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Manja (Eine Handvoll Sehnsucht, 1999)

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Schon am ersten Tag seines Hierseins war Ludwig in die Berge gegangen. Jeden folgenden Tag stieg er höher. Die Pfade wurden schmaler, manchmal musste er ein paar Meter klettern, um weiterzukommen. Die Höhe machte ihm nichts aus, er wurde gewandter und umsichtiger, seine Ausdauer nahm zu.

In den Bergen fühlte er sich leicht und sicher, manchmal dachte er, dass da noch ein anderer, dem er noch mehr zutraute, in ihm wäre. Doch nach ein paar Tagen, als er auf seinem ersten Gipfel stand und ins Tal blickte, fehlte ihm etwas. Da stieg er hinab in den Ort und ging unter Menschen.

Urlauber flanierten in den Straßen und winkeligen Gassen, fotografierten den Marktbrunnen und buckelige Fachwerkhäuser, blieben vor Schaufenstern stehen und besichtigten die Wehrkirche, deren Tür tags weit offenstand. Andere saßen auf Bänken, das Gesicht der Sonne zugewandt, und zu den Mahlzeiten vor den Gasthöfen. Am See, etwas außerhalb des Ortes, lagen die Jüngeren auf bunten Decken, spielten Volleyball oder standen am Kiosk nach Erfrischungen an. Abseits, wo der Uferstreifen schmal und schwer zugänglich war, saßen Angler in Klappstühlen. Der Junge sah ihnen zu, aber als minutenlang nichts passierte, rannte er zurück in den Ort, und lief erneut durch das enge Gezweig der Gassen. Am Rathaus blieb er bei einem Alten stehen, der hier gewöhnlich zwischen zwei Blumenkübeln saß und unverwandt in die Wasserfontänen des Marktbrunnens blickte. Ludwig konnte an dem aufsteigenden Wasserstrahl, der etwa in zwei Meter Höhe auseinanderfiel und in abertausend silbrigen Tropfen auf die Wasseroberfläche aufschlug, nichts Besonderes entdecken. Letztlich ging er weiter, ohne zu verstehen.

Ludwig kannte rasch jeden Glockläutner, der ihm begegnete, vom Gesicht her. Auch einige Gäste traf er häufig wieder. Manchmal erschien ihm der herausgeputzte Ort wie eine Puppenbühne, auf der jeden Tag das gleiche Stück gegeben wurde. Es war wie daheim oder andernorts, wo er längere Zeit gewesen war. Es kam auch mal eine Person hinzu, eine andere blieb weg, die Leute wechselten ihre Sachen, gestern wirkten sie überhastet und heute hatten sie alle Zeit der Welt. Sie verhielten sich auch mal ungewohnt, aber insgesamt blieb es, wie es war.

Bei »Trudchen«, unweit vom Supermarkt, fand Ludwig etwas zum Naschen. Der Laden, aus dem durch ein Fenster Andenken, Getränke und Süßigkeiten verkauft wurden, war Teil einer Wohnung. Von der schrulligen Ladenbesitzerin kannten die meisten Kunden nur ihr gutmütig-breites Gesicht, den ausladenden Oberkörper und die dicken nackten Arme. Trudchen eben. Sie sagte zu jedem, der ans Fenster trat. »Herzerl. Womit kann ich dir denn heute eine Freude machen?«

Ein paar Meter entfernt, auf der anderen Straßenseite, war eine freie Rasenfläche. In ihrer Mitte befand sich ein Gedenkstein, bei dem sich eine junge Birke an eine alte Buche schmiegte. Hier war der Treffpunkt der einheimischen Jugendlichen.

