Читать книгу Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Zweiter Teil - Gustav Schwab - Страница 8
Kapitel 5
ОглавлениеAuf der andern Seite kamen auch die Trojaner auf ihrer Burg, vor dem Palaste des Königes, nicht
ohne Schmerz und Verwirrung über den Ausgang des Zweikampfes, zur Versammlung, und hier stand
der weise Antenor auf und sprach: »Höret mein Wort, ihr Trojaner und Bundesgenossen. Solange wir
treulos gegen den heiligen Vertrag, den Pandaros gebrochen hat, kämpfen, kann unserm Volke keine
Wohlfahrt blühen; deswegen berge ich meines Herzens Meinung und meinen Rat nicht, daß wir die
Argiverin Helena mitsamt ihren Schätzen den Atriden ausliefern sollten.« Dagegen erhub sich Paris
und erwiderte: »Wenn du im Ernste so geredet hast, Antenor, so haben dir wahrhaftig die Götter
deinen Verstand geraubt; ich aber bekenne geradeheraus, daß ich das Weib nie wieder hergeben
werde. Die Schätze, die ich aus Argos mitgeführt, mögen sie meinethalben wiederhaben; und ich will
freiwillig von dem Meinigen noch hinzutun, was sie als Buße verlangen können!« Nach seinem Sohne
sprach der greise König Priamos mit wohlmeinender Gesinnung: »Laßt uns heute nichts Weiteres
mehr beginnen, ihr Freunde! Verteilet den Nachtimbiß unter das Heer, stellet die Wachen aus und
überlasset euch, behutsam wie immer, dem Schlafe. Am nächsten Morgen aber soll Idaios, unser
Herold, zu den Schiffen der Griechen gehen und denselben das friedsame Wort meines Sohnes Paris
verkündigen, zugleich sie erforschen, ob sie geneigt seien, uns Waffenruhe zu gewähren, bis wir
unsere Toten verbrannt haben. Können wir uns nicht vereinigen, so mag nachher die Feldschlacht
wieder beginnen.«
So geschah es. Am andern Morgen erschien Idaios als Herold vor den Griechen und meldete das
Anerbieten des Paris und den Vorschlag des Königes. Als die Helden der Danaer solches hörten,
blieben alle lange stumm. Endlich begann Diomedes: »Laßt euch doch nicht einfallen, ihr Griechen,
die Schätze anzunehmen; auch nicht, wenn ihr Helena dazubekämet. Der Einfältigste wird ja wohl
hieraus erkennen, daß die Trojaner bereits mit dem Untergang bedroht sind!« Diesem Worte
jauchzten die Fürsten alle Beifall zu, und Agamemnon sprach jetzt zu dem Herolde: »Du hast selbst
den Bescheid der Griechen, was den Vorschlag des Paris betrifft, vernommen; die Verbrennung der
Toten aber soll euch keineswegs verweigert sein; der Donnerer selbst soll diese unsere Zusage
hören!« Mit diesen Worten hub er den Zepter gen Himmel. Idaios kehrte nach Troja zurück und traf
den Rat der Trojaner wieder versammelt. Auf die willkommene Botschaft wurde es schnell in der
Stadt lebendig; die einen holten die Leichname, die andern Holz aus der Waldung. Und ganz dasselbe
geschah im Schiffslager der Griechen. Friedlich begegneten im Strahl der Morgensonne Feinde den
Feinden und suchten ihre Toten, einer an der Seite des andern. Schwer war der Gegner vom Freunde
zu erkennen, wie die Leichname blutig und der Rüstungen beraubt dalagen. Unter heißen Tränen
wuschen die Trojaner den ihrigen, deren viel mehr waren, das Blut von den Gliedern, aber alle laute
Wehklage verbot Priamos. So huben sie sie verstummt auf die Wagen und türmten unter großer
Herzensbetrübnis die Scheiterhaufen auf. Dasselbe taten die Griechen, gleichfalls mit traurigem
Herzen; und als die Glut ausgelodert, kehrten sie zu ihren Schiffen zurück. Der Tag war über dieser
Arbeit zu Ende gegangen, und das Abendmahl begann. Gerade zur rechten Zeit waren aus Lemnos
von Euneos, dem Sohne Iasons und Hypsipyles, Lastschiffe mit einer Ladung edlen Weines
angekommen, den der Gastfreund den verwandten Griechen zum Geschenke sandte, viel tausend
Krüge. Da ward ein lieblicher Festschmaus gerüstet, und als die Griechen ihre Beute bei den Schiffen
untergebracht, setzten sie sich zum Mahle.
Auch die Trojaner wollten sich beim Schmause von der Schlacht erholen. Aber Zeus ließ ihnen keine
Ruhe und schreckte sie die ganze Nacht hindurch mit Donnerschlägen, die sich von Zeit zu Zeit
wiederholten und ihnen neues Unglück zu verkündigen schienen. Entsetzen faßte sie, und sie wagten
den Becher nicht an den Mund zu führen, ohne dem zürnenden Göttervater ein Trankopfer
auszugießen.
Sieg der Trojaner
Für den Augenblick jedoch hatte es Zeus anders in seinem Rate beschlossen. »Höret mein Wort«,
sprach er zu den versammelten Göttern und Göttinnen am andern Morgen, »wer mir heute hingeht,
den Trojanern oder den Griechen beizustehen, den fasse ich und schleudere ihn in den Abgrund des
Tartaros unter das Erdreich, so tief hinab, als tief unter dem Himmel die Erde liegt; dann verschließe
ich die eiserne Pforte, welche die eherne Schwelle der Unterwelt verwahrt, und der Missetäter
kommt mir nicht mehr herauf. Und zweifelt ihr an meiner Allmacht, so versucht es: befestiget eine
goldene Kette am Himmel, hängt euch alle daran und sehet zu, ob ihr mich auf den Erdboden
herabzuziehen vermögend seid. Vielmehr würde ich euch selbst mitsamt Erd und Meer emporziehen,
die Kette an der Felsenkuppe des Olymp festbinden und so das Weltall in der Schwebe tragen.« Die
Götter demütigten sich unter dieses zornige Wort; Zeus selbst bestieg seinen Donnerwagen und fuhr
nach dem Ida, wo er einen Hain und Altar hatte. Dort setzte er sich auf die Höhe und überschaute mit
freudigem Trotze die Stadt der Trojaner und das griechische Schiffslager. An beiden Orten warfen
sich die Männer in die Rüstung. Der Trojaner waren zwar weniger, doch waren auch sie nach der
Schlacht begierig, galt es ja den Kampf für ihre Weiber und Kinder. Bald öffneten sich bei ihnen die
Tore, und ihr Kriegsheer stürzte, zu Fuß und zu Wagen, unter Getümmel heraus. Den Morgen über
wurde mit gleichem Glücke gekämpft, und auf beiden Seiten strömte viel Blut auf den Boden. Als
aber die Sonne hoch am Mittagshimmel stand, legte Zeus zwei Todeslose in seine goldene Waage,
faßte sie in der Mitte und wog in der Luft. Da sank das Verhängnis der Griechen, daß ihr Gewicht sich
bis zur Erde niedersenkte und das der Trojaner zum Himmel emporstieg.
Mit einem Donnerschlage kündigte er die verwandelte Schickung dem Heere der Griechen an, indem
ein Blitzstrahl mitten unter dasselbe herabfuhr. Bei diesem Anblicke durchschauderte ein
ahnungsvoller Schrecken die Reihen der Griechen, und die größten Helden fingen an zu wanken.
Idomeneus, Agamemnon, die beiden Ajax selbst hielten nicht mehr stand. Bald war nur noch der
greise Nestor im Vorderkampf zu schauen, aber auch dieser nur gezwungen; denn Paris hatte sein
Roß vorn am Mähnenbusch mit einem Pfeile tödlich getroffen. Das Pferd bäumte sich angstvoll und
wälzte sich bald mit seiner Wunde; während nun Nestor dem Nebenroß die Stränge mit seinem
Schwert abzuhauen bemüht war, kam Hektor mit seinem Wagen, in der Verfolgung der Griechen
begriffen, auf ihn zugefahren; und jetzt war es um das Leben des edlen Greises geschehen, wenn
nicht Diomedes herbeigeeilt wäre. Dieser schalt den mit umgewandtem Rücken den Schiffen
zufliehenden Odysseus und ermunterte ihn vergebens zur Abwehr; dann stellte er sich selbst vor die
Rosse Nestors, überantwortete sie dem Sthenelos und Eurymedon und nahm den Greis auf seinen
eigenen Wagen. Hierauf ging er mit ihm gerade dem Hektor entgegen, schickte seinen Speer ab und
verfehlte zwar den Helden selbst, durchschoß jedoch seinem Wagenlenker Eniopeus die Brust, daß er
dem Wagen entsank. So tief ihn der Tod des Freundes schmerzte, ließ ihn Hektor doch liegen, rief
einen andern Helden herbei, die Rosse zu lenken, und flog dem Diomedes entgegen. Hektor wäre
verloren gewesen, wenn er sich mit dem Tydiden gemessen hätte, und der Göttervater wußte wohl,
daß mit seinem Sturze sich die Schlacht gewendet und die Griechen noch an diesem Tage Ilion
erobert hätten. Dies wollte Zeus nicht und schleuderte dicht vor dem Wagen des Diomedes einen
Blitzstrahl in den Boden. Nestor ließ vor Schrecken die Zügel aus den Händen fahren und sprach:
»Auf, Diomedes, wende deine Rosse zur Flucht; erkennst du nicht, daß Zeus dir heute den Sieg
verweigert?« »Du hast recht, o Greis«, erwiderte dieser, »aber es empört mir das Herz, wenn Hektor
einst in der Versammlung der Trojaner sagen darf: der Sohn des Tydeus hat sich vor mir in banger
Flucht den Schiffen zugewendet!« Aber Nestor sprach: »Was denkst du, wenn dich Hektor auch feige
schilt, werden ihm die Troer und Troerinnen glauben, deren Freunde und Gatten du in den Staub
gestreckt hast?« Mit diesen Worten wandte er die Rosse zur Flucht, und Hektor, mit seinen Trojanern
nachstürmend, rief. »Tydide, dich ehrten die Griechen in der Versammlung und beim Festmahl;
künftig verachten sie dich wie ein zagendes Weib! Du bist es nicht, der Troja erobern und unsere
Frauen zu Schiffe wegführen wird!« Da besann sich Diomedes dreimal, ob er die Rosse umlenken und
dem Höhnenden entgegenfahren sollte; aber dreimal donnerte Zeus fürchterlich vom Ida her, und so
setzte er die Flucht und Hektor die Verfolgung fort.
