Читать книгу Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Zweiter Teil - Gustav Schwab - Страница 4
Kapitel 1
ОглавлениеIn uralten Zeiten wohnten auf der Insel Samothrake, im Ägäischen Meere, zwei Brüder, Iasion und
Dardanos, Söhne des Zeus und einer Nymphe, Fürsten des Landes. Von diesen wagte Iasion, als ein
Göttersohn, seine Augen zu einer Tochter des Olymp zu erheben, warf eine ungestüme Neigung auf
die Göttin Demeter und wurde zur Strafe seiner Kühnheit von seinem eigenen Vater mit dem Blitze
erschlagen. Dardanos, der andere Sohn, verließ, tief betrübt über den Tod seines Bruders, Reich und
Heimat und ging hinüber auf das asiatische Festland an die Küste Mysiens, da wo die Flüsse Simois
und Skamander vereinigt in das Meer strömen und das hohe Idagebirge sich nach dem Meere
abgedacht in eine Ebene verliert. Hier herrschte der König Teukros, kretischen Ursprungs, und nach
ihm hieß auch das Hirtenvolk jener Gegenden Teukrer. Von diesem Könige wurde Dardanos
gastfreundlich aufgenommen, bekam einen Strich Landes zum Eigentum und die Tochter des Königs
zur Gemahlin. Er gründete eine Ansiedlung, das Land wurde nach ihm Dardania und das Volk der
Teukrer von nun an Dardaner genannt. Ihm folgte sein Sohn Erichthonios in der Herrschaft, und
dieser zeugte den Tros, nach welchem die Landschaft nun Troas, der offene Hauptort des Landes
Troja, und Teukrer oder Dardaner jetzt auch Trojaner oder Troer genannt wurden. Nachfolger des
Königs Tros war sein ältester Sohn Ilos. Als dieser einst das benachbarte Land der Phryger besuchte,
wurde er von dem Könige Phrygiens zu eben angeordneten Kampfspielen eingeladen und trug hier
im Ringkampfe den Sieg davon. Er erhielt als Kampfpreis fünfzig Jünglinge und ebenso viele
Jungfrauen, dazu eine buntgefleckte Kuh, die ihm der König mit der Weisung eines alten
Orakelspruches übergab: wo sie sich niederlegen würde, da sollte er eine Burg gründen. Ilos folgte
der Kuh, und da sie sich bei dem offenen Flecken lagerte, der seit seinem Vater Tros der Hauptort des
Landes und seine eigene Wohnung war, auch schon Troja hieß, so baute er hier auf einem Hügel die
feste Burg Ilion oder Ilios, auch Pergamos geheißen, wie denn das ganze Wesen von nun an bald
Troja, bald Ilion, bald Pergamos genannt wurde. Ehe er jedoch die Burg anlegte, bat er seinen
Ahnherrn Zeus um ein Zeichen, daß ihm die Gründung derselben genehm sei. Am folgenden Tage
fand er das vom Himmel gefallene Bild der Göttin Athene, Palladion genannt, vor seinem Zelte liegen.
Es war drei Ellen hoch, hatte geschlossene Füße und hielt in der rechten Hand einen erhobenen
Speer, in der andern Rocken und Spindel. Mit diesem Bilde hatte es folgende Bewandtnis: Die Göttin
Athene wurde nach der Sage von ihrer Geburt an bei einem Triton, einem Meergott, erzogen, der
eine Tochter namens Pallas hatte, die gleichen Alters mit Athene und ihre geliebte Gespielin war.
Eines Tages nun, als die beiden Jungfrauen ihren kriegerischen Übungen oblagen, traten sie zu einem
scherzhaften Wettkampfe einander gegenüber. Eben wollte die Tritonentochter Pallas einen Streich
auf ihre Gespielin führen, als Zeus, für seine Tochter bangend, den Schild aus Ziegenfell, die Ägis,
dieser vorhielt. Dadurch erschreckt, blickte Pallas furchtsam auf und wurde in dem Augenblicke von
Athene tödlich verwundet. Tiefe Trauer bemächtigte sich der Göttin, und sie ließ zum dauernden
Andenken ein recht ähnliches Bild ihrer geliebten Gespielin Pallas verfertigen, legte demselben einen
Brustharnisch von dem gleichen Ziegenfelle, wie der Schild war, um, der nun auch Ägispanzer oder
Ägide hieß, stellte das Bild neben die Bildsäule des Zeus und hielt es hoch in Ehren. Sie selbst aber
nannte sich seitdem Pallas Athene. Dieses Palladion nun warf, mit Einwilligung seiner Tochter, Zeus
vom Himmel in die Gegend der Burg Ilios herunter, zum Zeichen, daß Burg und Stadt unter seinem
und seiner Tochter Schutze stehe.
Der Sohn des Königs Ilos und der Eurydike war Laomedon, ein eigenmächtiger und gewalttätiger
Mann, welcher Götter und Menschen betrog. Dieser dachte darauf, den offenen Flecken Troja, der
noch nicht befestigt war wie die Burg, mit einer Mauer zu umgeben und so zu einer förmlichen Stadt
zu machen. Damals irrten die Götter Apollo und Poseidon, die sich gegen Zeus, den Göttervater,
empört hatten und aus dem Himmel gestoßen waren, heimatlos auf der Erde umher. Es war der
Wille des Zeus, daß sie dem Könige Laomedon an der Mauer Trojas bauen helfen sollten, damit seine
und Athenes Lieblingsstadt der Zerstörung trotzende Mauern hätte. So führte sie denn ihr Geschick
in die Nähe von Ilios, als eben mit dem Bau der Stadtmauern begonnen wurde. Die Götter machten
dem Könige Laomedon ihre Anträge, und da sie auf der Erde nicht bloß müßig gehen durften noch
ohne Arbeit mit Ambrosia gespeist wurden, so bedingten sie sich einen Lohn aus, der ihnen auch
versprochen ward, und fingen nun an zu frönen. Poseidon half unmittelbar bei dem Bau; unter seiner
Leitung stieg die Ringmauer breit und schön, eine undurchdringliche Schutzwehr der Stadt, in die
Höhe. Phöbos Apollo weidete inzwischen das Hornvieh des Königes in den gewundenen Schluchten
und Tälern des waldreichen Gebirges Ida. Die Götter hatten versprochen, auf diese Weise dem
Könige ein Jahr lang zu frönen. Als nun diese Frist abgelaufen war, auch die herrliche Stadtmauer
fertig stand, entzog der trügerische Laomedon den Göttern gewaltsam ihren gesamten Lohn, und als
sie mit ihm rechteten und der beredte Apollo ihm bittere Vorwürfe machte, da jagte er beide fort,
mit der Androhung, dem Phöbos Hände und Füße fesseln zu lassen, beiden aber die Ohren zu
verstümmeln. Mit großer Erbitterung schieden die Götter und wurden Todfeinde des Königs und des
Volkes der Trojaner; auch Athene kehrte sich von der Stadt, die bisher unter ihrem Schutz gestanden,
ab, und schon jetzt war, einer stillschweigenden Einwilligung des Zeus zufolge, die eben erst mit
stattlichen Mauern versehene Hauptstadt mit ihrem Königsgeschlecht und Volke diesen Göttern, zu
welchen sich mit dem glühendsten Hasse in kurzer Zeit auch Hera gesellte, zum Verderben
überlassen.
Priamos, Hekabe und Paris
Das weitere Los des Königes Laomedon und seiner Tochter Hesione ist schon von uns berichtet
worden. Ihm folgte sein Sohn Priamos in der Regierung. Dieser vermählte sich in zweiter Ehe mit
Hekabe oder Hekuba, der Tochter des phrygischen Königes Dymas. Ihr erster Sohn war Hektor. Als
aber die Geburt ihres zweiten Kindes herannahete, da schaute Hekabe in einer dunkeln Nacht im
Traume ein entsetzliches Gesicht. Ihr war, als gebäre sie einen Fackelbrand, der die ganze Stadt Troja
in Flammen setze und zu Asche verbrenne. Erschrocken meldete sie diesen Traum ihrem Gemahle
Priamos. Der ließ seinen Sohn aus erster Ehe, Aisakos mit Namen, kommen, welcher ein Wahrsager
war und von seinem mütterlichen Großvater Merops die Kunst, Träume zu deuten, erlernt hatte.
Aisakos erklärte, seine Stiefmutter Hekabe werde einen Sohn gebären, der seiner Vaterstadt zum
Verderben gereichen müsse. Er riet daher, das Kind, das sie erwartete, auszusetzen. Wirklich gebar
die Königin einen Sohn, und die Liebe zum Vaterland überwog bei ihr das Muttergefühl. Sie
gestattete ihrem Gatten Priamos, das neugeborne Kind einem Sklaven zu geben, der es auf den Berg
Ida tragen und daselbst aussetzen sollte. Der Knecht hieß Agelaos. Dieser tat, wie ihm befohlen war;
aber eine Bärin reichte dem Säugling die Brust, und nach fünf Tagen fand der Sklave das Kind gesund
und munter im Walde liegen. Jetzt hob er es auf, nahm es mit sich, erzog es auf seinem Äckerchen
wie sein eigenes Kind und nannte den Knaben Paris.
