührung reichte.

Fanden sie mehr Zeit füreinander, gingen sie nach der Schule ein Stück Wegs miteinander, sie kauften im Konsum eine Limonade oder eine Tüte Bonbons, die sie auf dem Rückweg miteinander teilten. Im Konfirmationsunterricht tauschten sie ungestört Nachrichten aus. An den Nachmittagen, wenn sie nicht mit Einkäufen und Hausarbeit beschäftigt waren, liefen sie aus der Stadt hinaus in die wuchernden Wiesen am Ufer des Flutkanals, weit genug entfernt von der Stelle, wo die Jungen sich trafen. Sie sprachen wenig, es war alles gesagt, wenn sie nur zusammen waren. Sie pflückten Blumen, die Margitta zu einem Strauß band, den sie auf den schaumig-weißen Kamm der Strömung warf und von ihr eilig davongetragen wurde. Sie lagen nebeneinander auf dem Rücken und sahen in den überwältigend weiten Himmel, hörten in das gleichmäßige Rauschen des Flusses, rissen Grashalme ab, steckten sie zwischen die Lippen und ließen sie tanzen. In allem, was da um sie war, was kam und ging oder einen Platz gefunden hatte, fanden sie sich wieder. Sie kamen nicht auf den Gedanken, einander zu streicheln, zu umarmen, vielleicht sogar zu küssen. Sie fanden es vollkommen, wie es war, es fehlte ihnen an nichts. Sie lebten im kindlichen Überfluss.

Bis zur Dämmerung waren sie in den Flusswiesen geblieben, keiner hatte zum Aufbruch gedrängt. Sie spürten, diesmal würden sie miteinander sprechen müssen. Das machte sie unruhig, denn sie wussten nicht, ob sie die Worte finden würden.

Die Vögel kehrten zurück ins Laub der Büsche und Bäume. Die Sonne sank zusehends und verlor an Kraft. Der Fluss färbte sich dunkler. Die Blüten der Goldnessel und der vielen anderen Wildblumen schlossen, die Gräser neigten sich.

Er saß wie aus schwerem Holz gehauen und doch voller Unruhe neben ihr. »Ich muss losgehen«, sagte er mit fremder Stimme. »Ich – halte es nicht mehr aus.« Er wandte sich ihr jäh zu, sie waren beide zusammengezuckt und fröstelten.

Von ihrem Zuhause wusste Bernhard nur, dass ihre Eltern oft wochenlang irgendwo im Land zu Lehrgängen und Tagungen unterwegs waren. Margitta lebte die meiste Zeit über bei ihrer Großmutter, einer fast tauben und naschhaften Frau, die den Bibelforschern angehörte und in kindlicher Vorfreude den Weltuntergang erwartete.

»Ich gehe mit dir, wohin du willst«, sagte Margitta ernst und feierlich. Ihr Gesicht war bleich, um sie herum verblassten die Farben, sie griff mit beiden Händen in ihre auch im Zwielicht blau schimmernden Haare, es sah aus, als hielte sie sich die Ohren zu gegen einen Chor mahnender Stimmen.

»Das ist gut«, sagte er, und er hörte Maria gebieterisch ihre Stimme erheben und Charly ungläubig auflachen.

»Wann?«, fragte sie, nahm die Hände vom Kopf, wirkte nun gelöst und fraulich erfahren. »Wir müssen es bald tun. Übermorgen kommen meine Eltern zurück. Ich will sie nicht mehr sehen. Am besten, wir tun es heute Abend.«

»Heute Abend«, versprach er feierlich. »Ja, heute Abend. Wir werden weit fortgehen müssen. Sehr weit.«

Zum ersten Mal umarmten sie sich, kurz und heftig, sie nannten einander beim Namen, anfangs scheu, doch bald vertraut, er sagte: »Margitta« und sie: »Bernhard«, es klang wie ein großes Versprechen.

Die Sonne gewann noch einmal an Kraft und verlosch hinter dem Fluss. Ein milchiger Lichtstreif über dem Wasser führte wie ein bald straff gespanntes, bald durchhängendes Seil aus der Stadt hinaus.

»Oder hast du Angst?«, fragte er, einen Augenblick lang fassungslos über das Ungeheuerliche.