Seit Ludwig in Glockläuten war, kam er jeden Tag hier vorbei. Nach Trudchens Laden wurde Ludwig langsamer und sah wie nebenbei über die Straße. Auch die Gesichter der ihm etwa gleichaltrigen Jungen und Mädchen hatten sich ihm eingeprägt. Ihre kommandierenden Zurufe und übermütigen Schreie, ihr bald zustimmendes und bald höhnisches Lachen und ihre schrillen Pfiffe waren ohnehin nicht zu überhören. Es zuckte ihm in den Füßen, wenn er den Ball zwischen ihnen hin- und herspringen sah.

Heute ging er besonders langsam. Eines der Mädchen, das ihm schon vorher aufgefallen war, rief etwas über die Straße. Ludwig blieb unwillkürlich stehen und sah sich um.

Der Junge zögerte, das Mädchen winkte und lachte. Er schob die Hände in die Hosentasche, überquerte die Straße, blieb auf dem schmalen Fußweg stehen und sah zu, wie die Jungen sich den Ball abjagten. Das Mädchen sprang mit einem Jauchzer dazwischen, schnappte sich den Ball und stellte sich vor den Ankömmling.

Ludwig spürte, wie ihm das Blut heiß in den Kopf schoss. Das war wie eine verhasste Kinderkrankheit, die er einfach nicht losbekam. Das Mädchen mochte etwas älter sein als er. Vielleicht vierzehn, fünfzehn. Sie hatte wuschelige rote Haare, spöttische Augen und einen kleinen roten Mund. Ihr Gesicht und die Arme waren mit Sommersprossen übersät. Sie trug einen knallig gelben Pulli, kurze ausgefranste Jeans, und ihre nackten Füße waren schmutzig und voller Schrammen.

»Ich bin Manja«, sagte das Mädchen, als mache sie nur noch einmal auf etwas aufmerksam, das allgemein bekannt war.

Ludwig nickte verhalten, dann sagte er: »Ludwig. – Ich heiße Ludwig Grün.«

Der Junge war mindestens einen halben Kopf größer als das Mädchen, doch er kam sich ihr gegenüber kleiner vor.

»Grüner Ludwig!« Manja lachte. »Klingt wie ein Vogelname.«

Einige Mädchen «glucksten abwartend, die Jungen pfiffen.

Ludwig sah ausweichend über die spitzen Dächer des Ortes, wo der schneebedeckte Gipfel des im näheren Umkreis höchsten Berges zu sehen war.

Manja drehte den Kopf leicht beiseite und fuhr die anderen an: »He, nun seid doch nicht blöd!«

Ludwig hörte ihrem Lachen nach. Es war das Lachen eines Mädchens, klang aber auch wie das einer Frau. Und wie er es noch nicht gehört hatte, als sagte es: Folge mir.

»Der kommt von drüben«, sagte ein Junge. »Er wohnt bei den Anzengrubers. Die sollen ihn aufpäppeln.«

Ludwig hatte den Jungen stets in der Nähe des Mädchens gesehen. Die anderen riefen ihn Toni. Er war nicht groß, aber kräftig, seine schwarzen Haare waren kurz und drahtig, die dunklen Augen blickten entschlossen.

Toni stellte sich neben Manja, dass sich ihre Oberarme leicht berührten.

Manja lachte leise auf und warf den Ball überraschend und scharf Ludwig zu, der ihn dennoch auffing.

»Drüben gibt es nicht mehr«, sagte belehrend ein Mädchen.

»Drüben bleibt drüben«, entgegnete Toni. »Sagt mein Vater. Alle sagen es.«

»Und du?« Manja stupste Ludwig mit dem Zeigefinger gegen die Brust. »Was sagst du?«

»Ich?« Ludwig drehte den Ball zwischen seinen Händen, er war prall und glatt und roch nach Gras. »Ich – ich weiß nicht.«

Geschickt riss Toni den Ball an sich und stellte einen Fuß darauf.

»Soll ich dir was schenken?« Manja streckte Ludwig die Hand hin, sie war geschlossen, die Finger bewegten sich ein wenig. Als befände sich etwas Lebendiges darin.

»Was hast du denn da?«, rief Toni.