Als der Königssohn unter den Hirten zum Jünglinge herangewachsen war, zeichnete er sich durch
Körperkraft und Schönheit aus und wurde ein Schutz aller Hirten des Berges Ida gegen die Räuber;
daher ihn jene auch nur Alexander, das heißt Männerhilfe, nannten.
Nun geschah es eines Tages, als er mitten im abwegsamsten und schattigsten Tale, das sich durch die
Schluchten des Berges Ida hinzog, zwischen Tannen und Steineichen, ferne von seinen Herden, die
den Zugang zu dieser Einsamkeit nicht fanden, an einen Baum gelehnt mit verschränkten Armen
hinabschaute durch den Bergriß, der eine Durchsicht auf die Paläste Trojas und das ferne Meer
gewährte, daß er einen Götterfußtritt vernahm, der die Erde um ihn her beben machte. Ehe er sich
besinnen konnte, stand, halb von seinen Flügeln, halb von den Füßen getragen, Hermes der
Götterbote, den goldnen Heroldsstab in den Händen, vor ihm; doch war auch er nur der Verkündiger
einer neuen Göttererscheinung; denn drei himmlische Frauen, Göttinnen des Olymp, kamen mit
leichten Füßen über das weiche, nie gemähete und nie gewendete Gras einhergeschritten, daß ein
heiliger Schauer den Jüngling überlief und seine Stirnhaare sich aufrichteten. Doch der geflügelte
Götterbote rief ihm entgegen: »Lege alle Furcht ab; die Göttinnen kommen zu dir als zu ihrem
Schiedsrichter: dich haben sie gewählt, zu entscheiden, welche von ihnen dreien die schönste sei.
Zeus befiehlt dir, dich diesem Richteramte zu unterziehen; er wird dir seinen Schirm und Beistand
nicht versagen!« So sprach Hermes und erhob sich auf seinen Fittichen, den Augen des Königssohnes
entschwebend, über das enge Tal empor. Seine Worte hatten dem blöden Hirten Mut eingeflößt; er
wagte es, den schüchternen gesenkten Blick zu erheben und die göttlichen Gestalten, die in
überirdischer Größe und Schönheit seines Spruches gewärtig vor ihm standen, zu mustern. Der erste
Anblick schien ihm zu sagen, daß eine wie die andere wert sei, den Preis der Schönheit
davonzutragen; doch gefiel ihm jetzt die eine Göttin mehr, jetzt die andere, so wie er länger auf einer
der herrlichen Gestalten verweilt hatte. Nur schien ihm allmählich eine, die jüngste und zarteste,
holder und liebenswürdiger als die andern, und ihm war, als ob, aus ihren Augen ausgehend, ein Netz
von Liebesstrahlen sich ihm um Blick und Stirne spänne. Indessen hub die stolzeste der drei Frauen,
die an Wuchs und Hoheit über die beiden andern hervorragte, dem Jünglinge gegenüber an: »Ich bin
Hera, die Schwester und Gemahlin des Zeus. Wenn du diesen goldenen Apfel, welchen Eris, die
Göttin der Zwietracht, beim Hochzeitmahle der Thetis und des Peleus unter die Gäste warf, mit der
Aufschrift: ›Der Schönsten‹, mir zuerkennest, so soll dir die Herrschaft über das schönste Reich der
Erde nicht fehlen, ob du gleich nur ein aus dem Königspalaste verstoßener Hirte bist.« »Ich bin Pallas,
die Göttin der Weisheit«, sprach die andere mit der reinen, gewölbten Stirne, den tiefblauen Augen
und dem jungfräulichen Ernst im schönen Antlitz; »wenn du mir den Sieg zuerkennst, sollst du den
höchsten Ruhm der Weisheit und Männertugend unter den Menschen ernten!« Da schaute die
dritte, die bisher immer nur mit den Augen gesprochen hatte, den Hirten mit einem süßen Lächeln
noch durchdringender an und sagte: »Paris, du wirst dich doch nicht durch das Versprechen von
Geschenken betören lassen, die beide voll Gefahr und ungewissen Erfolges sind! Ich will dir eine
Gabe geben, die dir gar keine Unlust bereiten soll; ich will dir geben, was du nur zu lieben brauchst,
um seiner froh zu werden: das schönste Weib der Erde will ich dir als Gemahlin in die Arme führen!
Ich bin Aphrodite, die Göttin der Liebe!«
Als Venus dem Hirten Paris dies Versprechen tat, stand sie vor ihm, mit ihrem Gürtel geschmückt, der
ihr den höchsten Zauber der Anmut verlieh. Da erblaßte vor dem Schimmer der Hoffnung und ihrer
Schönheit der Reiz der andern Göttinnen vor seinen Augen, und mit trunkenem Mute erkannte er
der Liebesgöttin das goldene Kleinod, das er aus Heras Hand empfangen hatte, zu. Hera und Athene
wandten ihm zürnend den Rücken und schwuren diese Beleidigung ihrer Gestalt an ihm, an seinem
Vater Priamos, am Volk und Reiche der Trojaner zu rächen und alle miteinander zu verderben; und
Hera insbesondere wurde von diesem Augenblicke an die unversöhnlichste Feindin der Trojaner.
Venus aber schied von dem entzückten Hirten mit holdseligem Gruße, nachdem sie ihm ihr
Versprechen feierlich und mit dem Göttereide bekräftiget wiederholt hatte.
Paris lebte seiner Hoffnung geraume Zeit als unerkannter Hirte auf den Höhen des Ida; aber da die
Wünsche, welche die Göttin in ihm rege gemacht hatte, so lange nicht in Erfüllung gingen, so
vermählte er sich hier mit einer schönen Jungfrau, namens Önone, die für die Tochter eines
Flußgottes und einer Nymphe galt und mit welcher er auf dem Berge Ida bei seinen Herden
glückliche Tage in der Verborgenheit verlebte. Endlich lockten ihn Leichenspiele, die der König
Priamos für einen verstorbenen Anverwandten hielt, zu der Stadt hinab, die er früher nie betreten
hatte. Priamos setzte nämlich bei diesem Feste als Kampfpreis einen Stier aus, den er bei den Hirten
des Ida von seinen Herden holen ließ. Nun traf es sich, daß gerade dieser Stier der Lieblingsstier des
Paris war, und da er ihn seinem Herrn dem Könige nicht vorenthalten durfte, so beschloß er,
wenigstens den Kampf um denselben zu versuchen. Hier siegte er in den Kampfspielen über alle
seine Brüder, selbst über den hohen Hektor, der der Tapferste und Herrlichste von ihnen war. Ein
anderer mutiger Sohn des Königs Priamos, Deïphobos, von Zorn und Scham über seine Niederlage
überwältigt, wollte den Hirtenjüngling niederstoßen. Dieser aber flüchtete sich zum Altare des Zeus,
und die Tochter des Priamos, Kassandra, welche die Wahrsagergabe von den Göttern zum Angebinde
erhalten hatte, erkannte in ihm ihren ausgesetzten Bruder. Nun umarmten ihn die Eltern, vergaßen
über der Freude des Wiedersehens die verhängnisvolle Weissagung bei seiner Geburt und nahmen
ihn als ihren Sohn auf.
Vorerst kehrte nun Paris zu seiner Gattin und seinen Herden zurück, indem er auf dem Berge Ida eine
stattliche Wohnung als Königssohn erhielt. Bald jedoch fand sich Gelegenheit für ihn zu einem
königlicheren Geschäfte, und nun ging er, ohne es zu wissen, dem Preis entgegen, den ihm seine
Freundin, die Göttin Aphrodite, versprochen hatte.
Der Raub der Helena
Wir wissen, daß, als König Priamos noch ein zarter Knabe war, seine Schwester Hesione von Herakles,
der den Laomedon getötet und Troja erobert hatte, als Siegesbeute fortgeschleppt und seinem
Freunde Telamon geschenkt worden war. Obgleich dieser Held sie zu seiner Gemahlin erhoben und
zur Fürstin von Salamis gemacht, so hatte doch Priamos und sein Haus diesen Raub nicht
verschmerzt. Als nun an dem Königshofe einmal wieder die Rede von dieser Entführung war und
Priamos seine große Sehnsucht nach der fernen Schwester zu erkennen gab, da stand in dem Rate
seiner Söhne Alexander oder Paris auf und erklärte, wenn man ihn mit einer Flotte nach
Griechenland schicken wollte, so gedenke er mit der Götter Hilfe des Vaters Schwester den Feinden
mit Gewalt zu entreißen und mit Sieg und Ruhm gekrönt nach Hause zurückzukehren. Seine Hoffnung
stützte sich auf die Gunst der Göttin Aphrodite, und er erzählte deswegen dem Vater und den
Brüdern, was ihm bei seinen Herden begegnet war. Priamos selbst zweifelte jetzt nicht länger, daß
sein Sohn Alexander den besondern Schutz der Himmlischen erhalten werde, und auch Deïphobos
sprach die gute Zuversicht aus, daß, wenn sein Bruder mit einer stattlichen Kriegsrüstung erschiene,
die Griechen Genugtuung geben und Hesione ihm ausliefern würden. Nun aber war unter den vielen
Söhnen des Priamos auch ein Seher, namens Helenos. Dieser brach plötzlich in weissagende Worte
aus und versicherte, wenn sein Bruder Paris ein Weib aus Griechenland mitbringe, so würden die
Griechen nach Troja kommen, die Stadt schleifen, den Priamos und alle seine Söhne niedermachen.