»Nein«, antwortete sie zu allem entschlossen. »Zwanzig Uhr treffen wir uns an Weishaupts Lebensmittelladen. Sei pünktlich.«

Nach dem Abendessen blieb die Familie wie gewöhnlich noch für ein paar Minuten am Tisch sitzen, bevor sie gemeinsam abräumten und das Geschirr spülten. Nur Jinni machte sich, auf einen Blick Marias hin, leise maulend fertig fürs Bett. Charly schrieb, das Notizbuch auf den Knien, an einem Artikel für das einzige ortsansässige Tageblatt, dass er, wie alle Presseerzeugnisse, für wert befand, sich ausgezeichnet zum Einwickeln für Dinge aller Art und als Fidibus zu eigen. Bolz, der lange nicht mehr gesungen hatte, suchte, die Tonleiter rauf und runter trillernd, eine Melodie, ein Lied: »... dem niemals fiel das Wan-dern, das Wa-an-dern ein ...«

Bernhard musterte Bolz misstrauisch, dann spähte er zur Mutter, die bereits begann, die Teller zusammenzustellen. Der kleine Zeiger der Standuhr rückte auf Viertel vor acht vor, er stand geduckt auf und erreichte, die knarrende Diele umgehend, den unbeleuchteten Flur.

»Bernhard?« Maria war, was ihre Kinder anging, immer vorbereitet und dann doch zutiefst erschrocken, wenn sich eine ihrer Ahnung bewahrheitete. »Ja, wo willst du denn hin? Um diese Zeit?«

»Ich? Mir geht´s – nicht gut.«

Tränen schossen ihm in die Augen, eine Welle der Selbstverachtung nahm ihm den Willen.

»Geh nur an die frische Luft, Junge«, rief Bolz gutmütig. »Das hängt alles mit der Entwicklung zusammen. Geh eine Runde ums Haus, dann wird dir gleich besser.«

»Er bleibt«, befahl Maria. »Die Luft hier drinnen ist nicht schlechter als die da draußen. Setz dich zurück auf deinen Stuhl, du dummer Kerl. Ich koche dir einen Tee.«

Maria kam bald darauf mit einer Tasse dampfenden Tee und einem Schwall herzhaften Kamillengeruch aus der Küche zurück, setzte sich aufs Sofa und bedeutete Rita, Platz für ihren Bruder zu machen. Bernhard tappte zur Mutter, setzte sich neben sie und ließ sich von ihr in die Arme nehmen. Seine Tränen versiegten, aus dem Körper der Mutter strömte Wärme in ihn. Er ließ es geschehen, lehnte ergeben an ihr, den Kopf an ihre Brust gedrückt.

Charly räusperte sich spöttisch, setzte zu einer seiner weitschweifigen Bemerkungen an, doch Maria fuhr ihn leise, aber scharf an: »Halt den Mund! Halt du jetzt den Mund!«

Bolz legte Charly, der aufbegehren wollte, beschwichtigend die Hand auf die Schulter, ging zur Vitrine und schenkte sich und Charly ein Schnäpschen ein. Maria war das nicht entgangen, aber sie schwieg, führte Bernhard die Tasse an den Mund, gab ihm in kleinen Schlucken zu trinken. »Du dummer Junge. Mein kleiner dummer Junge«, sagte sie kopfschüttelnd.

Bernhard war es wohlig warm, er entspannte sich, wurde träge und lächelte dankbar. Er hatte nie einen Weg gesehen, der Lichtstreif zwischen Erde Himmel war ein Hirngespinst gewesen, nie hatten ihn Margittas Hände berührt, nie hatte sie ihn beim Namen genannt.

Er ließ sich von der Mutter zu Bett bringen, wie sie es mit ihm noch getan hatte, als er bereits das dritte Jahr zur Schule ging. Sie deckte ihn zu, faltete seine Hände zum Gebet und küsste ihn auf die Stirn. Auf Zehenspitzen verließ sie das Zimmer, die Tür spaltbreit offen lassend.

Er schlief augenblicklich ein, noch ganz im Wohlgefühl von Marias Wärme. Er lag auf der Seite, den Rücken gekrümmt, die Knie zur Brust gezogen, die Arme angewinkelt.

Gegen Mitternacht erwachte er, aus dem Schlaf gerissen zog er sich überhastet an, öffnete das Fenster, kletterte an der Dachrinne in den Hinterhof, stieg über Mauern und Schuppendächer und gelangte auf die Straße. Erschrocken und hilflos stand er in ihrer nächtlichen Einsamkeit, dann nahm er all seinen Mut zusammen und rannte los.