»Na, wer von euch will es haben?« Das Mädchen hielt ihre Hand einmal dem einen, dann dem anderen Jungen hin. Nun legte sie zärtlich ihre andere Hand darum, zog sie an ihre Brust, öffnete sie spaltbreit, lugte hinein, roch daran, hob sie ans Ohr, schüttelte sie ein wenig und lauschte träumerisch.

Die Blicke der beiden Jungen begegneten sich, sie sahen weg, als fühlten sie sich ertappt.

Manja warf jäh beide Arme hoch und rannte los, die Straße hinunter.

Die Jungen und Mädchen jagten ihr hinterher, als erster Toni, er rief: »Warte nur! Ich krieg dich doch!«

Ludwig war mit losgerannt, aber dann doch stehen geblieben. Er sah ihnen hinterher, bis sie in einer Seitengasse verschwanden.

Von nun an blieb Ludwig auch tagsüber im Gasthof der Anzengrubers. Er half bei der Arbeit, schälte Kartoffeln, schabte Möhren, lernte Kaffee kochen und dergleichen mehr. Es dauerte nicht lange, da nahm er in der Gaststube auch Bestellungen auf und half, Getränke und Speisen zu servieren. Er fragte: »Die Herrschaften wünschen, bitte schön?« Und er sagte: »Hat es den Herrschaften geschmeckt? Danke auch schön. Beehren Sie uns doch wieder.« Die Gäste mochten ihn, er war in allem noch ungeschickt, doch er lernte schnell, sein breiter Dialekt belustigte sie.

Im »Edelweiß«, das auch Hotel war, gab es immer zu tun. Ludwig fasste zu, wo er gebraucht wurde. Zu Hause hätten sie gestaunt. Vor allem Mutter, die oft sagte: »Junge, für die Hausarbeit bist du einfach nicht zu gebrauchen.«

Tante Anni fragte Ludwig manchmal, wenn er allzu eifrig war: »Nicht dass du uns noch krank wirst, Bub. Die Schwester würde mir was erzählen. Sei kein Depp, auf mit dir! Ja, willst du denn heut nicht in den Bergen kraxeln?«

Der Onkel aber war zufrieden über die unerwartete Hilfe. Er legte Ludwig seine schwere Hand auf die Schulter. »Ist schon recht«, sagte er. »Hallodris hat’s genug. Ein sauberer Kerl muss zufassen können.«

»Der Ludwig ist noch ein Bub«, entgegnete die Tante. »Die Schwester hat ihn nicht zur Arbeit hergeschickt.«

Der Onkel schüttelte den Sturkopf, zwinkerte Ludwig zu und lief nach draußen, wo gerade der Getränkewagen vorfuhr.

Manchmal ließ Ludwig alles stehen und liegen und rannte vors Haus, als hätte ihn irgendwer gerufen. Er sah die wenig belebte Straße hinunter, dann hinauf zu den Bergen. Selbst der wolkenlose Himmel konnte ihn nicht freuen. Nicht das Grün der aufsteigenden Wiesen. Nicht die riesige Kastanie im Innenhof der Grundstücke, die ihn mit ihrer stillen Kraft beeindruckte. Vor dem Schlafen öffnete er weit das Fenster seiner Kammer und suchte die ungeheure Fülle von Blättern ab, als wäre etwas darin verborgen, das allein für ihn bestimmt war.

Bevor er einschlief, kam ihm das Bild des Mädchens vor Augen. Manja. Er sah sie die Arme hochwerfen und davonrennen. Hinein ins Blau. Seine Hände und Füße zuckten. Mal fühlte er sich wie eine Feder, mal wie ein Stein. Was hielt sie da bloß in ihrer Hand versteckt?