Diese Wahrsagung brachte Zwiespalt in den Rat. Troilos, der jüngste Sohn des Priamos, ein
tatenlustiger Jüngling, wollte von den Prophezeiungen seines Bruders nichts hören, schalt seine
Furchtsamkeit und riet, sich durch seine Drohungen nicht vom Kriege abschrecken zu lassen. Andere
zeigten sich bedenklicher. Priamos aber trat auf die Seite seines Sohnes Paris, denn ihn verlangte
sehnlich nach der Schwester.
Nun wurde von dem König eine Volksversammlung berufen, in welcher Priamos den Trojanern
vortrug, wie er schon früher unter Antenors Anführung eine Gesandtschaft nach Griechenland
geschickt, Genugtuung für den Raub der Schwester und diese selbst zurückverlangt hätte. Damals sei
Antenor mit Schmach abgewiesen worden, jetzt aber gedenke er, wenn es dem versammelten Volke
so gefalle, seinen eigenen Sohn Paris mit einer ansehnlichen Kriegsmacht auszusenden und das mit
Gewalt zu erzwingen, was Güte nicht zuwege gebracht. Zur Unterstützung dieses Vorschlags erhub
sich Antenor, schilderte mit Unwillen, was er selbst als friedlicher Gesandter Schmähliches in
Griechenland geduldet hatte, und beschrieb das Volk der Griechen als trotzig im Frieden und verzagt
im Kriege. Seine Worte feuerten das Volk an, daß es sich mit lautem Zurufe für den Krieg erklärte.
Aber der weise König Priamos wollte die Sache nicht leichtsinnig beschlossen wissen und forderte
jeden auf zu sprechen, der ein Bedenken in dieser Angelegenheit auf dem Herzen hätte. Da stand
Panthoos, einer der Ältesten Trojas, in der Versammlung auf und erzählte, was sein Vater Othrys, von
der Götter Orakel belehrt, ihm selbst in jungen Jahren anvertraut hatte. Wenn je einmal ein
Königssohn aus Laomedons Geschlechte eine Gemahlin aus Griechenland ins Haus führen würde, so
stehe den Trojanern das äußerste Verderben bevor. »Darum«, schloß er seine Rede, »lasset uns von
dem trügerischen Kriegsruhm nicht verführt werden, Freunde; lasset uns das Leben lieber in Frieden
und Ruhe dahinbringen als auf das Spiel der Schlachten setzen und zuletzt mitsamt der Freiheit
verlieren.« Aber das Volk murrte über diesen Vorschlag und rief seinem Könige Priamos zu, den
furchtsamen Worten eines alten Mannes kein Gehör zu schenken und zu tun, was er im Herzen doch
schon beschlossen hätte.
Da ließ Priamos Schiffe rüsten, die auf dem Berge Ida gezimmert worden, und sandte seinen Sohn
Hektor ins Phrygerland, Paris und Deïphobos aber ins benachbarte Päonien, um verbündete Völker
zu sammeln; auch Trojas waffenfähige Männer schickten sich zum Kriege an, und so kam bald ein
gewaltiges Heer zusammen. Der König stellte dasselbe unter den Befehl seines Sohnes Paris und gab
ihm den Bruder Deïphobos, den Sohn des Panthoos, Polydamas, und den Fürsten Äneas an die Seite;
die mächtige Ausrüstung ging in die See und steuerte der griechischen Insel Kythere zu, wo sie zuerst
zu landen gedachten. Unterwegs begegnete die Flotte dem Schiffe des griechischen Völkerfürsten
und spartanischen Königes Menelaos, der auf einer Fahrt nach Pylos zu dem weisen Fürsten Nestor
begriffen war. Dieser staunte, als er den prächtigen Schiffszug erblickte, und auch die Trojaner
betrachteten neugierig das schöne griechische Fahrzeug, das festlich ausgeschmückt einen der ersten
Fürsten Griechenlands zu tragen schien. Aber beide Teile kannten einander nicht; jeder besann sich,
wohin wohl der andere fahren möge, und so flogen sie auf den Wellen aneinander vorüber. Die
trojanische Flotte kam glücklich auf der Insel Kythere an. Von dort wollte sich Paris nach Sparta
begeben und mit den Zeussöhnen Kastor und Pollux in Unterhandlung treten, um seine
Vatersschwester Hesione in Empfang zu nehmen. Würden die griechischen Helden sie ihm
verweigern, so hatte er von seinem Vater den Befehl, mit der Kriegsflotte nach Salamis zu segeln und
die Fürstin mit Gewalt zu entführen.
Ehe jedoch Paris diese Gesandtschaftsreise nach Sparta antrat, wollte er in einem der Aphrodite und
Artemis gemeinschaftlich geweihten Tempel zuvor ein Opfer darbringen. Inzwischen hatten die
Bewohner der Insel die Erscheinung der prächtigen Flotte nach Sparta gemeldet, wo in der
Abwesenheit ihres Gemahls Menelaos die Fürstin Helena allein hofhielt. Diese, eine Tochter des Zeus
und der Leda und die Schwester des Kastor und Pollux, war die schönste Frau ihrer ganzen Zeit und
als zartes Mädchen schon von Theseus entführt, aber von ihren Brüdern ihm wieder entrissen
worden. Als sie, zur Jungfrau aufgeblüht, bei ihrem Stiefvater Tyndareos, König zu Sparta,
heranwuchs, zog ihre Schönheit ein ganzes Heer Freier herbei, und der König fürchtete, wenn er
einen von ihnen zum Eidam wählte, sich alle anderen zu Feinden zu machen. Da gab ihm Odysseus
von Ithaka, der kluge griechische Held, den Rat, alle Freier durch einen Eid zu verpflichten, daß sie
dem erkorenen Bräutigam gegen jeden andern, der den König um dieser Heirat seiner Tochter willen
anfeinden würde, mit den Waffen in der Hand beistehen wollten. Als Tyndareos dies vernommen,
ließ er die Freier den Eid schwören, und nun wählte er selbst Menelaos, den Argiverfürsten, den Sohn
des Atreus, Bruder Agamemnons, gab ihm die Tochter zur Gemahlin und überließ ihm sein Königreich
Sparta. Helena gebar ihrem Gemahl eine Tochter, Hermione, die noch in der Wiege lag, als Paris nach
Griechenland kam.
Als nun die schöne Fürstin Helena, die in ihrem Palaste während des Gemahls Abwesenheit freudlose
Tage ohne Abwechslung verlebte, von der Ankunft der herrlichen Ausrüstung eines fremden
Königssohnes auf der Insel Kythere Kunde erhielt, wandelte sie eine weibliche Neugierde an, den
Fremdling und sein kriegerisches Gefolge zu schauen, und um dies Verlangen befriedigen zu können,
veranstaltete auch sie ein feierliches Opfer im Artemistempel auf Kythere. Sie betrat das Heiligtum in
dem Augenblicke, als Paris sein Opfer vollbracht hatte. Wie dieser die eintretende Fürstin gewahr
ward, sanken ihm die zum Gebet erhobenen Hände, und er verlor sich in Staunen, denn er meinte,
die Göttin Aphrodite selbst wieder zu erblicken, wie sie ihm in seinem Hirtengehöfte erschienen war.
Der Ruf ihrer Schönheit hatte sich zwar längst Bahn zu ihm gemacht, und Paris war begierig gewesen,
ihrer Reize in Sparta ansichtig zu werden. Doch hatte er gemeint, das Weib, das ihm die Göttin der
Liebe verheißen hatte, müsse viel schöner sein, als die Beschreibung von Helena lautete. Auch dachte
er bei der Schönen, die ihm versprochen war, an eine Jungfrau und nicht an die Gattin eines anderen.
Jetzt aber, wo er die Fürstin von Sparta vor Augen sah und ihre Schönheit mit der Schönheit der
Liebesgöttin selbst wetteiferte, ward ihm plötzlich klar, daß nur dieses Weib es sein könne, das ihm
Aphrodite zum Lohne für sein Urteil zugesagt hatte. Der Auftrag seines Vaters, der ganze Zweck der
Ausrüstung und Reise schwand in diesem Augenblick aus seinem Geiste; er schien sich mit seinen
Tausenden Bewaffneter nur dazu ausgesendet, Helena zu erobern. Während er so in ihre Schönheit
versunken stand, betrachtete auch die Fürstin Helena den schönen asiatischen Königssohn mit dem
langen Haarwuchs, in Gold und Purpur mit orientalischer Pracht gekleidet, mit nicht unterdrücktem
Wohlgefallen; das Bild ihres Gemahls erbleichte in ihrem Geiste, und an seine Stelle trat die reizende
Gestalt des jugendlichen Fremdlings.
