Читать книгу Julia - Gunter Preuß - Страница 10

8.

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Julia verschlief am nächsten Morgen. Sie sprang aus dem Bett, gab dem Wecker eine Ohrfeige. Der klingelte gleich noch einmal.

Julia wusch sich eilig, aß ein Brötchen und versuchte sich gleichzeitig anzuziehen.

Pit!, dachte sie. Hatte er sie nicht wach bekommen? Oder hatte er sie nicht abgeholt? Vielleicht war er eingeschnappt wegen ihres gestrigen Streites? Ach, er sollte sich doch nicht so zickig haben!

Sie sah nach draußen. Es regnete nicht mehr. Die Fenster waren angelaufen. Es schien kälter geworden zu sein. Julia war in einer besseren Stimmung als gestern Abend.

Gleich in der ersten großen Pause wollte sie zu ihrem Vater in die Brauerei laufen und ihn bitten, Herrn Rohnkes Weggehen beim Direktor der Schule zur Sprache zu bringen. Es musste doch etwas unternommen werden! Von allein kam die Suppe nicht zum Kochen. Dazu brauchte man ein kräftiges Feuer. Das waren doch Herrn Rohnkes eigene Worte.

Julia zog eilig die Jeans an und ihren blauweiß gestreiften Pulli, den sie unmöglich fand, den Pit aber mochte.

An der Wohnungstür fand sie einen Zettel: Wohnungstür abschließen! Mutsch.

Na, das klang nicht gerade sehr freundlich. Mutter hatte eben auch ihre Sorgen. Julia fiel einer der vielen Sprüche ein, die Großvater, wenn er zu einem kurzen Besuch kam, immer auf der Zunge hatte. Großvaters Vater war Hafenarbeiter in Hamburg gewesen, und sie waren sieben Kinder. Julia mochte den Großvater. Sie sprang die Treppen hinunter und sang: »Wird schon wieder wärn mit der Mutter Bärn. Mit der Mutter Horn ist's auch wieder geworn.«

Auf der Straße schlug sich Julia den Anorakkragen hoch. Wenn sie ausatmete, sah es aus, als ob sie rauchte.

Sie lachte, lief los, die Tasche unterm Arm, die rechte Hand führte sie zum Mund, atmete tief ein und stieß die Luft wieder aus. Unwillkürlich war sie in Vaters schweren Schritt verfallen. Sie hustete. So sehr hatte sie sich eingebildet, eine starke Zigarre zu rauchen. Jemand lachte. Julia sah sich nicht um.

An der Kreuzung zeigte die Ampel natürlich wieder rot, wie immer, wenn sie es eilig hatte, und sie hatte es immer eilig. Sie sah auf die Uhr. Die erste Stunde war nicht mehr zu schaffen. Und Herr Rohnke konnte mächtig sauer werden, wenn man seinen Unterricht störte. Entweder ganz oder gar nicht, sagte er immer.

»Also gar nicht«, sagte Julia. Sie sprang schnell noch in der anderen Richtung über die Straße. Es waren ja nur hundert Meter bis zur Brauerei. Sie wollte ihren Auftrag Vater gleich übergeben.

Im Pförtnerhäuschen saß der strenge Herr Pöschke. Aber so streng er war, so müde war er auch. Julia hatte ihre Methode, ohne Betriebsausweis ins Werk zu kommen. Sie wusste, Herr Pöschke schwankte zwischen höchster Wachsamkeit und gähnender Langeweile. Sie kannte seinen Rhythmus: ein scharfäugiger, spähender Blick auf den Toreingang und ins Gelände - ein müdes Kopfnicken seinem Kreuzworträtsel entgegen. Diesen Moment passte Julia genau ab und huschte unter der Schranke durch ins Betriebsgelände.

Sie lief etwas geduckt über den schmutzig nassen Hof, auf dem Lastkraftwagen mit Bierfässern und Limonadenkästen beladen wurden.

Julia musste ins Sudhaus, wo der Vater und seine Kollegen mit der Herstellung der Würze beschäftigt waren. Das Sudhaus lag am unteren Ende des Werkes.

Julia lief durch die langgestreckte Halle, wo Fässer und Flaschen abgefüllt wurden. Hier arbeiteten zum größten Teil Frauen. Die Halle war unfreundlich duster und kühl. Julia war froh, als sie wieder im Freien war. Vater sprach zu Hause manchmal von den Frauen, die oft unzufrieden mit ihrem Arbeitsplatz waren und bessere Arbeitsbedingungen verlangten.