Es kam jetzt vor, da hielt der Junge es nicht mehr bei der Arbeit aus, ohne ein Wort zu verlieren, lief er nach draußen. Die Küchenfrauen sahen sich fragend an, eine meinte: »Was soll er schon haben? Einen gewaltigen Schwarm Hummeln im Hintern.«

Ludwig hörte das Lachen der Frauen noch auf der Straße. Er rannte einen der abzweigenden Wege hoch. Wo der eigentliche Aufstieg begann, hielt er an. Was sollte er da oben?

Er kehrte um. Wie ein Dieb schlich er durch den Ort. Gebückt stand er hinter einer Hecke und beobachtete Trudchens Laden und die Rasenfläche um Buche und Birke. Die ersten Mädchen und Jungen kamen zum Treff. Andere folgten. Jeder machte Halt vor Trudchens Laden, kaufte Cola, Bonbons oder Eis. Nun kam auch Toni gerannt, mit dem roten Ball geschickt die Fußgänger umdribbelnd. Bei Trudchen kaufte er zwei Tüten Eis. In jeder Hand eine, den Ball zwischen den Füßen, wartete er am Ladenfenster.

Ludwig sah Manja schon von weitem. Sie kam aus dem Blau, bunt und leicht. Und sie würde im Blau verschwinden, wie sie gekommen war. Toni gab ihr eine Eistüte, sie überquerten fröhlich die Straße und stellten sich zu den anderen.

Ludwig wollte nicht warten, bis das ausgelassene Spiel im Gange war. Er wusste nicht, was er hier sollte? Worauf wartete er eigentlich, hinter der Hecke, wie ein Spanner? Er würde nie erfahren, was das Mädchen in der Hand hatte. Und für wen es bestimmt war.

Geduckt verließ er das Versteck. Manja. Er hörte sie lachen. Rufen. Worüber lachte sie? Wen rief sie? Er verstand das alles nicht. Als er nicht mehr entdeckt werden konnte, rannte er los, rannte, bis er müde bei den Anzengrubers ankam.

»Was war denn?«, fragte die Tante besorgt.

»Hat meine Mutter angerufen?«, fragte Ludwig.

Die Tante schüttelte den Kopf, sie sagte: »Junge, du kannst mir sagen, wenn was ist.«

Ludwig fragte nach Arbeit, er erledigte willig, was ihm aufgetragen wurde.

Wenn das Telefon klingelte, war er noch vor dem Onkel am Apparat. Warum rief seine Mutter nicht an? Sie hatte ihm ausdrücklich versprechen müssen, nicht anzurufen. »Ich komme schon zurecht«, hatte er gesagt. Hatte er vielleicht Heimweh wie ein kleines Kind? Vielleicht wäre es besser gewesen, mit anderen Schülern ins Ferienlager an die Ostsee zu fahren.

Dieses »Mädchen aus dem Blau«, wie er Manja nannte, war nun ständig in seinen Gedanken. Sie drängte sich sogar in seine Träume. Saß auf der Mondsichel. Ließ die braunen Beine baumeln. Warf ihm den roten Ball zu. Aber er konnte ihn einfach nicht auffangen.

Was er auch anpackte, er war nicht bei der Sache, nichts wollte ihm gelingen. In der Küche glitt ihm Geschirr aus den Händen. Einem Gast schüttete er Wein auf den Anzug. Manchmal stolperte er sogar, wie die Clowns in der Manege, über die eigenen Füße.

»Sakra!«, schimpfte der Onkel. »Bist doch kein Depp!«

Ludwig schämte sich für sein Ungeschick und wurde noch missmutiger. Die Tante und er hatten oft zusammen gelacht. Über des Onkels Jähzorn. Über einen Specht, der vor einem der Küchenfenster eifrig an die Dachrinne hämmerte. Über den Weinhändler Übermayer, der seine Weinnase stolz die »blaueste der Welt« nannte.

Wenn Ludwig der Tante begegnete, musterte sie ihn besorgt. Manchmal zog sie ihn beiseite und fragte, ob er reden wolle, ja was denn plötzlich in ihn gefahren sei?