Indessen kehrte Helena nach Sparta in ihren Königspalast zurück, suchte das Bild des schönen
Jünglings aus ihrem Herzen zu verdrängen und wünschte ihren noch immer auf Pylos verweilenden
Gatten Menelaos zurück. Statt seiner erschien Paris selbst mit seinem erlesenen Volk in Sparta und
bahnte sich mit seiner Botschaft den Weg in des Königes Halle, obgleich dieser abwesend war. Die
Gemahlin des Fürsten Menelaos empfing ihn mit der Gastfreundschaft, welche sie dem Fremden,
und mit der Auszeichnung, welche sie dem Königssohne schuldig war. Da betörte seine Saitenkunst,
sein einschmeichelndes Gespräch und die heftige Glut seiner Liebe das unbewachte Herz der Königin.
Als Paris ihre Treue wanken sah, vergaß er den Auftrag seines Vaters und Volkes, und nur das
trügerische Versprechen der Liebesgöttin stand vor seiner Seele. Er versammelte seine Getreuen, die
bewaffnet mit ihm nach Sparta gekommen waren, und verführte sie durch Aussicht auf reiche Beute,
in den Frevel zu willigen, welchen er mit ihrer Hilfe auszuführen gedachte. Dann stürmte er den
Palast, bemächtigte sich der Schätze des griechischen Fürsten und entführte die schöne Helena, die
widerstrebend und doch nicht ganz wider Willen nach der Insel und seiner Flotte folgte.
Als er mit seiner reizenden Beute auf der See durch das Ägäische Meer schwamm, überfiel die
eilenden Fahrzeuge eine plötzliche Windstille: vor dem Königsschiffe, das den Räuber mit der Fürstin
trug, teilte sich die Woge und der uralte Meeresgott Nereus hub sein schilfbekränztes Haupt mit den
triefenden Haar‐ und Bartlocken aus der Flut empor und rief dem Schiffe, welches wie mit Nägeln in
das Wasser geheftet schien, das wiederum selber einem ehernen Walle glich, der sich um die Rippen
des Fahrzeugs aufgeworfen hatte, seine fluchende Wahrsagung zu: »Unglücksvögel flattern deiner
Fahrt voran, verwünschter Räuber! Die Griechen werden kommen mit Heeresmacht, verschworen,
deinen Frevelbund und das alte Reich des Priamos zu zerreißen! Wehe mir, wieviel Rosse, wieviel
Männer erblicke ich! Wie viele Leichen verursachst du dem dardanischen Volke! Schon rüstet Pallas
ihren Helm, ihren Schild und ihre Wut! Jahrelang dauert der blutige Kampf, und den Untergang
deiner Stadt hält nur der Zorn eines Helden auf. Aber wenn die Zahl der Jahre voll ist, wird
griechischer Feuerbrand die Häuser Trojas fressen!«
So prophezeite der Greis und tauchte wieder in die Flut. Mit Entsetzen hatte Paris zugehört; als aber
der Fahrwind wieder lustig blies, vergaß er bald im Arm der geraubten Fürstin der Weissagung und
legte mit seiner ganzen Flotte vor der Insel Kranaë vor Anker, wo die treulose und leichtsinnige
Gattin des Menelaos ihm jetzt freiwillig ihre Hand reichte und das feierliche Beilager gehalten wurde.
Da vergaßen beide Heimat und Vaterland und zehrten von den mitgebrachten Schätzen lange Zeit in
Herrlichkeit und Freuden. Jahre vergingen, bis sie nach Troja aufbrachen.
Die Griechen
Die Versündigung, die sich Paris als Gesandter zu Sparta gegen Völkerrecht und Gastrecht hatte
zuschulden kommen lassen, trug im Augenblick ihre Früchte und empörte gegen ihn ein bei dem
Heldenvolke der Griechen alles vermögendes Fürstengeschlecht. Menelaos, König von Sparta, und
Agamemnon, sein älterer Bruder, König von Mykene, waren Nachkommen des Tantalos, Enkel des
Pelops, Söhne des Atreus, aus einem an hohen wie an verruchten Taten reichen Stamme; diesen
beiden mächtigen Brüdern gehorchten außer Argos und Sparta die meisten Staaten des
Peloponneses, und die Häupter des übrigen Griechenlands waren mit ihnen verbündet. Als daher die
Nachricht von dem Raube seiner Gattin Helena den König Menelaos bei seinem greisen Freunde
Nestor zu Pylos traf, eilte der entrüstete Fürst zu seinem Bruder Agamemnon nach Mykene, wo
dieser mit seiner Gemahlin Klytämnestra, der Halbschwester Helenas, regierte. Der teilte den
Schmerz und den Unwillen seines Bruders; doch tröstete er ihn und versprach, die Freier Helenas
ihres Eides zu gemahnen. So bereisten die Brüder ganz Griechenland und forderten seine Fürsten zur
Teilnahme an dem Kriege gegen Troja auf. Die ersten, die sich anschlossen, waren Tlepolemos, ein
berühmter Fürst aus Rhodos, ein Sohn des Herakles, der sich erbot, neunzig Schiffe zu dem Feldzuge
gegen die trügerische Stadt Troja zu stellen; dann Diomedes, der Sohn des unsterblichen Helden
Tydeus, der mit achtzig Schiffen die mutigsten Peloponnesier der Unternehmung zuzuführen
versprach. Nachdem die beiden Fürsten mit den Atriden zu Sparta Rat gepflogen, erging die
Aufforderung auch an die Dioskuren oder Zeussöhne Kastor und Pollux, die Brüder Helenas. Diese
aber waren schon auf die erste Nachricht von der Entführung ihrer Schwester dem Räuber
nachgesegelt und bis zur Insel Lesbos, ganz nahe an die trojanische Küste, gekommen; dort ergriff ein
Sturm ihr Schiff und verschlang es. Die Dioskuren selbst verschwanden; aber die Sage versicherte, sie
seien nicht in den Wellen umgekommen, sondern ihr Vater Zeus habe sie als Sternbilder an den
Himmel versetzt, wo sie als Beschirmer der Schiffahrt und Schutzgötter der Schiffahrenden ihr
sorgenvolles Amt von Zeitalter zu Zeitalter verwalten. Indessen erhub sich ganz Griechenland und
gehorchte der Aufforderung der Atriden; zuletzt waren nur zwei berühmte Fürsten noch zurück. Der
eine war der schlaue Odysseus aus Ithaka, der Gemahl Penelopes. Dieser wollte sein junges Weib
und seinen zarten Knaben Telemachos der treulosen Gattin des Spartanerköniges zuliebe nicht
verlassen. Als daher Palamedes, der Sohn des Fürsten Nauplios aus Euböa, der vertraute Freund des
Menelaos, mit dem Sparterfürsten zu ihm kam, heuchelte er Narrheit, spannte zu dem Ochsen einen
Esel an den Pflug und pflügte mit dem seltsamen Paare sein Feld, indem er in die Furchen, die er zog,
statt des Samens Salz ausstreute. So ließ er sich von beiden Helden treffen und hoffte dadurch von
dem verhaßten Zuge freizubleiben. Aber der einsichtsvolle Palamedes durchschaute den
verschlagensten aller Sterblichen, ging, während Odysseus seinen Pflug lenkte, heimlich in seinen
Palast, brachte seinen jungen Sohn Telemachos aus der Wiege herbei und legte diesen in die Furche,
über die Odysseus eben hinwegackern wollte. Da hob der Vater den Pflug sorgfältig über das Kind
hinweg und wurde von den laut aufschreienden Helden seines Verstandes überwiesen. Er konnte
sich jetzt nicht länger mehr weigern, an dem Zuge teilzunehmen, und versprach, die bitterste
Feindschaft gegen Palamedes in seinem listigen Herzen, zwölf bemannte Schiffe aus Ithaka und den
Nachbarinseln dem Könige Menelaos zur Verfügung zu stellen.