Aus der Tür des Sudhauses kam ihr Vater entgegen. In seinem Gesicht stoppelten die Barthaare. Über den grauen Schlosseranzug hatte er eine Gummischürze gebunden. An den Füßen trug er Gummistiefel. Er lachte, als er Julia sah.

»Nanu, Tochter, ist schon wieder etwas passiert?«

Julias Vater sah auf seine Uhr. »Wir haben jetzt eine Versammlung. Ganz kurzfristig einberufen. Ich glaube, diese Liste von Frau Saube, dieses Ultimatum ist der Grund. Können wir nicht später darüber reden, Julia? Mir sitzt jetzt wirklich die Zeit im Nacken.«

»Nein, Nicht später. Jetzt«, sagte Julia.

Der Vater legte ihr den schweren Arm um die Schulter und lächelte. »Du bist eben eine Leißner, wie sie leibt und lebt. Komm, gehen wir zur Verwaltung. Sagst mir unterwegs, was du willst.«

Julia und ihr Vater gingen quer über den Hof zur Verwaltungsbaracke. Julia sagte: »Papsch, kannst du mit unserem Direktor wegen Herrn Rohnke sprechen? Du musst ihm sagen, dass wir ihn brauchen. Er darf uns unseren Lehrer nicht wegnehmen.«

»Miteinander sprechen ist immer gut«, sagte der Vater. »Aber die Schule hat natürlich auch ihre Probleme, genauso wie wir auch. Aber ich verspreche es dir, Tochter, ich spreche mit Herrn Rohnke.«

Julia und der Vater gaben sich die Hand. »Hast heut wieder verschlafen«, sagte der Vater noch. »Hat Pit dich nicht wach bekommen?«

»Ich habe nichts gehört.«

Der Vater ging eilig in die Baracke. Julia schummelte sich an Herrn Pöschkes Glaskasten vorbei.

Sie musste sich beeilen, um noch rechtzeitig zur zweiten Stunde in die Schule zu kommen.

Vor der Schule prügelten sich drei Jungen um eine Kastanie, obwohl überall Kastanien herumlagen. Julia trieb die Jungen auseinander. Das hätte sie sonst nicht getan. Aber jetzt hatte sie ihre Versöhnungsstimmung. Sie dachte: Vater wird Herrn Rohnke schon überreden, bei der 8b zu bleiben. Sie wollte sofort der Klasse davon erzählen.

Die Tür zum Klassenzimmer stand offen. Julia hörte nicht wie sonst schon von weitem Liebschers Stimme und Gerda Munkschatz' Lachen.

Als Julia ins Klassenzimmer trat, wurde sie nicht wie üblich, wenn sie zu spät kam, mit Scherzworten begrüßt. Die Jungen und Mädchen standen und saßen unruhig, als warteten sie auf etwas.

Julia sah Pit auf seinem Platz sitzen. Er sah weg, als sie zu ihm schaute.

Liebscher trommelte mit den Fingern auf den Tisch. Als Julia sich setzte, kam er zu ihr.

»Schon gut«, sagte Julia. »Bin wieder mal zu spät gekommen. Werde mir noch einen Wecker anschaffen müssen. Soll nicht wieder vorkommen.«

Liebscher winkte ab. Er sah blass aus und unausgeschlafen. Die Haare fielen ihm in die Stirn.

»Wo er nur bleibt«, sagte Liebscher besorgt. »Er hat uns doch noch nie eine Stunde warten lassen!«

»Wo wer bleibt?«, erkundigte sich Julia.

Ellen räumte ihre gut geordnete Schultasche auf. Sie sagte: »Du hast Nerven, Juli! Wir sitzen hier schon eine geschlagene Stunde und warten auf Herrn Rohnke! Es wird ihm doch nichts passiert sein! Also wenn ich mir das vorstelle - schrecklich!«

»Du spinnst mal wieder«, entgegnete Julia. Sie tippte Pit auf die Schulter. »Wollte Herr Rohnke gestern nicht mit dir reden? Wegen eurer Übungsstunden?«

»Na überhaupt? Und der Junge sitzt hier und lässt uns schwitzen! Warst du gestern noch mit Herrn Rohnke zusammen?«

Liebscher war Pit nahe gerückt. Er hielt ihn an den Revers seiner Jacke fest.