»Nichts«, sagte Ludwig. »Es ist nichts.«

Aber da war doch etwas. Er fand nicht einmal ein Wort dafür. Doch es stichelte und bohrte in ihm. Es war nicht herauszubringen und abzuschütteln. Es war da, wo er auch war und was er auch tat.

Am späten Abend wählte Ludwig die Telefonnummer von Zuhause. Diesmal legte er den Hörer nicht auf. Seine Mutter war am Apparat. Er sagte: »Ich bin´s.« Ihre Stimme schwankte zwischen Freude und Sorge: »Junge! Ich wusste, dass du es bist!«

Ludwig lachte erleichtert auf, die Mutter ließ ihn mit ihren Fragen nicht zu Wort kommen. Außer Atem rief sie: »Aber nun sage doch endlich auch was.«

»In Ordnung. Alles okay, Mama«, beruhigte er sie. »Und bei euch? Wie ist es bei euch?«

In der Leitung war ein Rauschen, als wäre da ein großer leerer Raum zwischen ihnen.

»Ist was mit Papa?«, fragte Ludwig. »Was ist denn?«

»Es ist nichts«, sagte die Mutter. »Na, was denkst du denn.«

»Hat Papa seine Arbeit noch?«

»Das kommt schon wieder in Ordnung«, sagte die Mutter.

Sie klang müde und mutlos, das kannte Ludwig von ihr nicht. »Morgen bin ich zu Hause«, sagte er entschieden. »Ich nehme den nächsten Zug.«

»Unsinn«, sagte die Mutter entschieden. »Wenn ich dir doch sage, es wird alles gut. Punkt.«

Ludwig wusste, wenn sie dieses Wörtchen gebrauchte, war jedes Widerwort zwecklos. Kurz darauf hörte er ein Klicken, die Mutter hatte das Gespräch beendet.

Die Nacht hindurch wälzte er sich im Bett herum. Eingeschlafen wachte er aus einem bedrohlichen Traum auf, an den er sich nicht mehr erinnern konnte. Er tastete sich zum Fenster und suchte benommen die alte Kastanie ab. Der volle Mond, über den dünne Wolkenschleier zogen, färbte in unregelmäßigem Wechsel ihre Blätter, die wie unzählige kleine Hände waren, in durchsichtig erscheinendes helles und samtig schwarzes Grün. Was eigentlich suchte er? Gab es darauf überhaupt eine Antwort?

Am nächsten Tag, vor Mittag, rannte er los. Zu Trudchen. Zu Buche und Birke. Er stellte sich mitten unter die Jungen und Mädchen. Zwischen Manja und Toni.

Manja sagte: »Da bist du ja wieder, grüner Ludwig.«

Sie hatte die ausgefransten kurzen Jeans und ein weißes Achselhemd an. Am breiten Cowboygürtel hing ein Walkman. Gelbe Kopfhörer saßen wie dicke Käfer auf ihren Ohren. Sie lachte, zuckte rhythmisch mit Kopf und Körper und drehte sich dabei langsam um sich selbst.

Als wäre sie der Musik überdrüssig, zog sie die Kopfhörer herunter, forderte Toni den roten Ball ab, lachte auf und warf ihn Ludwig zu. Wieder fing er ihn, warf ihn hart zurück, hin und her zwischen ihnen flog das runde Ding, von Mal zu Mal rücksichtsloser.

»Schneller!«, peitschten die anderen. »Schärfer!«

Unbeachtet warf Toni sich dazwischen, schnappte den Ball und stieß ihn kräftig mit dem Fuß in die Luft, bis weit über den Wipfel der Buche. Irgendwo hörten sie ihn hart aufschlagen, ein paar Mal aufspringen und dabei verhallen.

»So«, sagte Toni, als kündigte er Endgültiges an, trat an Ludwig heran und umkreiste ihn tänzelnd. Dabei krempelte er sich die Hemdärmel hoch, atmete schniefend, streckte sich, schüttelte die Hände aus, hob sie in Brusthöhe und ballte sie.