Der andere Fürst, dessen Zustimmung noch nicht erfolgt, ja dessen Aufenthalt man nicht einmal
kannte, war Achill, der junge, aber herrliche Sohn des Peleus und der Meeresgöttin Thetis. Als dieser
ein neugebornes Kind war, wollte seine unsterbliche Mutter auch ihn unsterblich machen, steckte
ihn, von seinem Vater Peleus ungesehen, des Nachts in ein himmlisches Feuer und fing so an zu
vertilgen, was vom Vater her an ihm sterblich war. Bei Tage aber heilte sie die versengten Stellen mit
Ambrosia. Dies tat sie von einer Nacht zur andern. Einmal aber belauschte sie Peleus und schrie laut
auf, als er seinen Sohn im Feuer zucken sah. Diese Störung hinderte Thetis, ihr Werk zu vollbringen,
sie ließ den unmündigen Sohn, der auf diese Weise sterblich geblieben war, trostlos liegen, entfernte
sich und kehrte nicht mehr in den Palast ihres Gatten zurück, sondern entwich in das feuchte
Wellenreich der Nereiden. Peleus aber, der seinen Knaben gefährlich verwundet glaubte, hub ihn
vom Boden auf und brachte ihn zu dem großen Wundarzt, dem Erzieher so vieler Helden, dem
weisen Zentauren Chiron. Dieser nahm ihn liebreich auf und nährte den Knaben mit Bärenmark und
mit der Leber von Löwen und Ebern. Als nun Achill neun Jahre alt war, erklärte der griechische Seher
Kalchas, daß die ferne Stadt Troja in Asien, welcher der Untergang durch griechische Waffen
bevorstehe, ohne den Knaben nicht werde erobert werden können. Diese Wahrsagung drang auch zu
seiner Mutter Thetis hinab durch die tiefe See, und weil sie wußte, daß jener Feldzug ihrem Sohn den
Tod bringen würde, so stieg sie wieder empor aus dem Meere, schlich sich in ihres Gatten Palast,
steckte den Knaben in Mädchenkleider und brachte ihn in dieser Verwandlung zu dem Könige
Lykomedes auf der Insel Skyros, der ihn unter seinen Mädchen als Jungfrau heranwachsen ließ und in
weiblichen Arbeiten großzog. Als aber dem Jüngling der Flaum um das Kinn zu keimen anfing,
entdeckte er sich in seiner Verkleidung der lieblichen Tochter des Königes, Deïdameia. Die gleiche
zärtliche Neigung vereinigte in der Verborgenheit den Heldenjüngling mit der königlichen Jungfrau,
und während er bei allen Bewohnern der Insel für eine Verwandte des Königs galt und auch bei
Deïdameia für nichts anderes gelten sollte, war er heimlich ihr Gemahl geworden. Jetzt, wo der
Göttersohn zur Besiegung Trojas unentbehrlich war, entdeckte der Seher Kalchas, dem wie sein
Geschick so auch sein Aufenthalt kein Geheimnis geblieben, diesen letztern den Atriden; und nun
schickten die Fürsten den Odysseus und den Diomedes ab, ihn in den Krieg zu holen. Als die Helden
auf der Insel Skyros ankamen, wurden sie dem Könige und seinen Jungfrauen vorgeführt. Aber das
zarte Jungfrauengesicht verbarg den künftigen Helden, und so scharfsichtig der Blick der beiden
Griechenfürsten war, so vermochten sie doch nicht, ihn aus der Mädchenschar herauszuerkennen.
Da nahm Odysseus seine Zuflucht zu einer List. Er ließ wie von ungefähr in den Frauensaal, in dem die
Mädchen sich befanden, einen Schild und einen Speer bringen und dann die Kriegstrompete blasen,
als ob der Feind heranrückte. Bei diesen Schreckenstönen entflohen alle Frauen aus dem Saale, Achill
aber blieb allein zurück und griff mutig zu dem Speer und zu dem Schilde. Jetzt ward er von den
Fürsten entlarvt und erbot sich, an der Spitze seiner Myrmidonen oder Thessalier, in Begleitung
seines Erziehers Phönix und seines Freundes Patroklos, welcher mit ihm einst bei Peleus aufgezogen
worden war, mit fünfzig Schiffen zu dem griechischen Heere zu stoßen.
Zum Versammlungsort aller griechischen Fürsten und ihrer Scharen und Schiffe wurde die Hafenstadt
Aulis in Böotien, an der Meerenge von Euböa, durch Agamemnon ausersehen, den die Volkshäupter
als den tätigsten Beförderer der Unternehmung zum obersten Befehlshaber derselben ernannt
hatten.
In jenem Hafen sammelten sich nun außer den genannten Fürsten mit ihren Schiffen unzählige
andere. Die vornehmsten darunter waren der riesige Ajax, der Sohn des Telamon aus Salamis, und
sein Halbbruder Teucer, der treffliche Bogenschütze; der kleine, schnelle Ajax aus dem Lokrerlande;
Menestheus aus Athen, Askalaphos und Ialmenos, Söhne des Kriegsgottes, mit ihren Minyern aus
Orchomenos; aus Böotien Peneleos, Arkesilaos, Klonios, Prothoënor; aus Phokis Schedios und
Epistrophos; aus Euböa und mit den Abanten Elephenor; mit einem Teile der Argiver und andern
Peloponnesiern außer Diomedes, Sthenelos, der Sohn des Kapaneus, und Euryalos, der Sohn des
Mekistheus; aus Pylos Nestor der Greis, der schon drei Menschenalter gesehen; aus Arkadien
Agapenor, der Sohn des Ankaios; aus Elis und andern Städten Amphimachos, Thalpios, Diores und
Polyxenos; aus Dulichion und den Echinadischen Inseln Meges, der Sohn des Phyleus; mit den
Ätoliern Thoas, der Sohn des Andraimon; aus Kreta Idomeneus und Meriones; aus Rhodos der
Heraklide Tlepolemos; aus Syme Nireus, der schönste Mann im griechischen Heere; aus den
Kalydnischen Inseln die Herakliden Pheidippos und Antiphos; aus Phylake Podarkes, Sohn des
Iphiklos; aus Pherai in Thessalien Eumelos, der Sohn des Admet und der frommen Alkestis; aus
Methone, Thaumakia und Meliböa Philoktet; aus Trikka, Ithome und Öchalia die zwei heilkundigen
Männer Podaleirios und Machaon; aus Ormenion und der Umgegend Eurypylos, der Sohn des
Euaimon; aus Argissa und der Gegend Polypötes, der Sohn des Peirithoos, des Theseusfreundes;
Guneus aus Kyphos, Prothoos aus Magnesia.
Dies waren nebst den Atriden, Odysseus und Achill die Fürsten und Gebieter der Griechen, die,
keiner mit wenigen Schiffen, sich in Aulis sammelten. Die Griechen selbst wurden damals bald
Danaer genannt, von dem alten ägyptischen Könige Danaos her, der sich zu Argos im Peloponnese
niedergelassen hatte, bald Argiver, von der mächtigsten Landschaft Griechenlands, Argolis oder dem
Argiverlande; bald Achajer oder Achiver, von dem alten Namen Griechenlands Achaja. Später heißen
sie Griechen, von Graikos, dem Sohne des Thessalos, und Hellenen, von Hellen, dem Sohne des
Deukalion und der Pyrrha.
Botschaft der Griechen an Priamos
Unterdessen, solange die Ausrüstung der Griechen sich vorbereitete, ward von Agamemnon im Rate
seiner Vertrauten und der Häupter des Volkes, um auch gütliche Mittel nicht unversucht zu lassen,
beschlossen, daß eine Gesandtschaft nach Troja an den König Priamos abgehen sollte, um sich über
die Verletzung des Völkerrechts und den Raub der griechischen Fürstin zu beschweren und die
entrissene Gattin des Fürsten Menelaos samt ihren Schätzen zurückzufordern. Es wurden hierzu in
der Versammlung der Kriegshäupter Palamedes, Odysseus und Menelaos auserwählt; und obgleich
Odysseus im Herzen der Todfeind des Palamedes war, so unterwarf er sich doch zum gemeinen
Besten der Einsicht dieses Fürsten, der in dem griechischen Heere um seines Verstandes und seiner
Erfahrung willen hoch gefeiert war, und überließ ihm willig die Ehre, am Hofe des Königs Priamos als
Sprecher aufzutreten.
Die Trojaner und ihr König waren über die Ankunft einer Gesandtschaft, die mit einer ansehnlichen
Schiffsrüstung erschien, in kein geringes Staunen versetzt. Sie wußten von der unmittelbaren
Ursache der Sendung noch nichts; denn Paris verweilte noch immer mit seiner geraubten Gattin auf
der Insel Kranaë und war in Troja verschollen. Priamos und sein Volk glaubten deswegen nicht
anders, als der trojanische Kriegszug, der die Gesandtschaft des Paris und die Zurückforderung der
Hesione unterstützen sollte, habe Widerstand in Griechenland gefunden, und jetzt nach seiner
Vernichtung würden die Griechen, übermütig geworden, über die See herbeikommen, die Trojaner in
ihrem eigenen Lande anzufallen. Die Nachricht, daß sich griechische Gesandte der Stadt näherten,
versetzte sie daher in nicht geringe Spannung. Indessen öffneten sich jenen die Tore willig, und die
drei Fürsten wurden sofort in den Palast des Priamos und vor den König selbst geführt, der seine
zahlreichen Söhne und die Häupter der Stadt zu einem Rate zusammenberufen hatte. Palamedes
ergriff vor dem Könige das Wort und beklagte sich bitter im Namen aller Griechen über die
schändliche Verletzung des Gastrechts, die sich sein Sohn Paris durch den Raub der Königin Helena
zuschulden kommen lassen. Dann entwickelte er die Gefahren eines Krieges, die dem Reiche des
Priamos aus dieser Untat erwüchsen, zählte die Namen der mächtigsten Fürsten Griechenlands auf,
die mit allen ihren Völkern auf mehr als tausend Schiffen vor Troja erscheinen würden, und verlangte
die gütliche Auslieferung der geraubten Fürstin. »Du weißt nicht, o König«, so schloß er seine Rede,
»was für Sterbliche durch deinen Sohn beschimpft worden sind: es sind die Griechen, die alle lieber
sterben, als daß einem einzigen von ihnen durch einen Fremdling ungerechte Kränkung widerfahre.