Vergebens wollte Hera, die dies mit Kummer sah, Poseidon, den besondern Schutzgott der Griechen,
bewegen, seinem Volke beizustehen; er wagte es nicht, gegen das zornige Wort seines mächtigen
Bruders zu handeln. Jetzt waren die Fliehenden mit Roß und Mann am Wall und Graben vor den
Schiffen angekommen; und gewiß wäre Hektor eingedrungen und hätte die Brandfackel ins
Schiffslager der Griechen geworfen, wenn nicht Agamemnon, von Hera ermutigt, die verstörten
Griechen um sich gesammelt hätte. Er betrat das gewaltige Meerschiff des Odysseus, das in der Mitte
stand und hoch über die andern hervorragte. Hier stand er auf dem Verdeck, den schimmernden
Purpurmantel mit der nervigen Rechten sich über die Schulter schlagend, und rief, auf der einen Seite
zu den Gezelten des salaminischen Ajax, auf der andern zu denen des Peliden hinab, wo auf beiden
Seiten das flüchtende Heer sich zusammendrängte: »Schämet euch, Verworfene«, rief er, »wo ist
euer Heldenmut jetzt, ihr Prahler bei den Krügen? Vor dem einen Hektor sind wir jetzt zunichte
geworden; bald wird er unsere Schiffe in Brand stecken. O Zeus, mit welchem Fluche hast du mich
beladen! Wenn ich dich je mit Gebeten und Opfern geehrt, so laß mich jetzt wenigstens entfliehen
und entkommen und nicht hier bei den Schiffen von der Macht der Trojaner erdrückt werden!« So
rief er unter Tränen, daß es den Göttervater selbst erbarmte und er den Griechen ein heilvolles
Zeichen vom Himmel sandte, einen Adler, der ein junges Reh in den Klauen trug und vor dem Altar
des Zeus selbst niederwarf.
Dieses Zeichen stärkte die Danaer, und aufs neue flogen sie vorwärts, dem Gewühl der
eindringenden Feinde entgegen. Vor allen andern sprengte Diomedes mit seinen Rossen über den
Graben hervor und stieß den Trojaner Agelaos, der vor ihm seinen Streitwagen zur Flucht wandte,
mit dem Speere durch den Rücken. Nächst ihm drangen Agamemnon und Menelaos vor, ihnen
zunächst die beiden Ajax; dann Idomeneus und Meriones; dann Eurypylos. Jetzt kam Teucer als der
neunte; dieser hinter dem Schilde seines Halbbruders Ajax aufgestellt, schoß einen Trojaner um den
andern mit seinen Pfeilen in den Staub. Schon hatte er ihrer achte zu Boden gestreckt, als
Agamemnon einen freudigen Blick auf ihn warf und ihm zurief. »Triff so fort, edler Freund, und
werde ein Licht der Danaer! Gewähren uns Zeus und Athene, Troja zu vertilgen, so sollst du der erste
sein, dem ich ein Ehrengeschenk verleihe!« »Du brauchst mich nicht lange zu ermahnen, König«,
antwortete ihm Teucer, »spare ich doch selbst nicht mit aller meiner Kraft! Nur den wütenden Hund
zu treffen ist mir noch nicht gelungen!« Damit sandte er einen Pfeil gerade auf Hektor ab; dennoch
fehlte das Geschoß und traf nur einen Bastard des Priamos, den Gorgythion, der sein
helmbeschwertes Haupt zur Seite neigte, wie ein Mohnhaupt unter dem Regenschauer des Frühlings
sich beugt. Einen zweiten Pfeil des Teucer lenkte Apollo ab; doch durchschoß er die Brust des
Archeptolemos, der dem Hektor den Wagen lenkte. Auch diesen Freund ließ Hektor mit bitterem
Schmerze liegen und rief einen dritten auf den Wagen. Dann drang er in heißer Begier auf Teucer los
und traf ihn, als er eben den Bogen wieder spannte, mit einem langen, kantigen Stein am
Schlüsselbeine, daß die Sehne ihm zerriß, die Hand am Knöchel erstarrte und er ins Knie sank. Aber
Ajax vergaß des Bruders nicht, er umging ihn und deckte ihn so lange mit dem Schild, bis zwei
Freunde den schwer Aufstöhnenden nach den Schiffen getragen hatten.
Nun aber stärkte Zeus den Trojanern den Mut wieder. Wütend und mit funkelnden Augen drang
Hektor mit den ersten voran und verfolgte die Griechen, wie ein Hund den gehetzten Eber im
Bergwalde verfolgt, indem er immer jeden Äußersten, der ihm in den Wurf kam, niederstreckte. Die
Griechen wurden wieder zu den Schiffen zusammengedrängt und beteten geängstet zu ihren
Göttern. Das erbarmte Hera, und zu Athene gewendet, sprach sie: »Wollen wir das sterbende Volk
der Danaer immer noch nicht retten? Siehst du nicht, wie unerträglich Hektor dort unten wütet,
welches Blutbad er schon angerichtet hat?« »Ja, mein Vater ist grausam«, antwortete Athene, »er
hat ganz vergessen, wie getreulich ich seinem Sohne Herakles auf allen Abenteuern zur Seite
gestanden habe. Aber die Schmeichlerin Thetis hat ihn mit ihren Liebkosungen bestochen, und nun
bin ich ihm verhaßt geworden. Doch denke ich, nennt er mich einmal wieder sein blauäugiges
Töchterlein. Hilf mir den Wagen anschirren, Hera; ich selbst will zum Vater nach dem Ida hinabeilen!«
Aber Zeus ergrimmte, als er dies innewurde, und seine windschnelle Botin Iris mußte den Wagen
aufhalten, als er mit den beiden Göttinnen eben durch das vorderste Tor des Olymp hindurchfuhr.
Auf seine zornige Botschaft lenkten diese um, und bald erschien Zeus auf dem Donnerwagen selbst
wieder, daß die Höhen des Götterbergs vor seinem Nahen erbebten. Aber er blieb taub gegen die
Bitten der Gemahlin und der Tochter. »Noch größeren Sieg der Trojaner sollst du morgen schauen«,
sprach er zu Hera. »Nicht eher soll der gewaltige Hektor vom Streite ruhen, bis die Griechen in
schrecklicher Bedrängnis, um die Steuerruder ihrer Schiffe zusammengedrängt, kämpfen und der
zürnende Achill sich wieder in seinem Zelte erhebt. So ist es der Wille des Verhängnisses.« Hera ward
traurig und verstummte.
Bei den Schiffen hatte die Nacht dem Kampf ein Ziel gesetzt. Hektor berief seine Krieger, seitwärts
von den Schiffen, bei den Wirbeln des Skamander, zu einer Ratsversammlung und sprach: »Hätte uns
die Nacht nicht ereilt, so wären die Feinde jetzt vertilgt. Aber auch so lasset uns nicht in die Stadt
zurückkehren, sondern führet eilig aus derselben Hornvieh und Schafe herzu, auch Wein und Brot
werde uns reichlich aus den Häusern herbeigeschafft; Wachtfeuer sollen uns rings vor einem Überfall
der Feinde schützen, während wir des Mahles oder der Wunden pflegen. Mit Anbruch des Morgens
erneuern wir den Angriff auf die Schiffe; dann will ich sehen, ob Diomedes mich zur Mauer
hinwegdrängt oder ich ihm selbst die Rüstung vom Leichnam abziehe!« Die Trojaner rauschten ihm
Beifall zu; es geschah nach seinem Rate; die ganze Nacht über rasteten sie, im Schutze von tausend
Wachtfeuern, je fünfzig und fünfzig, bei Schmaus und Wein; ihre Rosse standen beim Geschirr und
labten sich an Spelt und Gerste.
Botschaft der Griechen an Achill
Im griechischen Lager hatte sich der Schrecken von der Flucht noch nicht gelegt, als Agamemnon die
Fürsten Mann für Mann, doch nicht laut, zu einer Ratsversammlung rufen ließ. Tiefbekümmert saßen
sie bald beisammen, und unter schweren Seufzern sprach der Völkerfürst: »Freunde und Pfleger des
Volkes, in schwere Schuld hat mich Zeus verstrickt. Er, dessen gnädiger Wink mir verheißen hatte,
daß ich als Sieger nach Vertilgung Trojas heimgehen sollte, hat mich betrogen und befiehlt mir jetzt,
so viele tapfere Männer auf der Walstatt zurücklassend, ruhmlos nach Argos heimzukehren.