Manja drückte sich durch den Kreis, den die anderen um die beiden Widersacher gebildet hatten, und schob sich zwischen sie. Abermals begann sie das Spiel mit ihrer Hand, in der anscheinend etwas verborgen war, das Glück verhieß. Als sie die Aufmerksamkeit aller hatte, hielt sie ihre kleine Hand abwechselnd dem einen und dem anderen hin. Sie sagte: »Es gehört dir. Dafür will ich aber auch etwas haben.«

»Was denn?« Toni richtete sich auf, sein Körper hatte sich kurz entspannt, nun straffte er sich wieder.

»Eine Handvoll Schnee.«

Die beiden Jungen suchten Manjas Blick, der ihnen bestätigte, dass es ihr ernst war.

Toni schüttelte unwillig den Kopf. »Ja, du spinnst doch. Schnee vom Sonnenstein!«

Manja sah Ludwig fragend an. Dem Jungen war der Kopf wie leer, er konnte nichts denken, nichts fühlen. Er sah sie lächeln – kam es von den Lippen oder aus den Augen? – spöttisch, hervorlockend, versprechend, und hörte, wie bei ihrer ersten Begegnung ein Raunen. »Folge mir«. Einen Moment schloss er die Augen und hörte sich sagen: »Ich bringe dir den Schnee.« Er drehte sich abrupt weg, überquerte die Straße und ging ohne sich umzusehen zurück zu den Anzengrubers.

Ludwig brach Morgen um Morgen kurz nach Sonnenaufgang auf und rang dem Berg ein paar Meter mehr ab. Bis zur Schneegrenze fehlte ihm noch der schwierigste Abschnitt. Er hatte alles getan, was notwendig war, Tante und Onkel beruhigt, sich Auskunft über den Berg geholt, war mit festen Schuhen und einer kleinen Spitzhacke ausgerüstet und hatte sich keinen Gedanken daran gestattet, dass die Zeit für ihn knapp wurde.

Nun hatte die Tante ihn erinnert, dass morgen sein letzter Ferientag sei, und ob er sich denn keine Ruhe geben könne, er solle doch sagen, was er sich wünsche, sie würde versuchen, es zu erfüllen. Er wiederholte, dass er alles habe, was er brauche, es gehe ihm gut.

Als Ludwig sich an diesem Morgen auf den Weg machte, verdrängte er alle Gedanken, konzentrierte sich einzig auf das nächste Stück Weg. Beim kurzen Verschnaufen sah er dann abschätzend zum Gipfel, wo der Schnee ihn umso stärker blendete, je näher er ihm kam.

Noch einmal ging Ludwig den lediglich stellenweise erkennbaren Pfad, der ihm alles abverlangte. Eine Handvoll Schnee wollte er vom Gipfel ins Tal bringen. Nichts anderes dachte, nichts anderes wollte er. Noch nie war er so bei sich selbst gewesen.

Die Sonne stach spitz zu, dann versuchte sie ihn niederzudrücken, alle Glieder schmerzten ihn, vor seinen Augen flimmerte, in seinen Schläfen pochte es. Er spürte, er wusste: Heute würde ihn nichts aufhalten können.

Gegen Mittag hatte er die Schneegrenze erreicht. Er sprang nicht herum wie ein Sieger, kein Schrei, kein Wort kam ihm über die Lippen, er drückte sein heißes Gesicht in den Schnee, nachher sah er sich um. So weit war also die Welt. So voller Farben. So schön war sie. So voller Wunder und Geheimnisse, so viel gab es noch zu entdecken.

Sattsehen konnte er sich daran nicht, er hatte eine Aufgabe. Mit beiden Händen griff er tief in den Schnee und knetete eine Kugel. Fest wie Eis. Er wickelte sie in die vorsorglich mitgebrachte Aluminiumfolie und in Zeitungspapier und stopfte das Päckchen in seinen Rucksack.