Weishaupts Lebensmittelladen war mit Eisengittern verschlossen. Am Straßenrand, unter einem Berg leerer Pappkartons machte sich eine Katze zu schaffen. Er wusste es doch, keine fünfzig Meter weiter endete die Straße an der dreigeschossigen Häuserfront einer ehemaligen Eisenbahnersiedlung. Die Häuser waren im Halbkreis gebaut, davor war ein kleiner Platz, in dessen Mitte ein Betonsockel stand, von dem Buntmetalldiebe das geflügelte Bronzerad gestohlen hatten.

Er setzte sich auf die Steinstufen, die zu Weishaupts Lebensmittelladen hinaufführten. Häuser, Laternenpfähle, ein paar Bäume, alles stand unbeweglich und lautlos im wächsernen Licht. Er blickte Hilfe suchend zum Himmel, der ebenso bleich und schlaff zur Erde durchhing.

Bernhard versuchte, ihren Namen auszusprechen, den er deutlich vor Augen hatte: Mar ̶ git ̶ ta. Umso mehr er sich bemühte, desto weniger konnte er hoffen, dass es ihm noch gelang. Er sagte stockend seinen Namen und wiederholte ihn mehrmals. Nichts bewegte, nichts gab einen Laut von sich. Seine Nägel krallten sich unter die Haut, er fühlte keinen Schmerz. Laut rief er seinen Namen, er hörte nichts. Er rief viele Namen, niemand hörte ihn, er schlug mit den Fäusten auf spröde Hausmauern ein, rannte die Straßen hinauf und hinunter, drehte sich um sich selbst und schrie seine Verzweiflung in alle Welt. Aber es öffnete sich keine Tür, kein Fenster, kein Licht ging an.

Wie ein geprügelter Hund schlich er zurück. Maria empfing ihn an der Haustür. Er hörte ihre Vorwürfe nicht, spürte nicht ihre Schläge, er war nur froh, zurückgefunden zu haben.

Bolz schlief diese Nacht in Bernhards Bett, und der reumütige Rückkehrer musste sich neben Maria legen. Sie griff nach seiner Hand, sie ließen einander die Nacht über nicht los. Die Augen offen wagten sie nicht, einander anzusehen.

Die Mutter bereitete Bernhards Konfirmation vor. Sie schnitt und nähte an einem von Charly abgelegten Anzug herum, bis er ihm wenigstens halbwegs passte. Auf ihr Drängen hin hatte Bolz, mit seinen Beziehungen als Ausbildungsleiter, für Bernhard eine Lehrstelle beschafft, die er sonst vermutlich nicht bekommen hätte.

Bernhard verspürte keine Lust auf eine Lehre als Fernmeldemechaniker mit der Aussicht auf ein späteres Ingenieurstudium. Er konnte sich nicht wie viele andere Jungen für Autos, Flugzeuge oder die Radiobastelei begeistern. Man sprach jetzt viel über das Fernsehen. Das erste Versuchsprogramm wurde mit ungläubigem Staunen erwartet. Er nahm alle technischen Neuerungen, die in der Zeitung begeistert gefeiert und von vielen begrüßt wurden, ungerührt hin. Von der Arbeit, auf ihren Ernst und seine Pflicht allzu oft hingewiesen, war jedenfalls nicht die Fortsetzung kindlichen Spiels zu erwarten. Er malte gern, vor allem mit Wasserfarben, die er ineinander verlaufen ließ, wie es in den Flusswiesen das Licht mit den unvorstellbar vielen Farben tat. Der Zeichenlehrer hatte ihm Talent bestätigt und vorgeschlagen, sich an der Porzellanmalerschule zu bewerben. Maria hatte dazu energisch den Kopf geschüttelt – ihr Junge die Woche über in Meißen und nur zum Wochenende daheim: das war schier unmöglich, er war doch noch ein Kind, das der Mutter bedurfte.

Bis zu seiner Schulentlassung suchte er nun oft die Nähe der kleinen Schwester, sie spielten und schwatzten miteinander und hatten ihre Freude daran. Die Konfirmation selbst und die Feier danach hatten für Bernhard keine Bedeutung mehr. Margitta Krüger hatte ihn, wie vor Jahren schon einmal, keines Blickes mehr gewürdigt, und er war ihr beflissen aus dem Weg gegangen. Eines Tages fehlte sie an der Schule, es hieß, sie sei mit ihren Eltern nach Ostberlin gezogen.