Vergebens widersetzen wir uns dem Willen dessen, der schon so vielen Städten das Haupt
zerschmettert hat und noch zerschmettern wird. Aber Troja sollen wir nicht erobern. So gehorchet
mir denn, und laßt uns auf den schnellen Schiffen zum Lande der Väter fliehen!«
Lang blieben die bekümmerten Helden Griechenlands stumm, als sie das traurige Wort vernommen
hatten, bis endlich Diomedes zu reden begann: »Zwar schmähtest du jüngst«, sprach er, »meinen
Mut und meine Tapferkeit vor den Griechen, o König, jetzt aber will mir bedünken, daß dir selbst
Zeus mit dem Zepter der Macht die Tapferkeit nicht verliehen hat. Glaubst du denn im Ernste, die
Männer Griechenlands seien so unkriegerisch, wie du geredet? Wohl, wenn dich das Herz so sehr
nach der Heimat drängt, so wandre! der Weg ist frei, und dein Schiff steht bereit! Wir andern Achiver
wollen bleiben, bis wir die Burg des Priamos zerstört haben. Ja, wenn sie alle davongingen, so blieben
doch wir, ich und mein Freund Sthenelos, und kämpften fort, im Glauben, daß eine Gottheit uns
hierhergeführt!« Die Helden jubelten bei diesem Worte, und Nestor sprach: »Du könntest mein
jüngster Sohn sein, o Jüngling, und doch hast du lauter Verständiges gesprochen. Auf daher,
Agamemnon, gibt den Führern ein Mahl, du hast ja Weins genug in den Zelten; die Scharenhüter
sollen sich am Graben draußen vor der Mauer lagern, du aber horche beim Becher auf den Rat der
Besten unter dem Volke.«
So geschah es. Die Fürsten schmausten bei Agamemnon getrösteteren Muts, und nach dem Mahle
sprach Nestor wieder in der Versammlung: »Agamemnon, du weißt, was seit dem Tage geschehen
ist, an welchem du dem zürnenden Peliden die schöne Tochter des Brises aus den Zelten raubtest,
wider unsern Sinn; denn ich habe dich mit großem Ernst abgemahnt. Jetzt ist es Zeit, darauf zu
sinnen, wie wir das Herz des Gekränkten zur Versöhnung bewegen mögen.« »Du hast recht, o Greis«,
antwortete Agamemnon, »ich habe gefehlt und leugne es nicht. Auch will ich es gerne gutmachen
und dem Beleidigten unendliche Sühnung bieten: zehn Talente Goldes, sieben Dreifüße, zwanzig
Becken, zwölf Rosse, sieben blühende lesbische Weiber, die ich selbst erobert, endlich die liebliche
Jungfrau Brisëis selbst, die ich, obgleich ich sie dem Achill entrissen, doch immer in Ehren gehalten
habe, wie ich mit heiligem Eide beschwören kann. Erobern wir dann Troja und teilen den Siegesraub,
so will ich ihm selbst sein Schiff mit Erz und Gold vollfüllen, und er mag sich zwanzig Trojanerinnen,
die schönsten nach Helena, zur Beute heraussuchen. Kommen wir nach Argos heim, so soll er sich
eine von meinen Töchtern zur Gattin erwählen; er wird mir ein lieber Eidam sein, und meinen
eigenen einzigen Sohn Orestes will ich nicht höher halten. Sieben Städte werde ich ihm zum
Brautschatz geben. Solches alles will ich tun, sobald er von seinem Zorn abläßt.«
»Fürwahr«, antwortete ihm Nestor, »du bietest dem Fürsten Achill keine verächtlichen Gaben.
Senden wir denn auf der Stelle auserlesene Männer, Phönix als Führer, dann den großen Ajax und
den edlen Odysseus und mit ihnen die Herolde Hodios und Eurybates, zu den Zelten des zürnenden
Helden.«
Nach einem feierlichen Trankopfer verließen wirklich die von Nestor ausgewählten Fürsten die
Versammlung und gelangten in kurzem zu den Schiffen der Myrmidonen. Hier fanden sie den Achill,
wie er auf der schönen gewölbten Leier mit silbernem Stege, einer Beute aus Eëtions Stadt, sein Herz
erlabend spielte und Siegestaten der Helden dazu sang. Ihm gegenüber saß sein Freund Patroklos
und harrte schweigend, bis jener den Gesang beendigt hätte. Als der Pelide die Abgesandten,
Odysseus an der Spitze, kommen sah, erhub er sich staunend von seinem Sitze, die Leier in der Hand
behaltend. Auch Patroklos stand auf, sobald er ihrer ansichtig wurde; beide gingen ihnen entgegen,
und Achill faßte den Phönix und den Odysseus bei den Händen und rief »Freude sei mit euch, ihr
Teuren! Zwar führt euch gewiß irgendeine Not zu mir her; doch ich liebe euch so sehr vor allen
Griechen, daß ihr auch dem Zürnenden willkommen seid. « Schnell brachte jetzt Patroklos einen
großen Krug Weines herbei. Achill selbst steckte den Rücken einer Ziege und eines Schafes und das
Schulterblatt eines Mastschweins an den Spieß und briet alles mit Hilfe seines Gefährten Automedon.
Nachdem sie sich nun, um das Mahl gelagert, an Speise und Trank gelabt hatten, winkte Ajax dem
Phönix; Odysseus aber kam diesem zuvor, füllte den Becher mit Wein und trank dem Peliden mit
einem Handschlage zu; dann begann er: »Heil dir, Pelide, deinem Schmaus gebricht es nicht an Fülle;
aber nicht das liebliche Mahl ist's, wonach uns verlangt, sondern unser großes Unglück führt uns zu
dir. Denn jetzt gilt es unsere Rettung oder unsern Untergang, je nachdem du mit uns gehest oder
nicht. Die Trojaner bedrohen den Steinwall und unsere Schiffe; Hektor, die Augen voll Mordlust,
wütet, auf Zeus vertrauend. Erhebe dich denn, die Griechen wenn auch spät, zu befreien; bändige
den Stolz deines Herzens; glaube mir, freundlicher Sinn ist besser als verderblicher Zank. Hat dir doch
dein Vater Peleus selbst solche Ermahnungen mit auf den Zug gegeben!« Dann zählte ihm Odysseus
alle die herrlichen Gaben auf, die Agamemnon ihm zur Sühne anbieten ließ und noch weiter
versprach.
Aber Achill erwiderte: »Edler Sohn des Laërtes, ich muß deine schöne Rede von der Brust weg mit
Nein beantworten. Agamemnon ist mir verhaßt wie die Pforte des Hades, und weder er noch die
Griechen werden mich bereden, wieder in ihren Reihen zu kämpfen; denn wann habe ich einen Dank
für meine Heldenarbeit davongetragen? Wie eine Mutter den nackten Vögelchen den gefundenen
Bissen darbringt, auch wenn sie selbst hungert, so habe ich unruhige Nächte und blutige Tage genug
zugebracht, um jenen Undankbaren ein Weib zu erobern, und was ich erbeutet hatte, brachte ich
dem Atriden zur Gabe dar; er aber nahm die Schätze, behielt das meiste und verteilte davon nur
weniges; mir selbst hat er auch die lieblichste Beute entrissen. Darum will ich morgen schon Zeus und
den Göttern opfern; noch im Morgenrote sollen meine Schiffe im Hellespont schwimmen, und in
dreien Tagen hoffe ich in Phthia zu Hause zu sein. Einmal hat er mich betrogen, zum zweiten Male
wird er mich nicht täuschen; er begnüge sich! Gehet und meldet den Fürsten diese Botschaft, Phönix
aber bleibe, wenn es ihm gefällt, und schiffe heim mit mir ins Land der Väter!«
Vergebens suchte Phönix, sein alter Freund und Führer, den jungen Helden auf andere Gedanken zu
bringen. Dieser winkte dem Patroklos, dem alten Helden ein warmes Bette zurechtzumachen. Da
stand Ajax auf und sprach: »Odysseus, laß uns gehen, in der Brust des Grausamen wohnt keine
Milde; den Unbarmherzigen bewegt nicht die Freundschaft der Genossen, er trägt ein
unversöhnliches Herz im Busen!« Auch Odysseus erhob sich nun vom Mahle, und nachdem sie den
Göttern das Trankopfer dargebracht, verließen sie mit den Herolden das Zelt des Achill, bei dem nur
Phönix zurückblieb.
Dolon und Rhesos
Als Odysseus die unwillkommene Botschaft aus dem Zelte des Peliden mitbrachte, verstummten
Agamemnon und die Fürsten. Kein Schlaf legte sich die ganze Nacht über auf die Augenlider der
Atriden; in banger Angst erhoben sich beide noch lang vor Tagesanbruch und teilten sich in ihr
Geschäft. Menelaos ging, die Helden Mann für Mann in den Zelten zu bearbeiten; Agamemnon aber
wandelte nach der Lagerhütte Nestors. Er fand den Greis noch im weichen Bette ruhend; Rüstung,
Schild, Helm, Gurt und zwei Lanzen lagen an der Seite des Lagers. Der Greis, aus dem Schlaf erweckt,
stützte sich auf den Ellbogen und rief dem Atriden zu: »Wer bist du, der in finsterer Nacht, wo andere
Sterbliche schlummern, so einsam durch die Schiffe wandelt, als suchtest du einen Freund oder ein
verlaufenes Maultier? So rede doch, du Schweigender, was suchst du?« »Erkenne mich, Nestor«,
sprach jener leise, »ich bin Agamemnon, den Zeus in so unergründliches Leid versenkt hat; kein
Schlaf kommt in meine Augen; mein Herz klopft; meine Glieder zittern aus Angst um die Danaer. Laß
uns zu den Hütern hinabgehen, ob sie nicht schlummern. Weiß doch keiner von uns, ob die Feinde
nicht noch in der Nacht einen Angriff machen werden!« Nestor zog eilig seinen wollenen Leibrock an,
warf den Purpurmantel um, ergriff die Lanze und durchwandelte mit dem Könige die Schiffsgassen.
Zuerst weckten sie Odysseus, der auf ihren Ruf sogleich den Schild um die Schultern warf und ihnen
folgte; dann nahte sich Nestor dem Zelt und der Lagerstatt des Tydiden, berührte ihm den Fuß mit
der Ferse und weckte ihn scheltend. »Unmüßiger Greis«, antwortete der Held im halben Schlafe, »du
kannst doch nimmer von der Arbeit ruhen! Gäbe es nicht Jüngere genug, die das Heer bei Nacht
durchwandern und die Helden aus dem Schlafe wecken könnten? Aber du bist unbändig, Alter!« »Du
hast wohlziemend geredet«, erwiderte ihm Nestor, »habe ich doch selbst Völker genug, dazu
treffliche Söhne, die dies Amt verrichten könnten. Aber die Bedrängnis der Achiver ist viel zu groß, als
daß ich nicht selbst tun sollte, was das Herz mir gebietet. Auf der Schwertspitze steht bei ihnen
Untergang und Leben; deswegen erhebe dich und hilf du selbst uns den Ajax und Meges, den Sohn
des Phyleus, wecken!« Diomedes warf sogleich sein Löwenfell um die Schultern und holte die
verlangten Helden. Nun musterten sie zusammen die Schar der Hüter, aber keinen fanden sie
schlafend: alle saßen munter und wach in ihren Rüstungen da.