Ludwig machte sich zügig, aber nicht überhastet an den Abstieg. Noch nie war er zurück ins Tal so schnell und sicher unterwegs.

Je tiefer er stieg, umso mehr begehbarer Spielraum öffnete sich ihm. Das Grün der Wiesen wurde kräftiger, Blumen und Kräuter blühten vielfältiger. Der wachsende rote Fleck rückte auseinander, die roten Dächer gewannen, wie alles, dem er näherkam, an Bedeutung. Und dort ruhte der Bergsee in tiefem Blau und dahinter das Waldstück in sattem Grün.

Als Ludwig Glockläuten erreichte, rannte er nicht los, er lief, den Rucksack geschultert, mit langen Schritten durch die Gassen und grüßte jeden mit kurzem, aber freundlichem Kopfnicken. Einige waren ihm hier und da bereits begegnet, andere nicht, doch es gab keinen, der nicht aufschaute und zurückgrüßte. Manch einer blieb gar stehen und blickte ihm sinnend hinterher.

Trudchen lehnte auf ihren fleischigen Unterarmen in ihrem Ladenfenster, sah ihm schmunzelnd entgegen und richtete sich auf, um seine Bestellung entgegenzunehmen. Als der Junge wortlos am Lädchen vorbeiging und ihr ernst zunickte, nickte sie würdevoll zurück.

Ludwig überquerte die Straße, Buche und Birke standen unverändert eng umschlungen, auf dem kleinen Platz war es ungewohnt still, einzig Toni saß auf dem roten Ball und schaute missmutig drein. Obwohl es ein heißer Tag war, fröstelte es Ludwig.

Er stellte den Rucksack ab, nahm das Päckchen heraus und wickelte es aus. Der Schneeball war unversehrt, er begann in seiner Hand zu feuern, dass er mit sich kämpfen musste, ihn nicht fallen zu lassen. Der bohrende Schmerz hinter der Stirn ebbte nur quälend langsam ab.

Ludwig sah gedankenlos zu, wie ein schwerer Tropfen über seine Handkante rann, weitere folgten, fielen schwer und plump, ließen einen Grashalm erzittern, perlten an ihm herunter und waren verschwunden.

Toni stierte aus glanzlosen Augen auf die zusehends schrumpfende, hier matt weiße und da blau schimmernde Kugel und sagte schlaff: »Sie ist weg.«

»Wie weg?«

Toni zuckte mit den Schultern, sagte nur: »Manja eben.«

Ludwig erwartete keine Antwort und fragte doch: »Und wo finde ich sie?«

Toni machte eine wegwerfende, fast drohende Handbewegung in eine unbekannte Ferne. Nach einem heftigen Atemzug klang er beherrschter. »Dort, wo ihr hergekommen seid.«

Ludwig hatte Manja als Einheimische gesehen, sie hatte sogar den Dialekt der Glockläutner gesprochen, ihm war nicht der Gedanke gekommen, dass sie nicht dazugehörte.

Eins der Mädchen kam geschlendert, sie sah zu Toni, drehte ab und setzte sich an den breiten Stamm der Buche. Zwei Jungen tauchten auf, sprachen auf Toni ein, brachten den Ball an sich und kickten ihn sich zu.

Toni sah interessenlos zu, schüttelte schließlich unwillig den Kopf, mühte sich auf die Füße, stand krumm wie ein Alter, tapste hin und her, bekam den Ball vor die Füße und trat ihn, ungeschickt, aber wuchtig in Richtung der anderen. Es dauerte nicht lange, da war er wieder im Spiel. Einmal blieb er mitten im Lauf stehen und sah Ludwig hinterher, der, wie er gekommen war, den Rucksack geschultert, die Arme angewinkelt, den Kopf nach vorn geneigt, mit langen Schritten die Straße hochging.

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