Herbert Weisert begegnete ihm weiter mit unverhohlener Verachtung. Viele der Jungen lösten jetzt ihre Freundschaften auf, die gegebenen Versprechen waren vergessen, sie waren in Aufbruchstimmung und hatten Neues im Sinn. Nur wenige hatten Lehrstellen nach Wunsch bekommen. Die meisten gingen in Bauberufe, drei sollten Dreher werden, einer Ofensetzer, und die zwei besten der Arbeiterkinder würden die Oberschule besuchen. Sie wurden von allen bemitleidet, als wären sie zu schwerer Strafe verurteilt. Die Jungen sehnten sich nach Selbstständigkeit, sie wollten arbeiten, endlich etwas unter den eigenen Händen entstehen sehen und nicht zuletzt eigenes Geld verdienen. Lange gehegte Träume sollten nun in Erfüllung gehen. Die teuersten Zigaretten wollten sie rauchen, kreppsohlige Schuhe mit gelbem Oberleder tragen, jeden Film, vor allem die nicht jugendfreien, ansehen, und es gab nicht einen unter ihnen, der kein Motorrad besitzen wollte. Mit so einem herausgeputzten »Maschinchen« war alles möglich, warum also keine Karriere als Rennfahrer? Alle Möglichkeiten sollten ihnen offenstehen. Ja, sie waren, wenn noch nicht volljährig, so doch erwachsen!

Bernhard saß mit Jinni inmitten der äußerst mühselig aus Schutt und Asche auferstehenden Stadt im staubigen und stellenweise verbrannten Gras eines Bahndamms. Die Sonne brannte ihnen in den Nacken. Hinter ihnen, in winzigen Gärten einer Reihenhaussiedlung, entfalteten sich duftende Blüten den eifrig umhersurrenden Insekten. Aus den instandgesetzten Schornsteinen des alten Gaswerks quollen bleigraue bis kohlenschwarze Rußwolken, die, sich fächerartig ausbreitend, feine Asche herabregneten. An den maroden Fassaden der hohen Mietshäuser wirkten die mit Bohnen, Tomaten und Gurken bepflanzten Blumenkästen wie unzählige kleine Lebenszeichen. Vereinzelt erhob sich eher schüchtern ein in Bau befindliches Haus, und an Fahnenmasten, denen man überall in der Stadt begegnete, wehten rote und schwarz-rot-goldene Flaggen.

Schwer stampften die gewaltigen Lokomotiven in die Stadt hinein und aus ihr heraus, sie zogen eine lange Kette mit Stückgut beladener oder mit Menschen überfüllter Waggons. Die Pfiffe der schwarzen Kolosse klangen müde, wenn sie in die Stadt hineinfuhren, und kraftvoll, wenn sie sie verließen. Bernhards Herz klopfte im Rhythmus der stampfenden Schienenstöße, und wenn es auf dem Bahngelände längere Zeit still blieb, legte er ein Ohr auf ein Gleis nach dem anderen und lauschte, ob nicht bald ein Zug käme und wie weit er noch entfernt war.

Er watete mit Jinni durch den Wassergraben, der sich am Fuß des Bahndammes hinzog. Die Schwester jauchzte auf, wenn er einen Molch aus dem Wasser gegriffen und ihr in die Hände gelegt hatte.

Dann wieder, wenn sie des Spiels müde, nebeneinander auf dem Bahndamm saßen, fühlte er sich von der Stadt umklammert und dachte mutlos an die kommenden Lehrjahre.

»Schließ die Augen!«, befahl Jinni. Sie drückte seine Hand. »Und nun mach einen Schritt! Nur neun Fingerspitzen weit!«

Die nahen Schienen bebten. Ein Schnellzug, über dem Bahndamm ein Funkenfeuerwerk entzündend, stob mit schrillem Pfiff an ihnen vorbei und in wenigen Minuten aus der Stadt hinaus. Bernhard schloss die Augen und machte einen großen Schritt. Und noch einen.

»Siehst du«, sagte Jinni, »nun sind wir in Afrika.«

Als er die Augen öffnete, sah und hörte er, was er all die Zeit vorher schon gesehen und gehört hatte. »Ach ja.« Er seufzte, sich an etwas erinnernd, das es dazumal gegeben hatte oder auch nicht. Er nickte wiederholt und nachdrücklich, ganz wie ein Alter. »So leicht war das einmal.« Bereitwillig ließ er sich von Jinni an die Hand nehmen und nach Hause führen.

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