Pit schob Liebscher einen Meter von sich weg. Dann sagte er: »Wir haben nur kurz zusammen gesprochen. Gleich nach dem Sportfest.«

Liebscher rückte Pit wieder näher. »Na und? Hat er etwa gesagt, dass er heute später kommen wird?«

Pit sagte ruhig: »Bleib mir vom Leib, Liebscher! Von später kommen war überhaupt nicht die Rede. Er hat mir nur gesagt, dass er trotz des Lehrerwechsels weiter mit mir üben will.«

Liebscher wandte sich enttäuscht wieder Julia zu. Er sagte: »Wenn er in der zweiten Stunde nicht kommt, gehe ich zum Direktor. Da ist doch etwas nicht in Ordnung, Leute.«

»Nur die Ruhe, Werner«, versuchte Julia zu besänftigen. Dabei war sie selber aufgeregt.

Pele balancierte sein Lineal auf der platten Nase. Mit irgendetwas jonglierte oder balancierte er fast immer. Er war einer der Kleinsten der Klasse. Er musste also etwas tun, um gesehen zu werden.

Jetzt setzte er das Lineal ab und rief: »An allem hat diese Tante Schuld! Die Neue. Warum fängt die nicht an einer anderen Schule an, he!«

Julia dachte: Das ist ungerecht, was Pele sagt. Irgendwo muss sie ja unterrichten. Aber sie stimmte in das allgemeine Beifallsgemurmel ein. Sie sagte: »Die Rosen können wir nicht gebrauchen. Über ihren Unterricht bei uns ist noch nicht das letzte Wort gesprochen, das verspreche ich euch! Komme gerade von meinem Vater. Er will sich darum kümmern!«

Liebschers Gesicht bekam etwas Farbe. Er strich sich das Haar aus der Stirn, hob beschwörend die Hände und begann mit seiner eindringlichen Stimme zu sprechen: »Leute, erinnert ihr euch? Herr Rohnke hat selbst einmal gesagt: Wer·den Berg aus dem Weg haben will, der muss zur Schaufel greifen! Ich denke mir das so: Er will bestimmt nicht von uns weg. Er geht, weil er die Anordnung der Direktion befolgen muss. Wir müssen der Direktion zeigen, dass wir Herrn Rohnke brauchen. Mehr noch als die 12a. Wir wollen die Rosen nicht. Hand drauf!«

Liebscher gab zuerst Julia die Hand. Dann ging er von einem zum anderen. Zuletzt stand Liebscher vor Pit.

Pit war aufgestanden. Sie standen sich wortlos gegenüber, sahen sich in die Augen.

Liebscher streckte etwas zögernd seine Hand vor.

Julia forderte: »Schlag ein, Pit!«

Pit sah Julia an. Sie meinte einen Vorwurf in seinem Blick gesehen zu haben.

Pit setzte sich wieder. Er sagte: »Dafür gebe ich meine Hand nicht.«

Pele rief aus sicherer Entfernung: »Hast du 'ne Macke, Mann! Wir sind doch alle gegen die Neue!«

Pit verteidigte sich. »Ich kenne sie doch noch gar nicht. Ich weiß doch überhaupt nicht, wie sie ist. Ich kann mich nicht gegen jemanden stellen, den ich nicht kenne.«

Liebscher schrie: »Du bist ein faules Ei, Janko! Du müsstest ... !«

Julia stellte sich zwischen die beiden. Sie sagte: »Sieh doch mal, Pit: Herrn Rohnke kennst du aber. War er nicht immer wie ein Freund zu uns! Und dass er eine Menge kann, wirst du doch nicht abstreiten wollen. Alles verdanken wir Herrn Rohnke. Hat er dir nicht im letzten Jahr durch die Prüfung geholfen?«

Pit rutschte auf seinem Stuhl hin und her. »Natürlich hat er mir geholfen. Aber das hat doch nichts mit der Neuen zu tun. Man muss ihr doch wenigstens eine Chance geben.«

Liebscher ereiferte sich. »Eine Chance geben! Wenn ich so etwas höre! Wir sind hier schließlich nicht in deinem Boxring, Janko!«

Pit war aufgesprungen. Julia sah es ihm an, dass er sich schwer beherrschen konnte. Er sagte: »Dort geht es aber wenigstens fair zu, Liebscher!«

Julia versuchte noch einmal, Pit umzustimmen: »Denk doch nur mal nach, Pit! Findest du es etwa fair, dass man uns so mir nichts, dir nichts eine neue Lehrerin vor die Nase setzen will? Stell dir vor, dir würde man einfach deine Mutter - oder deinen Vater austauschen wollen ... «

Julia sah, wie Pit zusammenzuckte, als hätte sie ihn ins Gesicht geschlagen.

»Lass mich mal«, sagte Liebscher. »Ich glaube, bei dem nützt die sanfte Tour nichts. Wir werden wohl wie Männer miteinander reden müssen, Janko!«

Ellen ließ ihre Tasche fallen. »Du wirst dich doch nicht prügeln wollen, Werner?«

Die Jungen und Mädchen umringten Liebscher und Pit.