Allmählich waren jetzt alle Fürsten vom Schlaf aufgeweckt worden, und bald saß die
Ratsversammlung vollständig beisammen. Nestor aber begann das Gespräch: »Wie wär es, ihr
Freunde«, sagte er, »wenn jetzt ein Mann die Kühnheit hätte, hinzugehen zu den Trojanern, ob er
nicht etwa einen der Äußersten erhaschen könnte oder ihren Rat erlauschen und erfahren, ob sie
hier auf dem Schlachtfelde zu bleiben gedenken oder mit dem Siege sich in ihre Stadt
zurückzuziehen? Edle Gaben sollten den kühnen Mann belohnen, der solches wagte!« Als Nestor
ausgeredet, stand Diomedes auf und erbot sich zu dem Wagnisse, falls ein Begleiter sich zu ihm
gesellen wollte. Da fanden sich viele bereit: die Ajax beide, Meriones, Antilochos, Menelaos und
Odysseus; und Diomedes sprach: »Wenn ihr mir anheimstellet, den Genossen selbst zu wählen, wie
sollte ich des Odysseus vergessen, der in jeder Gefahr ein so entschlossenes Herz zeigt und den Pallas
Athene liebt! Wenn er mich begleitet, glaube ich, wir würden aus einem Flammenofen zurückkehren;
denn er weiß Rat wie keiner.« »Schilt und rühme mich nicht zu sehr«, antwortete Odysseus, »du
redest beides vor kundigen Männern! Aber gehen wir; denn die Sterne sind schon weit vorgerückt,
und wir haben nur noch ein Dritteil von der Nacht übrig.«
Darauf hüllten sich beide in furchtbare Rüstung und machten sich unkenntlich; Diomedes ließ
Schwert und Schild bei den Schiffen und entlehnte das zweischneidige Schwert des Helden
Thrasymedes sowie dessen Sturmhaube und Stierhaut, ohne Federbusch und Roßschweif. Dem
Odysseus gab Meriones Bogen, Köcher und Schwert und einen Helm von Leder und Filz mit
Schweinshauern. So verließen sie das griechische Lager und wandelten in der Nacht dahin. Da hörten
sie einen Reiher von der rechten Seite schreiend vorüberflattern, wurden des Glückszeichens froh,
das ihnen Pallas Athene sendete, und flehten zu ihr um Begünstigung ihres Unternehmens. So gingen
sie durch Waffen, Blut und Leichen im Dunkel dahin, an Mut zween wilden Löwen gleich.
Während diese Auskundschaftung im griechischen Lager verabredet wurde, hatte in der
Versammlung seiner Trojaner Hektor denselben Vorschlag gemacht und aus der griechischen Beute,
die er hoffte, einen Wagen und zwei der edelsten Rosse dem Manne versprochen, der es über sich
nehmen würde, den Zustand des griechischen Lagers zu erforschen. Nun befand sich unter dem
trojanischen Volke der Sohn des Eumedes, eines edlen Herolds, namens Dolon, ein an Geld und Erz
wohlbegüterter Mann von unansehnlicher Gestalt, aber ein gar hurtiger Läufer, neben fünf
Schwestern der einzige Sohn. Diesen reizte die Kühnheit seines Herzens, daß er gegen das
Versprechen, den Wagen und die Rosse des Achill zu erhalten, es über sich nahm, das feindliche
Kriegsheer zu durchwandern, bis er an Agamemnons Feldherrnschiff käme, um dort den Fürstenrat
der Danaer zu belauschen. Er hängte eilend seinen Bogen um die Schulter, hüllte sich in ein graues,
zottiges Wolfsfell, setzte einen Otterhelm auf das Haupt, faßte den Wurfspieß und ging mit Begier
seinen Weg. Dieser aber führte ihn ganz nahe an den auf gleichem Gange begriffenen
Griechenhelden vorüber. Odysseus merkte den Tritt des Herannahenden und flüsterte seinem
Gesellen zu: »Diomedes, dort kommt ein Mann aus dem trojanischen Lager herangewandelt;
entweder es ist ein Kundschafter, oder er will die Leichname auf dem Schlachtfelde berauben; lassen
wir ihn ein wenig vorübergehen, dann wollen wir ihm nachjagen und ihn entweder erhaschen oder
nach den Schiffen treiben.« Nun schmiegten sich beide abseits von dem Wege unter die Toten, und
Dolon lief sorglos vorüber. Als er einen Bogenschuß entfernt war, hörte er das Geräusch der Helden
und stand stille, denn er vermutete, daß Hektor ihn durch befreundete Boten zurückrufen lasse; bald
aber waren die Helden nur noch einen Speerwurf entfernt, und jetzt erkannte er sie als Feinde. Nun
regte er seine schnellen Knie und flog dahin wie ein Hund, der einen Hasen verfolgt. »Steh oder ich
werfe meine Lanze nach dir«, donnerte Diomedes und entsandte seinen Speer, jedoch mit Vorsatz
fehlend, so daß das Erz über die Schulter des Laufenden hin in den Boden fuhr. Dolon stand, starr
und bleich vor Schrecken; sein Kinn bebte, und die Zähne klapperten ihm. »Fahet mich lebendig«, rief
er unter Tränen, als die herankeuchenden Helden ihn mit beiden Händen festhielten, »ich bin reich
und will euch als Lösegeld Eisenerz und Gold geben, soviel ihr nur wollet!« »Sei getrost«, sprach
Odysseus zu ihm, »und mach dir keine Todesgedanken, aber sag uns die Wahrheit, was dich diesen
Weg führte.« Als Dolon zitternd und bebend alles gestanden, sprach Odysseus lächelnd: »Fürwahr,
du hast keinen schlechten Geschmack, Bursche, daß deine Seele nach dem Gespann des Peliden
gelüstet! Jetzt aber sage mir auf der Stelle: wo verließest du den Hektor, wo stehen seine Rosse, wo
ist das Kriegsgeräte? wo sind die andern Trojaner? wo die Bundesgenossen?« Dolon antwortete:
»Hektor berät sich mit den Fürsten am Grabmale des Ilos; das Kriegsheer ist ohne besondere Wachen
um Feuer gelagert, die fern herbeigerufenen Bundesgenossen aber, die für keine Weiber und Kinder
zu sorgen haben, schlafen getrennt von dem Heere und unbewacht. Wenn ihr in das trojanische
Lager wandeln wollet, so stoßet ihr zuerst auf die eben angekommenen Thrakier, die um ihren
Fürsten Rhesos, den Sohn des Eïoneus, hingestreckt ruhen. Seine blendend weißen Rosse sind die
schönsten, größesten und schnellfüßigsten, die ich je gesehen habe; sein Wagen ist mit Silber und
Gold köstlich geschmückt; er selbst trägt eine wundervolle goldne Rüstung wie ein Unsterblicher und
nicht wie ein Mensch. Nun wißt ihr alles, führet mich nun nach den Schiffen oder laßt mich gebunden
hier und überzeuget euch, daß ich die Wahrheit gesagt habe.« Aber Diomedes schaute den
Gefangenen finster an und sprach: »Ich merke wohl, Betrüger, du sinnest auf Flucht; aber meine
Hand wird dafür sorgen, daß du den Argivern nicht mehr verderblich sein kannst!« Zitternd erhob
Dolon seine Rechte, das Kinn des Helden flehentlich zu berühren, als schon das Schwert des Tydiden
ihm durch den Nacken fuhr, daß das Haupt des Redenden in den Staub hinrollte. Hierauf nahmen
ihm die Helden den Otterhelm vom Scheitel, zogen dem Rumpfe das Wolfsfell ab, lösten den Bogen,
nahmen den Speer des Getöteten zur Hand und legten die ganze Rüstung zum Merkmale für den
Heimweg auf einige Rohrbüschel; dann gingen sie vorwärts und stießen endlich auf die harmlos
schlafenden Thrakier. Bei jedem stand ein Doppelgespann von stampfenden Rossen; die Rüstungen
lagen in schöner Ordnung und in dreifachen Reihen blinkend auf dem Boden. In der Mitte schlief
Rhesos, und seine Rosse standen am hintersten Wagenringe, mit Riemen angebunden. »Hier sind
unsre Leute«, sprach Odysseus ins Ohr des Tydiden; »jetzt gilt es Tätigkeit, löse du die Rosse ab, oder
besser, töte du die Männer und laß mir die Rosse.« Diomedes antwortete ihm nicht, sondern wie ein
Löwe unter Ziegen oder Schafe fährt, hieb er wild um sich her, daß sich ein Röcheln unter seinem
Schwert erhub und der Boden rot von Blute ward. Bald hatte er zwölf Thrakier gemordet; der kluge
Odysseus aber zog jeden Getöteten, am Fuß ihn ergreifend, zurück, um den Rossen eine Bahn zu
machen. Nun hieb Diomedes auch den dreizehnten nieder: und dies war der König Rhesos, der eben
in einem schweren Traume stöhnte, den ihm die Götter gesendet hatten. Inzwischen hatte Odysseus
die Rosse vom Wagen abgelöst, mit Riemen verbunden und, indem er sich seines Bogens anstatt der
Geißel bediente, sie aus dem Haufen hinweggetrieben. Dann gab er seinem Genossen ein Zeichen
durch leises Pfeifen: dieser besann sich, ob er den köstlichen Wagen an der Deichsel wegziehen oder
auf den Schultern hinaustragen sollte; da nahte ihm warnend Pallas, die Göttin, und trieb ihn zur
Flucht. Eilend bestieg Diomedes das eine Roß, Odysseus trieb, nebenher laufend, beide mit dem
Bogen an, und nun flogen sie dem Schiffslager wieder zu.
Der Schutzgott der Trojaner, Apollo, hatte bemerkt, wie sich Athene zu Diomedes gesellte. Dies
verdroß ihn; er machte sich ins Getümmel des trojanischen Heeres und weckte den tapfern Freund
des Rhesos, den Thrakier Hippokoon, aus dem Schlaf. Als dieser die Stelle, wo die Rosse des Fürsten
gestanden, leer und ermordete Männer am Boden zuckend fand, rief er laut wehklagend den Namen
seines Freundes. Die Trojaner stürzten im Aufruhr heran und starrten vor Schrecken, als sie die
entsetzliche Tat sahen.
