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2.

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Am Ende der Elsbethstraße, entfernt vom Lärm der Hauptstraße, liegt die Schiller-Oberschule, ein großes putzbröckliges Gebäude. Zur Straße hin stehen vor dem Fenster drei mächtige Kastanien, die den jüngeren Kindern als Klettergerüst und den Sperlingen als Versammlungsort dienen. Zur anderen Seite des Gebäudes dehnt sich der grasbewachsene Schulhof, in dessen Mitte sich ein Fahnenmast wie ein gutmütig drohender Zeigefinger erhebt.

An den Schulhof grenzt die Kleingartenanlage »Heuweg«, Die nahe gelegenen Gärten werden von den Schülern der Schiller-Oberschule fleißig und unentgeltlich abgeerntet. Daraufhin greifen alle Jahre wieder die Kleingärtner zu Feder und Papier und beschicken die Direktion der Schule und die zuständige Polizeistelle mit Beschwerdebriefen und Anzeigen.

Als Julia und Pit atemlos das Schulgebäude erreichten, hingen noch ein paar verspätete Kletterer in den Kastanien. Jemand rief: »Der Pit und die Jule, die komm' zu spät zur Schule!«

Pit war stehengeblieben. Er schaute gegen das Licht in die Kronen der Bäume.

»Nun komm schon!« drängelte jetzt Julia. »So was hört man doch gar nicht.«

Pit hatte seinen kleinen Bruder Olaf erkannt, der in der Spitze eines Baumes wippte.

Pit wölbte die Hände vor dem Mund und rief: »Olaf Komm sofort herunter!«

Die Antwort war ein Hagel von Kastanien. »Lass ihn doch sitzen!«, rief Julia ärgerlich. »Es wäre das erste Mal, dass er auf dich hört.«

Pit schaute hilflos zu Julia, dann zu seinem Bruder.

»Von mir aus klettere zu ihm hoch und lege ihn trocken!«

Julia lief wütend in die Schule und erreichte noch vor Herrn Rohnke das Klassenzimmer.

Sie ärgerte sich über Pit, wie immer, wenn er sich ihren Wünschen widersetzte.

Die 8b begrüßte Julia mit »Hallo!«

Liebscher schien gerade eine Episode aus seinen Ferienerlebnissen zum Besten gegeben zu haben.

Ellens Blicke hingen noch bewundernd an Liebschers schmalen Händen, die durch ihre beschwörende Gestik seinen Erzählungen große Lebendigkeit verliehen. Schon seit dem Kindergarten war Ellen Julias Freundin. Ellen hatte immer etwas zum Schwärmen gebraucht. Erst war es ein luxuriöser Puppenwagen gewesen, dann ein roter Luftroller, ein Sportrad, später dann war es ein Jugendbild des französischen Filmschauspielers Alain Delon, und nun war es seit einem Jahr Liebscher. Ellen hatte Julia gestanden, dass sie in Liebscher »völlig weg« war. Ellen glaubte, dass ihr neuer Schwarm ihr großes Geheimnis war, dabei wusste die ganze Klasse davon, aber niemand witzelte darüber. Pele hatte es einmal versucht, da hatte Liebscher ihn in einen seiner Judogriffe genommen, einen Armhebel. Pele hatte vor Schmerz aufgeschrien und um Entschuldigung gebeten.

Als sich Julia neben Ellen setzte, fiel die Freundin ihr um den Hals.

»Grüß dich, Julia! Eine Ewigkeit haben wir uns nicht gesehen! Findest du nicht auch? Erzähl schon, wie war es an der Ostsee? Bei mir war's langweilig. Dresden. Mein Vater schleifte uns von einem Museum ins andere. Abends waren wir vielleicht kaputt, kann ich dir sagen ... «

Auch Julia freute sich, Ellen wiederzusehen.

»Beträufelst du dich neuerdings etwa mit Parfüm?« fragte Julia.

»Parfüm? Nur mal probiert. Nur einen Tropfen. - Java!«, flüsterte Ellen. Sie verdrehte ihre großen grauen Augen; dann fuhr sie sich verlegen mit den Händen durch ihr kurzes blondes Haar, das einen von allen Mädchen beneideten Glanz hatte.

»Na, Schönste?«, rief Liebscher jetzt zu Julia. »Ist unsere knusperbraune Südseekönigin wieder im Sachsenlande««

Erst jetzt bemerkte Julia, dass die Jungen sie lächelnd ansahen und die Mädchen neidisch guckten.