Sie hoffen aber, indem sie dieses Unrecht zu rächen kommen, nicht zu sterben, sondern zu siegen,
denn ihre Zahl ist wie der Sand am Meere, und alle sind von Heldenmut erfüllt, und alle brennen vor
Begierde, die Schmach, die ihrem Volke widerfahren ist, in dem Urheber zu tilgen. Darum verkündigt
euch unser oberster Feldherr, Agamemnon, König der mächtigen Landschaft Argos und der erste
Fürst Griechenlands, und mit ihm lassen euch alle anderen Fürsten der Danaer sagen: Gebet die
Griechin, die ihr uns gestohlen habt, heraus, oder seid alle des Untergangs gewärtig!«
Bei diesen trotzigen Worten ergrimmten die Söhne des Königes und die Ältesten von Troja, zogen
ihre Schwerter und schlugen streitlustig an ihre Schilde. Aber König Priamos gebot ihnen Ruhe, erhob
sich von seinem Königssitze und sprach: »Ihr Fremdlinge, die ihr im Namen eures Volkes so strafende
Worte an uns richtet, gönnet mir erst, daß ich von meinem Staunen mich erhole. Denn wessen ihr
mich beschuldiget, davon ist uns allen nichts bewußt; vielmehr sind wir es, die wir bei euch uns über
das Unrecht zu beklagen haben, das ihr uns andichtet. Unsre Stadt hat euer Landsmann Herakles
mitten im Frieden angefallen, aus unsrer Stadt hat er meine unschuldige Schwester Hesione als
Gefangene mit sich geführt und sie seinem Freunde, dem Fürsten Telamon auf Salamis, als Sklavin
geschenkt; und es ist der gute Wille dieses Mannes, daß sie von ihm zu seiner ehelichen Gemahlin
erhoben worden ist und nicht als Magd und Kebsweib dient. Doch konnte dies den unehrlichen Raub
nicht wiedergutmachen; und es ist schon die zweite Gesandtschaft, die diesmal unter meinem Sohne
Paris nach eurem Lande abgegangen ist, meine freventlich geraubte Schwester zurückzuverlangen,
damit ich wenigstens noch in meinem Greisenalter mich ihrer erfreuen könne. Wie mein Sohn Paris
diesen meinen königlichen Auftrag ausgerichtet, was er getan hat und wo er weilt, weiß ich nicht. In
meinem Palaste und in unserer Stadt befindet sich kein griechisches Weib, dies weiß ich gewiß. Ich
kann euch also die verlangte Genugtuung nicht geben, auch wenn ich wollte. Kommt mein Sohn
Paris, wie mein väterlicher Wunsch ist, glücklich nach Troja zurück und bringt er eine entführte
Griechin mit sich, so soll euch diese ausgeliefert werden, wenn sie anders nicht als Flüchtling unsern
Schutz anfleht. Aber auch dann werdet ihr sie unter keiner andern Bedingung und nicht eher
zurückerhalten, als bis ihr meine Schwester Hesione aus Salamis wieder in meine Arme zurückgeführt
habt!«
Der Rat der Trojaner stimmte zu diesen Worten des Königs; aber Palamedes sprach trotzig: »Die
Erfüllung unserer Forderung, o König, läßt sich von keiner Bedingung abhängig machen. Wir glauben
deinem ehrwürdigen Antlitz und der Rede deines Mundes, die uns versichert, daß die Gemahlin des
Menelaos noch nicht in deinen Mauern angekommen ist. Sie wird aber kommen, zweifle nicht; ihre
Entführung durch deinen unwürdigen Sohn ist nur allzu gewiß. Was zu unserer Väter Zeiten von
Herakles geschehen ist, dafür sind wir nicht mehr verantwortlich. Aber was einer deiner Söhne uns
jetzt eben von empörender Kränkung zugefügt hat, dafür verlangen wir Rechenschaft von dir.
Hesione ist willig mit Telamon davongezogen, und sie selbst sendet einen Sohn in diesen Krieg, der
euch bevorsteht, wenn ihr uns nicht Genugtuung gebet: den gewaltigen Fürsten Ajax. Helena aber ist
wider Willen und freventlich geraubt worden. Danket dem Himmel, der euch durch eures Räubers
Zögerung Bedenkzeit gegeben hat, und fasset einen Beschluß, der das Verderben von euch
abwendet.«
Priamos und die Trojaner empfanden die übermütige Rede des Gesandten Palamedes übel, doch
ehrten sie an den Fremdlingen das Recht der Gesandtschaft; die Versammlung wurde aufgehoben
und ein Ältester von Troja, der Sohn des Aisyetes und der Kleomestra, der verständige Antenor,
schirmte die fremden Fürsten vor allen Beschimpfungen des Pöbels, führte sie in sein Haus und
beherbergte sie dort mit edler Gastlichkeit bis zum andern Morgen. Dann gab er ihnen das Geleite an
den Strand, wo sie die glänzenden Schiffe wieder bestiegen, die sie herbeigeführt hatten.
Agamemnon und Iphigenia
Während nun die Flotte zu Aulis sich versammelte, vertrieb der Völkerfürst Agamemnon sich die Zeit
mit der Jagd. Da kam ihm eines Tages eine herrliche Hindin in den Schuß, die der Göttin Artemis
geheiligt war. Die Jagdlust verführte den Fürsten: er schoß nach dem heiligen Wild und erlegte es mit
dem prahlenden Worte, Artemis selbst, die Göttin der Jagd, vermöge nicht besser zu treffen. Über
diesen Frevel erbittert, schickte die Göttin, als in der Bucht von Aulis alles Griechenvolk gerüstet mit
Schiffen, Roß und Wagen beisammen war und der Seezug nun vor sich gehen sollte, dem
versammelten Heere tiefe Windstille zu, so daß man ohne Ziel und Fahrt müßig in Aulis sitzen mußte.
Die ratsbedürftigen Griechen wandten sich nun an ihren Seher Kalchas, den Sohn des Thestor,
welcher dem Volke schon früher wesentliche Dienste geleistet hatte und jetzt erschienen war, als
Priester und Wahrsager den Feldzug mitzumachen. Dieser tat auch jetzt den Ausspruch: »Wenn der
oberste Führer der Griechen, der Fürst Agememnon, Iphigenia, sein und Klytämnestras geliebtes
Kind, der Artemis opfert, so wird die Göttin versöhnt sein, Fahrwind wird kommen, und der
Zerstörung Trojas wird kein übernatürliches Hindernis mehr im Wege stehen.«
Diese Worte des Sehers raubten dem Feldherrn der Griechen allen Mut. Sogleich beschied er den
Herold der versammelten Griechen, Talthybios aus Sparta, zu sich und ließ denselben mit hellem
Heroldsruf vor allen Völkern verkündigen, daß Agamemnon den Oberbefehl über das griechische
Heer niedergelegt habe, weil er keinen Kindesmord auf sein Gewissen laden wolle. Aber unter den
versammelten Griechen drohte auf die Verkündigung dieses Entschlusses eine wilde Empörung
auszubrechen. Menelaos begab sich mit dieser Schreckensnachricht zu seinem Bruder in das
Feldherrnzelt, stellte ihm die Folgen seiner Entschließung, die Schmach, die ihn, den Menelaos,
treffen würde, wenn sein geraubtes Weib Helena in Feindeshänden bleiben sollte, vor und bot so
beredt alle Gründe auf, daß endlich Agamemnon sich entschloß, den Greuel geschehen zu lassen. Er
sandte an seine Gemahlin Klytämnestra nach Mykene eine briefliche Botschaft, welche ihr befahl, die
Tochter Iphigenia zum Heere nach Aulis zu senden, und bediente sich, um diesem Gebote Gehorsam
zu verschaffen, des in der Not erdichteten Vorwandes, die Tochter solle, noch bevor das Heer der
trojanischen Küste zusegle, mit dem jungen Sohne des Peleus, dem herrlichen Phthierfürsten Achill,
von dessen geheimer Vermählung mit Deïdameia niemand wußte, verlobt werden. Kaum aber war
der Bote fort, so bekam in Agamemnons Herzen das Vatergefühl wieder die Oberhand. Von Sorgen
gequält und voll Reue über den unüberlegten Entschluß, rief er noch in der Nacht einen alten
vertrauten Diener und übergab ihm einen Brief an seine Gemahlin Klytämnestra zur Bestellung; in
diesem stand geschrieben, sie sollte die Tochter nicht nach Aulis schicken, er, der Vater, habe sich
eines andern besonnen, die Vermählung müsse bis aufs nächste Frühjahr aufgeschoben werden. Der
treue Diener eilte mit dem Briefe davon, aber er erreichte sein Ziel nicht. Noch ehe er vor der
Morgendämmerung das Lager verließ, ward er von Menelaos, dem die Unschlüssigkeit des Bruders
nicht entgangen war, der ebendeswegen alle seine Schritte überwacht hatte, ergriffen, der Brief ihm
mit Gewalt entrissen und sofort von dem jüngern Atriden erbrochen. Das Blatt in der Hand, trat
Menelaos abermals in das Feldherrnzelt des Bruders. »Es gibt doch«, rief er ihm unwillig entgegen,
»nichts Ungerechteres und Ungetreueres als den Wankelmut! Erinnerst du dich denn gar nicht mehr,
Bruder, wie begierig du nach dieser Feldherrnwürde strebtest, wie du vor übel verheimlichter Lust
branntest, das Heer vor Troja zu führen? wie demütig du dich da gegen alle griechischen Fürsten
gebärdetest, wie gnädig du jedem Danaer die Rechte schütteltest? Deine Tür war stets
unverschlossen; jedem, auch dem Untersten des Volkes, schenktest du Zutritt, und alle diese
Geschmeidigkeit bezweckte nichts anderes, als dir jene Würde zu verschaffen. Aber als du nun Herr
geworden warest, da war alles bald anders; da warst du nicht mehr deiner alten Freunde Freund wie
vorher; zu Hause warst du schwer zu treffen, draußen bei dem Heere zeigtest du dich nur selten. So
sollte es ein Ehrenmann nicht machen; er sollte am meisten dann sich unveränderlich gegen seine
Freunde zeigen, wenn er ihnen am meisten nützen kann! Du hingegen, wie hast du dich betragen?