Pit war ein Stück von Liebscher zurückgewichen. Er wusste, dass er kaum eine Chance hatte, wenn er in den Bereich von Liebschers Zugriff kam. Er musste ihn auf Distanz halten, wenn er nicht von seinem Gegner mit einem Judogriff zu Fall gebracht werden wollte.

Liebscher lauerte auf einen günstigen Moment. Der kam, als Julia Pit noch einmal ansprach, um die Angelegenheit friedlich zu lösen.

Pit wandte sich Julia zu. Auf diesen Moment hatte Liebscher gewartet. Im Augenblick lag Pit auf den Dielen.

Liebscher hatte seinen rechten Arm im Armhebel.

Es war still im Klassenzimmer. Man hörte nur das heftige Atmen der beiden Kämpfenden.

»Hör mir jetzt zu, Janko«, befahl Liebscher. »Ich sage nicht gern zweimal dasselbe. Ich frage dich noch einmal: Hältst du zur Klasse oder zu dieser Rosen?«

Julia sah, dass Pit Schmerzen hatte, doch er sagte nichts. Seine Lippen waren ein schmaler Strich.

Liebscher zog den Armhebel an. Er wurde immer wütender, weil Pit ihn zwang, ihm mit Gewalt etwas ganz Selbstverständliches abzuverlangen.

»Hast du denn überhaupt nichts bei Herrn Rohnke gelernt?«, schrie Liebscher. Er ahnte, dass Pit sich lieber den Arm brechen lassen würde, als zu reden.

Pit bäumte sich auf. Er hatte unerträgliche Schmerzen im Ellenbogen. Fest biss er seine Lippen zusammen, um nicht zu schreien.

Julia hielt das nicht mehr aus. Auch die anderen wurden unruhig. Ellen hatte ihren Kopf in den Händen verborgen. Gerda Munkschatz riss vor Aufregung eine Seite aus ihrem Geschichtsbuch.

»Auseinander!« rief Julia. »Sofort ... !«

Von der Tür ertönte ein Pfiff. Pele hatte die Nerven behalten und Wache gestanden.

»Herr Rohnke kommt ... !«

Die Jungen und Mädchen sprangen auf ihre Plätze.

Der Lehrer trat langsamer als gewöhnlich ins Klassenzimmer. Er hielt einer jungen Frau die Tür auf. Beide gingen zu Rohnkes Tisch.

Liebscher und Pit lagen noch am Boden.

Herr Rohnke wartete, ohne etwas zu sagen, bis die beiden aufgestanden waren und sich auf ihre Plätze gesetzt hatten.

Pit biss noch immer die Lippen zusammen. Liebscher wusste mit seinen Händen nicht wohin. Er schob sie in die Taschen seiner Hose.

Julia war es unangenehm, dass Herr Rohnke diese Prügelei gesehen hatte. Er hatte doch bestimmt genug Sorgen. Sie wollte schon eine Entschuldigung vorbringen, aber sie war dabei.

So ernst die Situation war, Julia musste lächeln. Die Neue war klein, hatte eine gute Figur, hielt die Hände hinter dem Rücken verschränkt und wippte nervös auf den Zehenspitzen. Sie hatte braunes aufgestecktes Haar und große, etwas verträumte Augen.

Hinter sich hörte Julia Röbel anerkennend sagen: »Klasse Puppe!«

Julia dachte: Leute, fällt euch sonst nichts auf? Das könnte doch unsere große Schwester sein. Und die will unseren Herrn Rohnke ersetzen? Einfach lächerlich.

Herr Rohnke ging zu einem Fenster und öffnete es. Er setzte sich auf das Fensterbrett und strich sich mit den Händen über die Stirn. Der Wind stieß kalt ins Klassenzimmer.

Er sagte noch immer nichts. Es sah so aus, als suche er nach Worten und fände keine. So kannten sie ihn nicht. Er hatte stets das richtige Wort gefunden.

Sie wurde immer unruhiger, begann aus ihrer breiten Ledertasche Bücher auszupacken. Als Herr Rohnke weiterhin schwieg, stellte sie sich vor: »Mein Name ist Rosen. Ich bin eure neue Klassenlehrerin.«

Julia hörte, dass ihre Stimme gewollt fest klang. Die Rosen sprach mit norddeutschem Akzent. Julia spürte ihre Unsicherheit.