Unterdessen hatten die beiden Griechenhelden den Ort wieder erreicht, wo sie den Dolon getötet
hatten; Diomedes sprang vom Rosse, schwang sich aber wieder hinauf, nachdem er die Rüstung den
Händen des Freundes überreicht; Odysseus bestieg das andere Tier, und bald waren sie mit den
rasch dahinfliegenden Pferden bei den Schiffen angekommen. Nestor hörte zuerst das Stampfen der
Hufe und machte die Fürsten der Griechen aufmerksam; aber ehe er sich recht besinnen konnte, ob
er geirrt oder Wirkliches vernommen, waren die Helden mit den Rossen da, schwangen sich vom
Pferde, reichten den Freunden die Hände ringsumher zum Gruße und erzählten unter dem Jubel des
Heeres den glücklichen Erfolg ihres Unternehmens. Dann trieb Odysseus die Rosse durch den
Graben, und die andere Achiver folgten ihm jauchzend zur Lagerhütte des Tydiden. Dort wurden die
Pferde zu den andern Rossen des Fürsten an die mit Weizen wohlgefüllte Krippe gebunden. Die
blutige Rüstung Dolons aber legte Odysseus hinten im Schiffe nieder, bis sie bei einem Dankfest
Athenes prangen könnte. Nun spülten sich beide Helden mit der Meerflut Schweiß und Blut von den
Gliedern, setzten sich zum warmen Bad in Wannen, salbten sich mit Öl und genossen das Frühmahl
beim vollen Kruge; und Pallas Athene ward mit dem Trankopfer nicht vergessen.
Zweite Niederlage der Griechen
Es war Morgen. Agamemnon befahl dem Volke, sich zu gürten, und legte selbst die Rüstung an, den
herrlichen Harnisch, an dem zehn bläuliche Stahlstreifen mit zwölf aus funkelndem Gold und zwanzig
aus Zinn wechselten; die Halsbrünne bildeten drei Drachen, glänzend wie Regenbogen; der Panzer
war ein Geschenk des Kinyras, Fürsten von Cypern; dann warf er sich das Schwert, mit goldenen
Buckeln am Griff, in silberner Scheide, am strahlenden Goldgehenke befestigt, um die Schulter;
darauf hob er den kunstreich gewölbten Schild, um den zehn Erzkreise herliefen und zwanzig weiße
zinnerne Buckeln blinkten; auf dem mittleren dunkelblauen Felde war das gräßliche Gorgonenhaupt
abgebildet, das Schildgehenk hatte die Gestalt eines bläulichen Drachens mit drei gekrümmten
Häuptern. Dann setzte er sich den viergipflichten, von Roßhaaren umwallten Helm, mit fürchterlich
nickendem Helmbusch, aufs Haupt, ergriff zwei mächtige Lanzen mit strahlenden Erzspitzen und
schritt in die Schlacht. Hera und Athene begrüßten vom Himmel herab den herrlich gerüsteten König
der Völker mit einem freudigen Donner. Zuerst drangen die Fußgänger mit den ehernen
Waffenrüstungen über den Graben, ihnen folgten die Reisigen auf den Streitwagen, und mit lautem
Getümmel eilte das ganze Heer vorwärts.
Auf der andern Seite hielten die Trojaner einen Hügel des Feldes mit ihren Scharen besetzt; ihre
Führer waren Hektor, Polydamas und Äneas; nächst ihnen Polybos, Agenor und Akamas, die drei
tapfern Söhne Antenors. Wie ein Stern durch Nachtgewölk wandelte Hektor bald durch den
vordersten, bald durch den äußersten Zug und ordnete die Schlachtreihen; in seiner Erzrüstung
leuchtete er wie ein Blitzstrahl des Donnerers. Bald stürmten nun Trojaner und Danaer mordend
gegeneinander, wie Schnitter mähend in die Schwaden fahren; alles drängte sich Haupt an Haupt zur
Schlacht, in beiden Heeren tobten die Streiter wie Wölfe. Endlich durchbrachen die Griechen mit
ihrer Kraft die Schlachtreihen der Feinde, und Agamemnon stieß, voranstürmend, den Fürsten Bianor
und seinen Wagenlenker nieder. Dann warf er sich auf zwei Söhne des Königes Priamos, den
Antiphos und seinen Wagenlenker, den Bastard Isos; jenem durchschoß er die Brust mit der Lanze,
diesen stürzte er mit einem Schwerthiebe vom Wagen, und den Getöteten entzog er eilig die
Rüstung. Jetzt begegnete er zwei Söhnen des Antimachos, des Trojanerfürsten, der einst, von Paris'
Golde betört, die Helena auszuliefern verboten hatte. Vergebens flehten ihn die Knaben, in den
Wagen hineingeschmiegt, um Schonung an. Ihres Vaters gedenkend, durchbohrte er den einen und
hieb dem andern die Hände vom Leib und das Haupt von der Schulter. Immer tiefer drang die
Verfolgung der Griechen ein, auf Fußvolk und auf Wagen, wie ein Feuerbrand unter Sturm durch
unausgehauene Waldung sich verbreitet.
Aus den Blutströmen und dem Getümmel entzog den Fürsten Hektor Zeus selbst den Geschossen,
daß er zum Denkmale des alten Königes Ilos, an den Feigenhügel vorüber, mitten durch das Gefilde,
sehnsüchtig nach der Stadt hin floh; aber Agamemnon, seine Hände mit Trojanerblute besudelt,
folgte ihm laut schreiend. Endlich an der Buche des Zeus, nicht fern vom Skäischen Tore, stand
Hektor und zugleich die ganze Flucht der Seinigen, ihm nachgedrungen, stille. Da sandte Zeus die
Götterbotin Iris und befahl ihm, solange Agamemnon im Vordergewühl tobte, selbst zurückzustehen
und dem andern Volke die Feldschlacht zu überlassen, bis der Atride verwundet würde. Dann wollte
der Göttervater ihn selbst wieder zum Siege führen. Hektor gehorchte. Von der Hinterhut aus
mahnte er die Seinigen zu frischem Kampfe. Aufs neue begann das Gefecht; Agamemnon stürmte
voraus und fing wieder an, in den Scharen der Trojaner und ihrer Bundesgenossen zu wüten. Ihm
begegnete zuerst Antenors Sohn, Iphidamas, ein großer, gewaltiger Held, der in Thrakien bei seinem
Ahn aufgewachsen war und neuvermählt zum Kampfe in die alte Heimat gezogen kam. Agamemnons
Lanze fehlte; der Speer des Iphidamas verbog sich die Spitze am Leibgurt seines Feindes. Schleunig
ergriff jetzt Agamemnon die Lanze des Gegners, riß sie ihm aus der Hand und durchhieb ihm den
Nacken mit dem Schwert. So sank der Arme, von der Gattin getrennt, im Kampfe für die Seinigen,
bemitleidenswert in den ehernen Todesschlummer. Agamemnon entwaffnete ihn und prahlte mit
der herrlichen Rüstung durch die Reihen der Achiver. Als ihn so der ältere Sohn des Antenor, Koon,
einer der gepriesensten trojanischen Kämpfer, einherschreiten sah, faßte ihn unaussprechlicher
Gram um den gefallenen Bruder; doch raubte ihm der Schmerz die Besinnung nicht, sondern,
unbemerkt vom Atriden, stach er diesem seitwärts mit seinem Speere mitten in den Arm, dicht unter
dem Gelenk. Agamemnon fühlte sich von einem plötzlichen Schauer durchdrungen; dennoch gönnte
er sich keine Rast vom Kampfe, und während Koon seinen Bruder am Fuß aus dein Gewühl zu ziehen
bestrebt war, durchstach ihn der Schaft des Atriden unter dem Schilde, so daß er entseelt auf den
Leichnam des Bruders hinsank.
Solange das Blut noch warm aus der offenen Wunde hervordrang, fuhr Agamemnon fort, mit Lanze,
Schwert und Steinen in den Reihen der Trojaner zu morden; als aber das Blut in der Wunde zu
erharschen anfing, da mahnte ihn ein scharfer zuckender Schmerz, das Gewühl der Schlacht zu
verlassen. Schnell sprang er in den Sitz des Streitwagens, dem Rosselenker gebietend, nach den
Schiffen umzukehren; und bald trug der Wagen, mit Staub umwölkt, den von der Wunde hart
gequälten König dem Schiffslager zu.
Als Hektor sah, wie der Atride sich entfernte, gedachte er an den Befehl des Zeus, eilte in die
Vorderschar der Trojaner und Lykier und rief laut aus: »Jetzt, ihr Freunde, seid Männer und sinnet auf
Abwehr! Der tapferste Mann Griechenlands ist ferne, und Zeus verleiht mir Siegesruhm. Auf, mitten
unter die Helden der Danaer hinein mit den Rossen, damit wir um so höheren Ruhm gewinnen!« So
rief Hektor und stürzte sich wie ein Sturmwind zuerst in die Schlacht. Und in kurzer Zeit waren neun
Fürsten der Griechen, dazu viel gemeines Volk unter seinen Händen erlegen. Schon war er nahe
daran, das fliehende Heer der Griechen in die Schiffe zu drängen, da ermahnte Odysseus den
Tydiden: »Ist es möglich, daß wir der Abwehr so ganz vergessen? Tritt doch näher, Freund, und stelle
dich neben mich; laß uns die Schande nicht erleben, daß Hektor unser Schiffslager erobere!«
Diomedes nickte ihm zu und durchschmetterte die Brust des Trojaners Thymbraios auf der linken
Seite mit dem Wurfspieß, daß er vom Wagen auf die Erde herabfiel; sein Wagenlenker, Molion, sank
unter Odysseus zu Boden. Weiter noch durchtobten sie, vorwärtsgewendet, den Feind, und die
Griechen fingen an, wieder aufzuatmen. Zeus, der noch immer vom Ida herabschaute, ließ den
Kampf im Gleichgewichte schweben. Endlich erkannte Hektor durch die Schlachtreihen hindurch die
zwei rasenden Helden und stürmte mit seinen Heerscharen auf sie daher. Noch zur rechten Zeit sah
sich Diomedes vor und schleuderte ihm die Lanze an die Helmkuppel. Zwar prallte sie ab, doch flog
Hektor zurück in die Scharen aufs Knie; seine Rechte stemmte sich gegen die Erde, und vor seinen
Blicken ward es Nacht. Bis jedoch der Tydide dem Schwung seines Speeres selbst nachgeeilt kam,
hatte sich der Trojaner in den Wagensitz geschwungen und rettete sich vor dem Tod ins Gedränge
der Seinigen. Unmutig wandte sich Diomedes einem andern Trojaner zu, den er niederstreckte und
der Rüstung zu berauben sich anschickte.