Als du mit dem Griechenheere nach Aulis gekommen warest und, vom göttlichen Geschicke
heimgesucht, vergebens auf Fahrwind hofftest und nun im Heere rings der Ruf sich hören ließ: ›Laßt
uns davonsegeln und nicht vergebens in Aulis uns abmühen!‹, wie zerstört und trostlos blickte da
dein Auge umher und wie wußtest du mitsamt deinen Schiffen keinen Rat! Damals beriefst du mich
und verlangtest nach einem Auswege, deine schöne Feldherrnwürde nicht zu verlieren. Und als
hierauf der Seher Kalchas befahl, anstatt eines Opfers der Artemis deine Tochter darzubringen, da
gelobtest du nach kurzem Zuspruche freiwillig deines Kindes Opferung und schicktest Botschaft an
dein Weib Klytämnestra, deine Tochter, wie du angabst, als Braut des Achill, herzusenden. Und jetzt,
o Schande, beugst du doch wieder aus und verfassest eine neue Schrift, durch welche du erklärst, des
Kindes Mörder nicht werden zu können? Aber freilich, tausend andern ist es schon so gegangen wie
dir. Rastlos, bis sie ans Ruder gelangt sind, treten sie später schimpflich zurück, wenn es gilt, das
Ruder mit Aufopferung zu lenken! Und doch taugt keiner zum Heeresfürsten und Staatenlenker, der
nicht Einsicht und Verstand hat und dieselben auch in den schwierigsten Lagen des Lebens nicht
verliert!«
Solche Vorwürfe aus dem Munde des Bruders waren nicht geeignet, das Herz Agamemnons zu
beruhigen. »Was schnaubst du so schrecklich«, entgegnete er ihm, »was ist dein Auge wie mit Blut
unterlaufen? Wer beleidigt dich denn? Was vermissest du denn? Deine liebenswürdige Gattin
Helena? Ich kann sie dir nicht wieder verschaffen! Warum hast du deines Eigentums nicht besser
wahrgenommen? Bin ich denn töricht, wenn ich einen Mißgriff durch Besinnung wiedergutgemacht
habe? Viel eher handelst du unvernünftig, der du aufs neue nach der Hand eines falschen Weibes
trachtest, anstatt daß du froh sein solltest, ihrer losgeworden zu sein. Nein, nimmermehr entschließe
ich mich, gegen mein eigenes Blut zu wüten. Weit besser stände dir selbst die gerechte Züchtigung
deines buhlerischen Weibes an.«
So haderten die Brüder miteinander, als ein Bote vor ihnen erschien und dem Fürsten Agamemnon
die Ankunft seiner Tochter Iphigenia meldete, der die Mutter und sein kleiner Sohn Orestes auf dem
Fuße folgten. Kaum hatte der Bote sich wieder entfernt, so überließ sich Agamemnon einer so
trostlosen und herzzerreißenden Verzweiflung, daß Menelaos selbst, der bei Ankunft der Botschaft
auf die Seite getreten war, jetzt sich dem Bruder wieder näherte und nach seiner rechten Hand griff.
Agamemnon reichte sie ihm wehmütig dar und sprach unter heißen Tränen: »Da hast du sie, Bruder;
der Sieg ist dein! Ich bin vernichtet!« Menelaos dagegen schwor ihm, von der alten Forderung
abstehen zu wollen; ja er ermahnte ihn selbst jetzt, sein Kind nicht zu töten, und erklärte einen guten
Bruder um Helenas willen nicht verderben und nicht verlieren zu wollen. »Bade doch dein Angesicht
nicht länger in Tränen«, rief er. »Gibt der Götterspruch mir Anteil an deiner Tochter, so wisse, daß ich
denselben ausschlage und meinen Teil dir abtrete! Wundre dich nicht, daß ich von der Heftigkeit
meiner natürlichen Gemütsart umgekehrt bin zur Bruderliebe; denn biedern Mannes Weise ist es,
der bessern Überzeugung zu folgen, sobald sie in unserm Herzen die Oberhand gewinnt!«
Agamemnon warf sich dem Bruder in den Arm, doch ohne über das Geschick seiner Tochter beruhigt
zu sein. »Ich danke dir«, sprach er, »lieber Bruder, daß uns gegen Verhoffen dein edler Sinn wieder
zusammengeführt hat. Über mich aber hat das Schicksal entschieden. Der blutige Tod der Tochter
muß vollzogen sein: das ganze Griechenland verlangt ihn; Kalchas und der schlaue Odysseus sind
einverstanden; sie werden das Volk auf ihrer Seite haben, dich und mich ermorden und mein
Töchterlein abschlachten lassen. Und flöhen wir gen Argos, glaube mir, sie kämen und rissen uns aus
den Mauern hervor und schleiften die alte Zyklopenstadt! Deswegen beschränke dich darauf, Bruder,
wenn du in das Lager kommst, darüber zu wachen, daß meine Gemahlin Klytämnestra nichts erfahre,
bis daß mein und ihr Kind dem Orakelspruch erlegen ist!«
Die herannahenden Frauen unterbrachen das Gespräch der Brüder, und Menelaos entfernte sich in
trüben Gedanken.
Die Begrüßung der beiden Gatten war kurz und von Agamemnons Seite frostig und verlegen; die
Tochter aber umschlang den Vater mit kindlicher Zuversicht und rief. »O Vater, wie entzückt mich
dein lang entbehrtes Angesicht!« Als sie ihm hierauf näher in sein sorgenvolles Auge sah, fragte sie
zutraulich: »Warum ist dein Blick so unruhig, Vater, wenn du mich doch gerne siehst?« »Laß das,
Töchterchen«, erwiderte der Fürst mit beklommenem Herzen; »den König und den Fürsten kümmert
gar vielerlei!« »So verbanne doch diese Furchen«, sprach Iphigenia, »und schlage ein liebendes Auge
zu deiner Tochter auf! Warum ist es denn so von Tränen angefeuchtet?« »Weil uns eine lange
Trennung bevorsteht«, erwiderte der Vater. »O wie glücklich wäre ich«, rief das Mädchen, »wenn ich
deine Schiffsgefährtin sein dürfte!« »Nun, auch du wirst eine Fahrt anzutreten haben«, sagte
Agamemnon ernst, »zuvor aber opfern wir noch ein Opfer, bei dem du nicht fehlen wirst, liebe
Tochter!« Die letzten Worte erstickten unter Tränen, und er schickte das ahnungslose Kind in das für
sie bereitgehaltene Zelt zu den Jungfrauen, die in ihrem Gefolge gekommen waren. Mit der Mutter
mußte der Atride seine Unwahrheit fortsetzen und die fragende, neugierige Fürstin über Geschlecht
und Verhältnisse des ihr zugedachten Bräutigams unterhalten. Nachdem sich Agamemnon von der
Gemahlin losgemacht, begab er sich zu dem Seher Kalchas, um mit diesem das Nähere wegen des
unvermeidlichen Opfers zu verabreden.
Derweilen mußte der tückische Zufall Klytämnestra im Lager mit dem jungen Fürsten Achill, der den
Heerführer Agamemnon aufsuchte, weil seine Myrmidonen den längern Verzug nicht ertragen
wollten, zusammenführen, und sie nahm keinen Anstand, ihn als den künftigen Eidam mit
freundlichen Worten zu begrüßen. Aber Achill trat verwundert zurück. »Von welcher Hochzeit redest
du, Fürstin?« sprach er. »Niemals habe ich um dein Kind gefreit, nie ist ein Einladungswort zur
Vermählung von deinem Gemahl Agamemnon an mich gelangt!« So begann das Truggewebe vor
Klytämnestras Augen aufgedeckt zu werden, und sie stand unentschlossen und voll Beschämung vor
Achill. Dieser aber sagte mit jugendlicher Gutmütigkeit: »Laß dich's nicht kümmern, Königin; wenn
auch jemand seinen Scherz mit dir getrieben hätte, nimm es leicht, und verzeih mir, wenn mein
Erstaunen dir wehe getan hat.« Und so wollte er mit ehrerbietigem Gruße davoneilen, den Feldherrn
aufzusuchen: da öffnete eben ein Diener das Zelt Agamemnons und rief mit verstörter Miene den
beiden Sprechenden entgegen; es war der vertraute Sklave Agamemnons und Klytämnestras, den
Menelaos mit dem Briefe ergriffen hatte. »Höre«, sprach er leise, doch atemlos, »was dir dein treuer
Diener zu vertrauen hat: deine Tochter will der Vater eigenhändig töten!« Und nun erfuhr die
zitternde Mutter das ganze Geheimnis aus dem Munde des getreuen Sklaven. Klytämnestra warf sich
dem jungen Sohne des Peleus zu Füßen, und seine Knie wie eine Schutzflehende umfassend, rief sie:
»Ich erröte nicht, so vor dir im Staube zu liegen, ich, die Sterbliche, vor dem Göttersprößling. Weiche,
Stolz, vor der Mutterpflicht! Du aber, o Sohn der Göttin, rette mich und mein Kind von der
Verzweiflung! Dir, als ihrem Gatten, habe ich sie bekränzt hierhergeführt; zwar eitlerweise, dennoch
heißest du mir meines Mädchens Bräutigam! Bei allem, was dir teuer ist, bei deiner göttlichen
Mutter beschwöre ich dich, hilf sie mir jetzt retten. Sieh, ich habe keinen Altar, zu dem ich flüchten
könnte, als deine Knie! Du hast Agamemnons grausames Unterfangen gehört; du siehest, wie ich, ein
wehrloses Weib, in die Mitte eines gewalttätigen Heeres eingetreten bin! Breite über uns deinen Arm
aus, so ist uns geholfen!«
Achill hob die vor ihm liegende Königin voll Ehrfurcht vom Boden und sprach: »Sei getrost, Fürstin!