Herr Rohnke war vom Fensterbrett aufgestanden. Er ging zur Neuen und sagte: »Entschuldigen Sie, Kollegin Rosen. Das ist sonst nicht meine Art ... «

Er wandte sich der Klasse zu. Er stand etwas gebeugt, sah durch alle hindurch und sagte: »Also, die Zwölfte braucht mich nun. Macht mir und Frau Rosen keinen Kummer. Ich bin ja nicht aus der Welt. Und um meinen Sportunterricht kommt ihr nicht herum.«

Herr Rohnke hatte zum Abschluss noch einen Scherz machen wollen. Aber der misslang. Er gab Frau Rosen die Hand und lief eilig aus dem Klassenzimmer.

Julia legte sich die Arme um die Schultern. Ihr war kalt. Sie hatte Kopfschmerzen. Der Wind trieb Blätter und schmutziges Papier durchs Fenster.

Die Mädchen und Jungen schwiegen, blickten zur Tür. Es sah aus, als warteten alle, dass sie sich jeden Moment öffnen und Herr Rohnke zurückkommen würde, als hätte er nur ein Stück Kreide aus dem Lehrerzimmer geholt. Aber Herr Rohnke vergaß nie die Kreide.

Die Rosen packte noch mehr Bücher aus. Dann sah sie hoch. Sie suchte ein ihr zugewandtes Gesicht, einen freundlichen Blick, ein Lächeln. Aber sie fand nichts von alledem. Sie lief zum Fenster und schloss es.

Das Keifen des Windes war verstummt. Nur die Schritte der Lehrerin, das harte Aufprallen der Absätze auf den Dielen, waren zu hören.

Julia war wütend, enttäuscht. Am liebsten hätte sie laut aufgeschrien, wie immer, wenn sie etwas nicht begriff und nicht weiter wusste.

Das Fenster!, dachte sie. Das Fenster hat Herr Rohnke geöffnet! Wollte sie die Klasse zwingen, bei geschlossenen Fenstern zu sitzen?!

Julia sah zu Liebscher. Aber von ihm war jetzt keine Hilfe zu erwarten, er hatte sich in sich selbst verkrochen.

Frau Rosen setzte sich auf ihren Stuhl. Sie stand schnell wieder auf. Auf ihrem Stuhl fühlte sie sich noch kleiner, noch unbeweglicher.

Sie lief bis zu den vorderen Tischen und sagte: »Mir tut es leid, dass wir unter solch unglücklichen Umständen unsere erste Stunde beginnen müssen. Aber ... «

Julia war aufgestanden. Sie hielt sich an der Tischplatte fest und sagte, obwohl sie fror: »Mir ist heiß. Das Fenster muss geöffnet werden.«

Frau Rosen sah Julia an, die an ihr vorbei blickte. Sie wusste, das war ein erster Angriff gegen sie, ein erstes Kräftemessen. Sie hatte sich ihren Beginn in der 8b ganz anders vorgestellt, hatte mehr Freundlichkeit und Entgegenkommen erwartet. Wie hatte der Direktor gesagt: »Sie bekommen die disziplinierteste und leistungsstärkste Klasse der Schule, Kollegin Rosen. Es hat nicht jeder von uns so einen guten Start gehabt.«

Guter Start?, dachte sie bitter. Was dir hier entgegenschlägt, ist Abweisung und Kälte. Aber sie durfte sich nicht unterkriegen lassen. Sie hatte sich doch wie ein Kind auf diese achte Klasse gefreut. Das waren doch schon erwachsene Menschen, mit denen sie gemeinsam arbeiten wollte.

Frau Rosen sagte: »Es ist kühl. Das Fenster bleibt geschlossen. Es kann in der Pause geöffnet werden.«

Es war härter herausgekommen, als sie es gewollt hatte.

Vor Julias Augen begann das Klassenzimmer, die Gesichter von Pit, Liebscher und Frau Rosen ineinander zu verschwimmen.

Wie Blitzlichter tauchten auch Mutters, Vaters und Frau Saubes Gesichter auf.

Dann sah sie nur noch das Gesicht der neuen Lehrerin. Es lachte hämisch und sagte immer wieder: Das Fenster bleibt zu! Das Fenster bleibt zu!

Julia fühlte jetzt eine Schwäche die Beine heraufkriechen, gegen die sie keinen Widerstand leistete. Sie wollte, dass irgendetwas mit ihr passierte. In ihrem Kopf stach es dumpf. Um sie herum begann sich alles zu drehen. Ihr knickten die Beine weg.

Sie wäre auf den Boden gestürzt, wenn Pit sie nicht aufgefangen hätte. Das letzte, was sie sah, war das erschrockene Gesicht der Lehrerin.

Julia

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