Diesen Augenblick ersah Paris, schmiegte sich hinter die Denksäule des Ilos und schoß den knienden
Helden in die Ferse, daß der Pfeil, durch die Sohle gedrungen, im Fleische festsaß. Dann sprang er
lachend aus dem Hinterhalte und spottete jauchzend des Getroffenen. Diomedes schaute sich um,
und als er den Schützen erblickte, rief er ihm zu: »Bist du es, Weiberheld? Du vermochtest mit
offener Gewalt nichts gegen mich und prahlest jetzt, daß du mir den Fuß von hinten geritzt hast? Das
macht mir so wenig, als hätte mich ein Mädchen oder ein Knabe getroffen!« Inzwischen war
Odysseus herbeigeeilt und stellte sich vor den Verwundeten, der sich mit Schmerzen, doch in
Sicherheit den Pfeil aus dem Fuße zog. Dann schwang er sich in den Wagensitz zu seinem Freunde
Sthenelos und ließ sich heimgeleiten zu seinen Schiffen.
Nun blieb Odysseus allein zurück im tiefsten Gedränge der Feinde, und kein Argiver wagte sich in die
Nähe. Der Held besprach sich mit seinem Herzen, ob er weichen sollte oder ausharren. Doch sah er
wohl ein, daß es demjenigen, der in der Feldschlacht edel erscheinen will, durchaus not tut,
standzuhalten, mag er nun treffen oder getroffen werden. Während er dies erwog, umschlossen ihn
die Trojaner mit ihren Schlachtreihen, wie Jäger und Jagdhunde einen stürzenden Eber umringen, der
den Zahn im zurückgebogenen Rüssel wetzt. Er aber empfing entschlossen die auf ihn
Einstürmenden, und es dauerte wenig Augenblicke, so waren fünf Trojaner vor seinen Waffen in den
Staub gesunken. Da kam ein sechster heran, Sokos, dem er eben den Bruder erstochen, und rief.
»Odysseus, heute trägst du entweder den Ruhm davon, daß du beide Söhne des Hippasos, herrliche
Männer, zu Boden gestreckt und ihre Waffen erbeutet hast, oder aber du verhauchst unter meiner
Lanze das Leben!« Und nun durchschmetterte er ihm den Schild und riß ihm die Haut von den
Rippen; tiefer ließ Athene den Stoß nicht eindringen. Odysseus, der sich nicht zum Tode getroffen
fehlte, wich nur ein weniges zurück, stürzte dann auf den Gegner los, der sich zur Flucht wendete,
und durchbohrte ihm den Rücken zwischen den Schultern, daß der Speer aus dem Busen vordrang
und er in dumpfem Falle hinkrachte. Dann erst zog sich Odysseus die Lanze des Feindes aus der
Wunde. Als nun die Trojaner sein Blut springen sahen, drängten sich erst recht alle auf ihn zu, daß er
zurückwich und dreimal einen lauten Hilferuf ausstieß.
Menelaos vernahm das Geschrei zuerst und rief seinem Nebenmanne Ajax zu: »Laß uns durchdringen
durch das Getümmel; ich habe den Schrei des Odysseus gehört!« Beide hatten in kurzem den
duldenden Kämpfer erreicht und trafen ihn, gegen unzählige Feinde seine Lanze schwingend. Als
aber der Schild des Ajax wie eine getürmte Mauer dem Streitenden vorgehalten ward, erzitterten die
Trojaner. Da benützte Menelaos den Augenblick, ergriff den Sohn des Laërtes bei der Hand und half
ihm auf seinen eigenen Streitwagen. Ajax aber sprang jetzt auf die Trojaner hinein und wälzte
Leichen vor sich her wie ein Bergstrom im Herbst dorrende Kiefern und Eichen. Davon hatte Hektor
keine Ahnung; er kämpfte auf der linken Seite des Treffens am Gestade des Skamander und richtete
dort in den Reihen der Jünglinge, die den Helden Idomeneus umgaben, breite Verwüstung an.
Dennoch wären die Helden nicht vor ihm gewichen, hätte nicht ein dreikantiger Pfeil des Paris dem
großen Arzt des Danaerheeres, Machaon, die rechte Schulter verwundet. Da rief erschrocken
Idomeneus: »Nestor! Hurtig dem Freund auf den Wagen geholfen! Ein Mann, der Pfeile ausschneidet
und lindernden Balsam auflegt, ist hundert andere Helden wert!« Schnell schwang sich Nestor auf
seinen Wagen, der verwundete Machaon mit ihm, und beide flogen den Schiffen zu.
Aber der Wagenlenker Hektors machte jetzt diesen auf die Verwirrung aufmerksam, in welcher sich
der andere Flügel der Trojaner befand, wo Ajax das Gewühl der Feinde durchtobte. In einem
Augenblicke waren sie mit ihrem Wagen dort, und Hektor fing an, unter den Reihen der Griechen zu
rasen. Nur den Ajax vermied er; denn Zeus hatte ihn gewarnt, sich mit dem stärkeren Manne messen
zu wollen. Zugleich aber sandte der Göttervater in die Seele des Ajax Furcht, daß dieser beim
Anblicke Hektors den Schild auf die Schulter warf und, angstvoll um die Schiffe der Danaer besorgt,
die Reihen der Trojaner, sich zur Flucht kehrend, verließ. Als die Feinde dies gewahr wurden,
schleuderten sie ihm die Lanzen auf den vom Rücken herabhängenden Schild. Doch Ajax durfte sein
Angesicht nur umwenden, so flohen sie wieder. Wo der Weg zu den Schiffen ging, stellte er sich jetzt
auf, hielt den Schild vor und wehrte die vordringenden Trojaner ab, daß ihre Speere teils in seinem
siebenhäutigen Stierschilde hafteten, teils ohne den Leib zu berühren in die Erde fuhren. Als der
tapfere Held Eurypylos ihn so von Geschossen bedrängt sah, eilte er dem Telamonier zu Hilfe und
durchbohrte dem Trojaner Apisaon die Brust. Doch während Eurypylos dem getöteten Feinde die
Rüstung abzog, sandte ihm Paris einen Pfeil in den Schenkel, daß er sich schnell in das Gedräng der
Freunde zurückzog, die ihn mit erhöhten Lanzen und vorgehaltenen Schilden deckten.
Inzwischen trugen seine Stuten den Nestor mit dem wunden Machaon aus der Schlacht, vorbei an
dem grollenden Achill, der auf dem Hinterdecke seines Schiffes saß und geruhig zusah, wie seine
Landsleute von den Trojanern verfolgt wurden. Da rief er dem Patroklos, ohne zu ahnen, daß er das
Unglück seines Freundes selbst vorbereite, und sprach: »Geh doch, Patroklos, und erforsche mir von
Nestor, welchen Verwundeten er dort aus der Schlacht zurückführt; denn ich weiß nicht, welch
Mitleid für die Griechen sich in meiner Seele regt!« Patroklos gehorchte und lief zu den Schiffen. Er
kam am Zelte Nestors an, als dieser eben aus dem Wagen stieg, seinem Diener Eurymedon die Rosse
übergab und ins Zelt hineintrat, mit Machaon der erquickenden Mahlzeit zu genießen, die ihnen
seine erbeutete Sklavin Hekamede vorsetzte. Als der Greis den Helden Patroklos an der Pforte
gewahr ward, sprang er vom Sessel, ergriff ihn bei der Hand und wollte ihn freundlich zum Sitzen
nötigen. Doch Patroklos sprach: »Es bedarf dessen nicht, ehrwürdiger Greis! Achill hat mich nur
ausgesandt, zu schauen, welchen Verwundeten du zurückführest. Nun habe ich selbst in ihm den
heilungskundigen Helden Machaon erkannt und eile, ihm dieses zu melden. Du kennst ja den
heftigen Sinn meines Freundes, der auch Unschuldige selber leicht beschuldigt.« Aber Nestor
antwortete ihm mit tiefer Gemütsbewegung: »Was kümmert sich doch das Herz des Achill so sehr
um die Achiver, die bereits zum Tode wund sind? Alle Tapferen liegen bei den Schiffen umher:
Diomedes ist pfeilwund; Odysseus und Agamemnon sind lanzenwund; und diesen unschätzbaren
Mann entführte ich soeben, vom Geschoß des Bogens verwundet, aus der Feldschlacht. Aber Achill
kennt kein Erbarmen! Will er vielleicht warten, bis unsre Schiffe am Gestad in Flammen lodern und
wir Griechen einer um den andern der Reihe nach hinbluten? O wär ich noch kräftig wie in meiner
Jugend und in meinen besten Mannsjahren, damals, wo ich als Sieger im Hause des Peleus einkehrte!
Da sah ich auch deinen Vater Menötios und dich und den kleinen Achill. Diesen ermahnte der graue
Held Peleus, stets der Erste zu sein und allen andern vorzustreben, dich aber dein Vater, des Peliden
Lenker und Freund zu sein, weil er an Stärke zwar der Größere, am Alter aber hinter dir sei. Erzähle
davon dem Achill; vielleicht rührt ihn auch jetzt deine Zurede.« So sprach der Alte und mischte
liebliche Erinnerungen aus seiner eigenen Heldenjugend in die Rede, so daß dem Patroklos das Herz
im Busen bewegt wurde.
Als er auf der Rückkehr an den Schiffen des Odysseus vorübereilte, fand er hier den Eurypylos, der,
vom Pfeil in den Schenkel verwundet, mühsam aus der Schlacht einhergehinkt kam. Es erbarmte den
Sohn des Menötios, wie der wunde Held ihn so kläglich anrief, seiner mit den Künsten Chirons des
Zentauren, die er gewiß durch Achill gelernt habe, zu pflegen, so daß Patroklos endlich den
Verwundeten unter der Brust faßte, ins Zelt führte, dort ihn auf eine Stierhaut legte und ihm mit dem
Messer den scharfen Pfeil aus dem Schenkel schnitt; dann spülte er das schwarze Blut sogleich mit
lauem Wasser ab, zerrieb eine bittere Heilwurzel zwischen den Fingern und streute sie auf die
Wunde, bis das Blut ins Stocken geriet. So pflegte der gute Patroklos des wunden Helden.
Kampf um die Mauer
Der Graben und die Mauer, welche die Griechen um ihre Schiffe her breit aufgetürmt hatten, war
ohne ein Festopfer den Göttern zum Trotze von ihnen gebaut worden. Deswegen sollte sie ihnen
auch nicht zum Schutze dienen und nicht lange unerschüttert bestehen. Schon jetzt, wo Troja im
zehnten Jahre seiner Belagerung schmachtete, beschlossen Poseidon und Apollo, den Bau dereinst zu
vertilgen, die Bergströme auf sie hereinzuleiten und das Meer gegen sie zu empören. Doch sollte dies
erst nach der Zerstörung Trojas ins Werk gesetzt werden.