Liebscher stellte einen Fuß auf seinen Stuhl, imitierte eine Gitarre in seinen Armen, sah sie herausfordernd an und sang: »Zwei Apfelsinen im Haar und an der Hüfte Bananen trägt Julia seit heut zu ihrem Kokosnusskleid ... «

Affe!, dachte Julia. Und doch fühlte sie sich geschmeichelt. In Liebscher waren fast alle Mädchen der Klasse ein bisschen verliebt. Julia machte sich manchmal vor den anderen Mädchen lustig über ihn und seine Verehrerinnen, sagte, dass Liebscher aussähe wie in einer Filmfabrik produziert. Dann sagte sie unter dem Gekicher der Mädchen Liebschers Merkmale wie ein Rezept auf: »Man nehme einen sportlich schlanken Körper, groß und gut durchwachsen, dazu einen schmalen Kopf, gepflegte schwarze Haare, braune Augen, einen schmalen Mund und zwei Portionen Verstand, schüttele alles dreimal kräftig durcheinander, stelle es eine halbe Stunde in die Sonne - und man hat einen gut aussehenden, gebräunten Werner Liebscher, Klassenbester und Lehrer Rohnkes Lieblingsschüler.«

Liebschers Ständchen wurde durch das Schrillen der Klingel und durch das Eintreten Rohnkes unterbrochen.

Liebscher sprang auf seinen Platz und hatte jetzt nur noch Augen und Ohren für Herrn Rohnke.

Auch alle anderen standen erwartungsvoll. Das achte Schuljahr würde ein entscheidendes Jahr werden.

Julia wollte bis zum Abitur in der Schule bleiben und später Pädagogik studieren. Das war noch ein weiter und mühsamer Weg. Doch sie war überzeugt: Mit Herrn Rohnke war das zu schaffen.

Herr Rohnke lief mit langen energischen Schritten zu seinem Tisch, auf den die Mädchen einen Strauß bunter Astern gestellt hatten.

»Guten Morgen, Freunde!«, sagte der Klassenlehrer mit Bassstimme, die eigentlich gar nicht zu seinem schlanken, durchtrainierten Körper passte.

Die Klasse donnerte ein »Guten Morgen, Herr Rohnke!«, zurück.

Herr Rohnke packte seine Unterlagen aus. Er kam immer sorgfältig vorbereitet zum Unterricht. In seiner heutigen ersten Stunde unterrichtete er Geschichte.

Julia freute sich auf diese Stunde. Geschichte war bei Rohnke besonders interessant und spannend. Es war immer ein Ausflug in die Vergangenheit, bei dem der Lehrer sich und die ganze Klasse in die aufregendsten weltgeschichtlichen Abenteuer stürzte. Als sie die Französische Revolution von 1789/94 behandelt hatten, waren nach dem Unterricht alle erschöpft gewesen, als hätten sie selbst mit Robespierre, Marat, Danton und dem Volk von Paris um Freiheit und Gerechtigkeit gekämpft.

»Legt mal die Bücher noch einen Moment zur Seite«, sagte Herr Rohnke. »Ihr wisst, ich bin kein Freund von großen Vorreden, aber zu Beginn dieses für alle wichtigen Schuljahres will ich euch zwei, drei Sätze sagen.«

Herr Rohnke nahm die Blumen von seinem Tisch, sie störten ihn beim Sprechen. Er liebte nichts Unnützes, nichts, was ihn hätte ablenken können, auf seinem Arbeitsplatz.

Liebscher hatte Herrn Rohnkes Unwillen erkannt, war aufgesprungen, nahm ihm die Blumen ab und sagte laut zu den Mädchen gewandt: »Gemüse!« Er stellte die Blumen in die äußerste Ecke unter ein Fenster.

Herr Rohnke nickte Liebscher zu und schnürte sich den lästigen Binder vom Hals. Für gewöhnlich trug er karierte Sporthemden, dunkle Manchesterhosen, eine abgetragene Wildlederjacke und Sommer wie Winter eine lederne Schildmütze, die sein lichtes Haar vor Hitze und Kälte schützen sollte. Seine Kleidung und sein strenges, eckiges Gesicht mit den prüfenden Augen ließen nicht den Lehrer vermuten. Eher dachte man an einen Jockei oder an einen Kriminalkommissar.

Der Lehrer steckte den Binder in die Tasche seiner Lederjacke, und er lächelte, als er merkte, dass die Klasse amüsiert diesen Vorgang beobachtete.

»Na, dann wollen wir mal«, begann er. »Übrigens - wo ist Pit Janko?«

Die Klasse schwieg.

»Julia, weißt du etwas?« Herr Rohnke sah ungeduldig auf seine Armbanduhr.

Julia überlegte. Sollte sie erzählen, dass Pit wahrscheinlich auf die Kastanie gestiegen war, um von dort seinen Bruder Olaf herunterzuholen? Herr Rohnke würde sich nur wieder über Pit ärgern. Das wollte sie auf jeden Fall vermeiden.

Liebscher sah Julia vorwurfvoll an. Sein Blick befahl: Nun Julia, sag endlich etwas.