Ich bin in eines frommen, hilfreichen Mannes Haus aufgezogen worden; am Herde Chirons habe ich
schlichte, redliche Sinnesart gelernt. Ich gehorche den Söhnen des Atreus gerne, wenn sie mich zum
Ruhme führen; aber schnödem Befehle gehorche ich nicht. Darum will ich dich schützen, soweit es
den Armen eines Jünglings möglich ist, und nimmermehr soll deine Tochter, die einmal mein genannt
wurde, von ihrem Vater hingewürgt werden. Ich selbst erschiene mir nicht unbefleckt, wenn meine
erlogene Brautschaft dieses Kind verdürbe, ich käme mir wie der feigste Wicht im Heere und wie der
Sohn eines Missetäters vor, wenn mein Name deinem Gemahl zum Vorwand eines Kindesmordes
dienen könnte.« »Ist das wirklich dein Wille, edler, mitleidiger Fürst«, rief Klytämnestra, außer sich
vor Freude, »oder erwartest du vielleicht noch, daß auch meine Tochter deine Knie als
Schutzflehende umschlingen soll? Zwar ist es nicht jungfräulich; aber wenn es dir gefällt, so wird sie
züchtiglich nahen, wie es einer Freigebornen ziemt.« »Nein«, entgegnete ihr Achill, »führe dein
Mädchen nicht vor mein Angesicht, damit wir nicht in Verdacht und üble Nachrede kommen, denn
ein so großes Heer, das keine Heimatsorgen hat, liebt faules Geschwätz; aber vertraue mir, ich habe
nie gelogen. Möge ich selbst sterben, wenn ich dein Kind nicht rette.« Mit dieser Versicherung
verließ der Sohn des Peleus Iphigenias Mutter, die jetzt mit unverhehltem Abscheu vor ihren Gatten
Agamemnon trat. Dieser, der nicht wußte, daß der Gemahlin das Geheimnis verraten war, rief ihr die
zweideutigen Worte entgegen: »Entlaß jetzt dein Kind aus dem Zelte und übergib es dem Vater, denn
Mehl und Wasser und das Opfer, das unter dem Stahle vor dem Hochzeitsfest fallen soll, alles ist
schon bereit.« »Vortrefflich«, rief Klytämnestra, und ihr Auge funkelte, »tritt selbst aus unserem
Zelte hervor, o Tochter, du kennst ja gründlich deines Vaters Willen, nimm auch deinen kleinen
Bruder Orestes mit heraus!« Und als die Tochter erschienen war, fuhr sie fort: »Siehe, Vater, hier
steht sie dir zu Gehorsam da, laß auch mich zuvor ein Wort an dich richten: sage mir ohne
Winkelzüge, willst du meine und deine Tochter umbringen?« Lange stand der Feldherr lautlos da,
endlich rief er in Verzweiflung aus: »O mein Schicksal, mein böser Geist! Aufgedeckt ist mein
Geheimnis, alles ist verloren!« »So höre mich denn«, sprach Klytämnestra weiter; »ich will mein
ganzes Herz vor dir ausschütten. Mit einem Verbrechen hat unsre Ehe begonnen; du hast mich
gewaltsam entführt, hast meinen früheren Gatten erschlagen, mein Kind mir von der Brust
genommen und getötet. Schon zogen meine Brüder Kastor und Pollux auf ihren Rossen mit
Heeresmacht gegen dich heran. Mein alter Vater Tyndareos war es, der dich, den Flehenden, rettete,
und so wurdest du aufs neue mein Gemahl. Du selbst wirst es bezeugen, daß ich tadellos in diesem
Ehebunde war, deine Wonne im Hause und dein Stolz draußen. Drei Mädchen und diesen Sohn habe
ich dir geboren, und nun willst du des ältesten Kindes mich berauben; und fragt man dich, warum, so
antwortest du: damit dem Menelaos seine Ehebrecherin wieder zuteil werde! O zwinge mich nicht,
bei den Göttern, schlecht gegen dich zu werden, und sei nicht schlecht gegen mich! Du willst deine
Tochter opfern? Welch Gebet willst du dabei sprechen, was willst du dir beim Tochtermord erflehen?
Eine unglückselige Rückkehr, so wie du jetzt schmählich von Hause wegziehst? Oder soll ich etwa
Segen für dich erbitten? Müßte ich doch die Götter selbst zu Mördern machen, wenn ich es täte!
Warum soll es denn dein eigenes Kind sein, das als Opfer fällt? Warum sprichst du nicht zu den
Griechen: ›Wenn ihr vor Troja schiffen wollet, so werfet das Los darüber, wessen Tochter sterben
soll.‹ Nun soll ich, deine treue Gattin, mein Kind verlieren, während er, dessen Sache ausgefochten
wird, Menelaos, seiner Tochter Hermione sich ohne Sorgen erfreuen darf, während seine treulose
Gattin dieses Kind in Spartas Pflege geborgen weiß! Antworte, ob ich ein einziges ungerechtes Wort
gesagt habe. Ward aber von mir die Wahrheit gesprochen, o so töte doch deine und meine Tochter
nicht; tu es nicht, besinne dich!«
Jetzt warf sich auch Iphigenia zu den Füßen ihres Vaters und sprach mit erstickter Stimme: »Besäße
ich den Zaubermund des Orpheus, o Vater, daß ich Felsen lenken könnte, so wollte ich mich mit
beredten Worten an dein Mitleid wenden. Jetzt aber sind alle meine Künste nur Tränen, und anstatt
des Ölzweigs umflechte ich dein Knie mit meinem Leibe. Verdirb mich nicht frühzeitig, Vater; lieblich
ist das Licht zu schauen, nötige mich nicht, das zu sehen, was die Nacht verbirgt! Gedenke deiner
Liebkosungen, mit welchen du mich als Kind auf deinem Vaterschoße gewiegt hast! Noch weiß ich
alle deine Reden: wie du hofftest, mich in eines edlen Mannes Wohnung einzuführen, mich in
Wohlergehen und Blüte zu schauen, wenn du heimgekehrt wärest. Du aber hast das alles vergessen;
du willst mich töten! O tu es nicht, bei dieser Mutter beschwöre ich dich, die mich mit Schmerzen
geboren hat und jetzt noch größeren Schmerz um mich empfindet! Was gehen mich Helena und Paris
an? Warum muß ich sterben, weil er nach Griechenland gekommen ist? O blicke mich an; gönne mir
dein Auge, deinen Kuß, daß ich doch sterbend noch ein Andenken von dir empfange, wenn dich mein
Wort nicht mehr zu rühren vermag! Sieh deinen Knaben, meinen Bruder, an, Vater; schweigend fleht
er für mich. Er ist noch ein Küchlein; ich aber bin herangereift! So laß dich doch erweichen und
erbarme dich meiner. Das Licht zu schauen ist für Sterbliche doch das Holdseligste! Elend leben ist
besser als der allerschönste Tod.«
Aber Agamemnons Entschluß war gefaßt, er stand unerbittlich wie ein Fels und sprach: »Wo ich
Mitleid fühlen darf, da fühle ich Mitleid; denn ich liebe meine Kinder, ich wäre ja sonst ein Rasender.
Mit schwerem Herzen, o Gemahlin, führe ich das Schreckliche aus, aber ich muß. Ihr sehet ja, welch
ein Schiffsheer mich umringt, wie viele Fürsten im Kriegspanzer mich umstehen; diese alle finden die
Fahrt nach Troja nicht, Troja wird nicht erobert, wenn ich dich nicht opfere, Kind, nach dem
Ausspruche des Sehers. Diese Helden alle wollen den Entführungen der Griechenfrauen ein Ziel
stecken; sie sind es fest entschlossen; und bekämpft' ich nun diesen Götterspruch, so mordeten sie
euch und mich. Hier hat meine Macht eine Grenze; nicht meinem Bruder Menelaos, sondern ganz
Griechenland weiche ich.«