Jetzt aber war Getümmel und Schlacht rings um den gewaltigen Bau entbrannt, und die Argiver
drängten sich, bange vor Hektors Wut, bei den Schiffen eingehegt. Dieser rannte wie ein Löwe im
Gewühl umher und muntere die Seinigen auf, den Graben zu durchrennen. Das aber wollte kein
Rossegespann ihm wagen. Am äußersten Rande des Grabens angekommen, bäumten sich alle unter
lautem Gewieher zurück; denn er war zu breit zum Sprunge und zu abschüssig von beiden Seiten zum
Durchgang, dazu mit dicht gereihten spitzen Pfählen bepflanzt. Nur die Fußvölker versuchten daher
den Übergang. Als dies Polydamas sah, ging er mit Hektor zu Rate und sprach: »Wir wären alle
verloren, wenn wir es mit den Rossen wagen wollten, und kämen ruhmlos in der Tiefe des Grabens
um. Lasset deswegen die Wagenlenker die Rosse hier am Graben hemmen, uns selbst aber in den
ehernen Waffen eine Fußschar bilden, unter deiner Führung über den Graben setzen und den Wall
durchbrechen.«
Hektor billigte diesen Rat. Auf seinen Befehl sprangen alle Helden von den Wagen, mit Ausnahme der
Lenker; sie scharten sich in fünf Ordnungen: die erste unter Hektor und Polydamas, die andere unter
Paris, die dritte führten Helenos und Deïphobos, der vierten gebot Äneas; an der Spitze der
Bundesgenossen schritten Sarpedon und Glaukos. Diese Fürsten alle aber hatten andere bewährte
Helden zur Seite. Von den sämtlichen Streitern wollte nur Asios seinen Wagen nicht verlassen. Er
wandte sich mit demselben zur Linken, wo die Achajer selbst beim Bau einen Durchgang für ihre
eigenen Rosse und Streitwagen gelassen hatten. Hier sah er die Flügel des Tores offen; denn die
Griechen harrten, ob nicht noch ein verspäteter Genosse käme, der, dem Treffen entflohen, Rettung
im Lager suchte. So lenkte Asios die Rosse gerade auf den Durchgang los, und andere Trojaner
folgten ihm zu Fuße mit lautem Geschrei nach. Aber am Eingang waren zwei tapfere Männer
aufgestellt, Polypötes, der Sohn des Peirithoos, und Leonteus. Diese standen am Tore, hohen
Bergeichen gleich, die mit langen und breiten Wurzeln in den Boden eingesenkt in Sturm und
Regenschauer unverrückt aushalten. Plötzlich stürzten diese beiden auf die hereinstürmenden
Trojaner vor, und zugleich flog ein Schwall von Steinen von den festen Türmen der Mauer herab.
Während Asios und die ihn umringenden verdrießlich den unvermuteten Kampf bestanden und viele
erlagen, kämpften andere, zu Fuß über den Graben stürmend, um andere Tore des griechischen
Lagers. Die Argiver waren jetzt auf die Beschirmung ihrer Schiffe beschränkt; und die Götter, soviel
ihrer ihnen halfen, trauerten herzlich, vom Olymp herabschauend. Nur die zahlreichste und tapferste
Schar der Trojaner, unter Hektor und Polydamas, verweilte noch unschlüssig am jenseitigen Rande
des Grabens, den sie eben erstiegen; denn vor ihren Augen hatte sich ein bedenkliches Zeichen
ereignet. Ein Adler streifte links über das Kriegsheer hin; er trug eine rote, zappelnde Schlange in den
Klauen, die sich unter seinen Krallen wehrte und, den Kopf rückwärts drehend, den Vogel in den Hals
stach; von Schmerzen gequält, ließ er sie fahren und flog davon; die Schlange aber fiel mitten im
Haufen der Trojaner nieder, die sie mit Schrecken im Staube liegen sahen und in diesem Ereignis ein
Zeichen des Zeus erkannten. »Laß uns nicht weitergehen«, rief Polydamas, der Sohn des Panthoos,
seinem Busenfreunde, dem Hektor, erschrocken zu, »es könnte uns ergehen wie dem Adler, der
seinen Raub nicht heimbrachte.« Aber Hektor erwiderte finster: »Was kümmern mich die Vögel, ob
sie rechts oder links daherfliegen; ich verlasse mich auf des Zeus Ratschluß! Ich kenne nur ein
Wahrzeichen: es heißt Rettung des Vaterlandes! Warum zitterst denn du vor dem Kampfe? Sänken
wir auch alle an den Schiffen darnieder, dir droht kein Todesschrecken, denn du hast kein Herz, in der
Feldschlacht auszuhalten; doch wisse, wo du dich dem Kampf entziehest, so fällst du, von meiner
eigenen Lanze durchbohrt!« So sprach Hektor und ging voran, und alle andern folgten ihm unter
gräßlichem Geschrei. Zeus aber schickte einen ungeheuren Sturmwind vom Idagebirge herab, der
den Staub zu den Schiffen hinüberwirbelte, daß den Griechen der Mut entsank, die Trojaner aber,
dem Winke des Donnergottes und der eigenen Kraft vertrauend, die große Verschanzung der Danaer
zu durchbrechen sich anschickten, indem sie die Zinnen der Türme herabrissen, an der Brustwehr
rüttelten und die hervorragenden Pfeiler des Walles mit Hebeln umzuwühlen begannen.
Aber die Danaer wichen nicht von der Stelle; wie ein Zaun standen sie mit ihren Schilden auf der
Brustwehr und begrüßten die Mauerstürmer mit Steinen und Geschossen. Die beiden Ajax machten
die Runde auf der Mauer und ermahnten das Streitvolk auf den Türmen, die Tapferen freundlich, die
Nachlässigen mit strengen Drohworten. Inzwischen flogen die Steine hin und her wie Schneeflocken;
doch hätte Hektor mit seinen Trojanern den mächtigen Riegel an der Wallpforte noch immer nicht
durchbrochen, wenn nicht Zeus seinen Sohn Sarpedon, den Lykier mit dem goldgeränderten Schilde,
wie einen heißhungrigen Berglöwen gegen die Feinde gereizt hätte, daß er schnell zu seinem
Genossen Glaukos sprach: »Was ist es, Freund, daß man uns im Lykiervolke mit Ehrensitz und
gefüllten Bechern beim Gastmahle wie die Götter ehrt, wenn wir in der brennenden Schlacht nicht
auch uns im Vorkampfe zeigen? Auf, entweder wollen wir den eigenen Ruhm oder durch unsern Tod
den Ruhm anderer verherrlichen!« Glaukos vernahm es nicht träge, und beide stürmten mit ihren
Lykiern in gerader Richtung voran. Menestheus, von seinem Turme herab, stutzte, als er sie so
wütend herannahen und sich und die Seinigen dem Verderben ausgesetzt sah. Ängstlich schaute er
sich nach der Unterstützung anderer Helden um: wohl sah er in der Ferne die beiden Ajax,
unersättlich im Kampfe, dastehen und noch näher den Teucer, der eben von den Zelten zurückkam;
doch hallte sein Hilferuf nicht so weit, er prallte an Helmen und Schilden ab, und das Getöse der
Schlacht verschlang ihn. Deswegen schickte er den Herold Thootes zu den beiden Ajax hinüber und
bat den Telamonier durch ihn, samt seinem Bruder Teucer, wenn sie beide dies könnten, ihm aus der
Bedrängnis zu helfen. Der große Ajax war nicht säumig, er eilte mit seinem Bruder Teucer und
Pandion, der dessen Bogen trug, der Mauer entlang, von innen dem Turme zu. Sie kamen bei
Menestheus an, als eben die Lykier an der Brustwehr emporzuklimmen anfingen. Ajax brach sogleich
einen scharfgezackten Marmorstein zuoberst aus der Brustwehr und zerknirschte damit dem Epikles,
einem Freunde des Sarpedon, Helm und Haupt, daß er wie ein Taucher von dem Turme herabschoß.
Teucer aber verwundete den Glaukos am entblößten Arme, während er eben den Wall hinanstieg.
Dieser sprang ganz geheim von der Mauer, um nicht von den Griechen erblickt und mit seiner Wunde
gehöhnt zu werden. Mit Schmerzen sah Sarpedon seinen Bruder aus der Schlacht scheiden; er selbst
aber klomm aufwärts, durchstach den Alkmaon, den Sohn Thestors, mit der Lanze, daß dieser der
wieder herausgezogenen taumelnd folgte, faßte dann mit aller Gewalt die Brustwehr, daß sie von
seinem Stoß zusammenstürzte und die Mauer, entblößt, für viele einen Zugang gewährte. Doch Ajax
und Teucer begegneten dem Stürmenden; der letztere traf ihn mit einem Pfeil in den Schildriemen;
Ajax durchstach dem Anlaufenden den Schild: die Lanze durchdrang ihn schmetternd, und einen
Augenblick wich Sarpedon von der Brustwehr hinweg. Doch ermannte er sich bald wieder, und gegen
die Schar seiner Lykier sich umdrehend, rief er laut: »Lykier, vergesset ihr des Sturmes? Mir allein,
und wäre ich der Tapferste, ist es unmöglich, durchzubrechen! Nur wenn wir zusammenhalten,
können wir uns die Bahn zu den Schiffen öffnen!« Die Lykier drängten sich um ihren scheltenden
König und stürmten rascher empor; aber auch die Danaer von innen verdoppelten ihren Widerstand,
und so standen sie, nur durch die Brustwehr getrennt und über sie hin wild aufeinander loshauend,
wie zwei Bauern auf der Grenzscheide stehen und miteinander darum hadern. Rechts und links von
den Türmen und der Brustwehr rieselte das Blut hinab. Lange stand die Waage der Schlacht
schwebend, bis endlich Zeus dem Hektor die Oberhand gab, daß er zuerst an das Tor der Mauer
vordrang und die Genossen teils ihm folgten, teils zu seinen beiden Seiten über die Zinnen kletterten.