In diesem Augenblick öffnete sich die Tür. Julia atmete auf. Es war Pit, der schmutzig und verschwitzt, mit Laub behangen und eine Kratzwunde im Gesicht, ins Klassenzimmer trat.

Herr Rohnke musterte ihn kurz und sagte: »Du hast wohl deine Ferien im Urwald verbracht?«

Die Klasse lachte.

Pit wollte eine Entschuldigung vorbringen, aber Herr Rohnke forderte ihn auf: »Setz dich. Du störst den Unterricht.«

Julia fand es ungerecht, dass Pit nicht erklären durfte, warum er zu spät kam. Sie hatte das Gefühl, dass es den Lehrer nicht interessierte, was Pit ihm sagen wollte.

Sie knuffte Pit, der eine Reihe vor ihr saß, in den Rücken und flüsterte: »Red doch! Sag schon was! Bist doch nicht zum Spaß auf den Baum gestiegen!«

Julia wusste, es war bei Pit keine Feigheit, dass er sich wortlos auf seinen Platz gesetzt hatte. Es war ihr unverständlich, dass Pit sich oft von seiner Umwelt absperrte.

Pit machte noch einen Versuch zu sprechen, aber Herr Rohnke bemerkte es nicht oder wollte es nicht bemerken.

Der Lehrer hatte begonnen, mit Leidenschaft und Begeisterung, die sich bald auf die Klasse übertrugen, seine Unterrichts- und Leistungsziele für die 8b vorzutragen. Den Klassendurchschnitt, der auf 1,8 stand, wollte er auf 1,5 verbessern. Er sprach mit jedem der Schüler, sagte, in welchen Fächern noch mehr als bisher zu tun wäre. Das alles schien für jeden klar und leicht erreichbar. Rohnke demonstrierte es ihnen vor wie eine Mathematikaufgabe, deren anfänglicher Schweregrad bei seiner Erklärung zu einer einfachen Additionsaufgabe zusammenschrumpfte.

Auch Julia war bald von Rohnkes Eifer und Bestimmtheit gefangen, da gab es keinen Zweifel mehr, nur noch klares Ja und Nein, und es machte Spaß, sich seinen Forderungen unterzuordnen.

Jetzt war Herr Rohnke bei Julia angelangt. Sie hörte gespannt, was er ihr zu sagen hatte. »Julia, dein Hauptkampfgebiet wird die Mathematik sein. Halte dich da an Liebscher. Er kann dir viel beibringen. Eine Eins ist drin!«

Herr Rohnke war schon beim nächsten. Julia bemerkte, dass Liebscher sich umdrehte und lächelnd zu ihr sah.

Sie tat, als hätte sie außerhalb der Fenster, hinter dem Schulhof in den Gärten etwas Wichtiges entdeckt. Es machte sie nervös, wenn Liebscher sie so ansah.

Der Name »Janko« fiel.

Pit!, dachte Julia. Was wird Herr Rohnke zu ihm sagen?! Sie blickte auf Pits breite Schultern, über die sich der blauweiß gestreifte Pulli spannte, die sich nun abwehrend nach oben zogen.

Herr Rohnke schaute Pit an. Pit sah an ihm vorbei. Der Lehrer runzelte ärgerlich die Stirn. Er holte geräuschvoll Luft und sagte nur: »Tja, Nun, wir werden sehen ... «

Herr Rohnke rief Gerda Munkschatz auf, die neben Pit saß. Pit hatte alle seine Muskeln fest anspannen müssen, um nicht zusammenzuzucken oder aufzuspringen, als der Lehrer ihm nichts zu sagen wusste.

Julia hatte für Pit ein Wort erhofft, das ihm für dieses Jahr Mut gemacht hätte; obwohl Herr Rohnke im vergangenen Schuljahr eine Menge Schwierigkeiten mit ihm gehabt hatte.

Für Julia hatten Rohnkes Worte wie eine vorzeitige Verabschiedung Pits aus der 8b geklungen.

Pit versuchte, wieder ruhiger zu werden und sich auf die bunte Glaskugel in seinen Händen zu konzentrieren, die Olaf ihm vorhin in dem Wipfel der Kastanie geschenkt hatte, um einer Strafpredigt seines großen Bruders zu entgehen.

Der Unterricht begann.

Der Lehrer eröffnete mit Vehemenz die Schlacht bei Waterloo, und bald befand sich die 8b mitten im Kriegsgetümmel. Blücher, Wellington und Rohnke gelang es, die preußischen und britischen Truppen und die 8b zum endgültigen Sieg über Napoleon I. zu führen.

Julia war diesmal nicht so recht dabei. Sonst stand sie bei solchen Auseinandersetzungen immer an vorderster Front, wo es am heißesten herging. Sie sah Pit vor sich sitzen, als hätte er sich in seine Schultern eingesperrt.

Sie war froh, als die Klingel eine Pause ankündigte.

Julia

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