Am verschlossenen Tore, dessen Doppelflügel zwei sich begegnende Riegel von innen
zusammenhielten, stand ein dicker, oben zugespitzter Feldstein. Diesen riß Hektor mit
übermenschlicher Gewalt aus dem Boden und zerschmetterte damit die Angeln und die Bohlen, daß
die mächtigen Riegel nicht mehr standhielten, das Tor dumpf aufkrachte und der Stein schwer
hineinfiel. Furchtbar anzuschauen wie die Wetternacht, im schrecklichen Glanze seiner Erzrüstung,
mit funkelndem Auge, sprang Hektor, zwei blinkende Lanzen schüttelnd, in das Tor. Ihm nach
strömten seine Streitgenossen durch die aufgerissene Pforte; andere hatten zu Hunderten die Mauer
überklettert: Aufruhr tobte allenthalben im Vorlager, und die Griechen flüchteten zu den Schiffen.
Kampf um die Schiffe
Als Zeus die Trojaner so weit gebracht hatte, überließ er die Griechen ferner ihrem Elende, wandte,
auf dem Gipfel des Ida sitzend, seine Augen von dem Schiffslager ab und schaute gleichgültig ins Land
der Thrakier hinüber. Inzwischen blieb der Meergott Poseidon nicht untätig. Dieser saß auf einem der
obersten Gipfel des waldigen Thrakiens, wo der Ida mit allen seinen Höhen samt Troja und den
Schiffen der Danaer unter ihm lag. Mit Gram sah er die Griechen vor Trojas Volk in den Staub sinken;
er verließ das zackige Felsengebirg, und mit vier Götterschritten, unter denen Höhen und Wälder
bebten, stand er am Meeresufer bei Aigai, wo ihm in den Tiefen der Flut ein von unvergänglichem
Golde schimmernder Palast erbaut stand. Hier hüllte er sich in die goldne Rüstung, schirrte seine
goldmähnigen Rosse ins Joch, ergriff die goldene Geißel, schwang sich in seinen Wagensitz und
lenkte die Pferde über die Flut; die Meerungeheuer erkannten ihren Herrscher und hüpften aus den
Klüften umher, die Woge trennte sich freudig, und ohne die eherne Wagenachse zu benetzen, kam
Poseidon bei den Schiffen der Danaer, zwischen Tenedos und Imbros, in einer tiefen Grotte an, wo er
die Rosse aus dem Geschirr spannte, ihnen die Füße mit goldenen Fesseln umschlang und Ambrosia
zur Kost reichte. Er selbst eilte mitten ins Gewühl der Schlacht, wo sich die Trojaner wie ein Orkan um
Hektor mit brausendem Geschrei drängten und jetzt eben die Schiffe der Griechen zu bemeistern
hofften. Da gesellte sich Poseidon zu den Reihen der Griechen, dem Seher Kalchas an Wuchs und
Stimme gleich. Zuerst rief er den beiden Ajax zu, die für sich selbst schon von Kampflust glühten: »Ihr
Helden beide vermöchtet wohl das Volk der Griechen zu retten, wenn ihr eurer Stärke gedenken
wolltet. An andern Orten ängstet mich der Kampf der Trojaner nicht, so herzhaft sich ihre
Heeresmacht über die Mauer hereinstürzt; die vereinigten Achiver werden sie schon abzuwehren
wissen. Hier nur, wo der rasende Hektor wie ein Feuerbrand vorherrscht, hier nur bin ich um unsre
Rettung bange. Möchte doch ein Gott euch den Gedanken in die Seele geben, hierhin euren
Widerstand zu kehren und auch andere dazu anzureizen.« Zu diesen Worten gab ihnen der
Ländererschütterer einen Schlag mit seinem Stabe, davon ihr Mut erhöht und ihre Glieder leicht
geschaffen wurden; der Gott aber entschwang sich ihren Blicken wie ein Habicht, und Ajax, der Sohn
des Oïleus, erkannte ihn zuerst. »Ajax«, sprach er zu seinem Namensbruder, »es war nicht Kalchas, es
war Poseidon, ich habe ihn von hinten an Gang und Schenkeln erkannt; denn die Götter sind leicht zu
erkennen. Jetzt verlangt mich im innersten Herzen nach dem Entscheidungskampfe, Füße und Hände
streben mir nach oben!« Ihm erwiderte der Telamonier: »Auch mir zücken die Hände ungestüm um
den Speer; die Seele hebt sich mir; die Füße wollen fliegen; Sehnsucht ergreift mich, den Einzelkampf
mit Hektor zu bestehen!«
Während die beiden Führer dies Gespräch wechselten, ermunterte Poseidon hinter ihnen die Helden,
die vor Gram und Müdigkeit bei den Schiffen ausruhten, und schalt sie, bis alle Tapfern sich um die
beiden Ajax scharten und gefaßt den Hektor mit seinen Trojanern erwarteten. Lanze drängte sich an
Lanze, Schild auf Schild, Helm an Helm, Tartsche war an Tartsche gelehnt, Krieger an Krieger, die
nickenden Helmbüsche berührten sich mit den Bügeln, so dicht stand die Heerschar; ihre Speere aber
zitterten dem Feind entgegen. Doch auch die Trojaner drangen mit aller Kraft herein; Hektor voran,
wie ein Felsstein von der Krone des Bergs, durch den herbstlichen Strom abgerissen, im Sprunge
herniederstürzt, daß die Waldung zerschmettert zusammenkracht. »Haltet euch, Trojaner und
Lykier«, rief er hinterwärts, »jene wohlgeordnete Heerschar wird nicht lange bestehen, sie werden
vor meinem Speere weichen, so gewiß der Donnerer mich leitet!« So rief er, den Mut der Seinigen
anspornend. In seiner Schar ging trotzig, doch mit leisem Schritt, unter dem Schilde Deïphobos, das
andere Heldenkind des Priamos, einher. Ihn wählte sich Meriones zum Ziele und schoß die Lanze
nach ihm ab; aber Deïphobos hielt den mächtigen Schild weit vom Leibe ab, daß der Wurfspieß
brach. Erbittert über den verfehlten Angriff, wandte sich Meriones zu den Schiffen hinab, sich einen
mächtigeren Speer aus dem Zelte zu holen.
Die andern kämpften indessen fort, und der Schlachtruf brüllte. Teucer warf den Imbrios, den Sohn
Mentors, unter dem Ohre mit dem Speer, daß er wie eine Esche auf luftigem Gebirgsgipfel
hintaumelte. Den Leichnam machte ihm Hektor streitig; doch traf er statt des Teucer nur den
Amphimachos; als er diesem den Helm von den Schläfen ziehen wollte, traf ihn die Lanze des großen
Ajax auf den Schildnabel, daß er von dem Erschlagenen zurückprallte und Menestheus samt Stichios
den Leichnam des Amphimachos, den Imbrios aber die beiden Ajax, wie zwei Löwen die Ziege, die sie
den Hunden abgejagt, hinab ins Heer der Griechen trugen.
Amphimachos war ein Enkel des Poseidon, und sein Fall empörte diesen. Er eilte zu den Zelten
hinunter, die Griechen noch mehr zu entflammen. Da begegnete ihm Idomeneus, der einen
verwundeten Freund zu den Ärzten geschafft hatte und jetzt seinen Speer im Zelte suchte. In den
Thoas verwandelt, den Sohn des Andraimon, näherte sich ihm der Gott und sprach mit tönender
Stimme zu ihm: »Kreterkönig, wo sind eure Drohungen? Nimmer kehre der Mann von Troja heim, der
an diesem Tag den Kampf freiwillig meidet; die Hunde sollen ihn zerfleischen!« »So geschehe es,
Thoas«, rief Idomeneus dem enteilenden Gotte nach, suchte sich zwei Lanzen aus dem Zelte hervor,
hüllte sich in schönere Waffen und flog, herrlich wie der Blitz des Zeus, aus dem Zelte hervor. Da
begegnete er dem Meriones, dessen Speer an des Deïphobos Schilde zerbrochen war und der
dahineilte, sich im fernen Zelt einen andere zu holen. »Tapferer Mann«, rief ihm Idomeneus zu,»ich
sehe, in welcher Not du bist; in meinem Zelte lehnen wohl zwanzig erbeutete Speere an der Wand;
hole dir den besten davon.« Und als Meriones sich eine stattliche Lanze erkoren hatte, eilten sie
beide in die Schlacht zurück und gesellten sich zu den Freunden, die den eindringenden Hektor
bekämpften. Obgleich Idomeneus schon halb ergraut war, ermunterte er die Griechen doch, sobald
sie ihn in ihren Reihen wieder begrüßt hatten, wie ein Jüngling. Der erste, dem er den Wurfspieß
mitten in den Leib sandte, war Othryoneus, der als Freier der Kassandra, der Tochter des Königes
Priamos, in den Reihen der Trojaner kämpfte. Frohlockend rief Idomeneus, während er den
Gefallenen am Fuß aus dem Schlachtgewühl zog: »Hole dir jetzt die Tochter des Priamos, beglückter
Sterblicher! Auch wir hätten dir die schönste Tochter des Atriden versprochen, wenn du uns hättest
helfen wollen Troja vertilgen! Folge mir nun zu den Schiffen; dort wollen wir uns über die Ehe
verabreden, du sollst eine stattliche Mitgift erhalten!« Er spottete noch, als Asios mit seinem
Gespanne, das der Wagenführer lenkte, herangeflogen kam, den Getöteten zu rächen. Schon holte er
den Arm zum Wurfe aus, da traf ihn der Speer des Idomeneus unter dem Sinn in die Gurgel, daß das
Erz aus dem Nacken hervorragte und er vor seinem Streitwagen der Länge nach darniederfiel. Sein
Wagenlenker erstarrte, als er dieses sah, er vermochte das Gespann nicht mehr rückwärts zu lenken,
und ein Lanzenstoß von Antilochos, dem Sohne Nestors, warf auch ihn vom Wagen herab.
Nun aber kam Deïphobos auf Idomeneus heran, und entschlossen, den Fall seines Freundes Asios zu
rächen, schleuderte er die Lanze gegen den Kreter. Dieser aber schmiegte sich so ganz unter den
Schild, daß der Wurfspieß über ihn hinwegflog und den Schild nur klirrend streifte, dafür aber dem
Fürsten Hypsenor in die Leber fuhr, der auch alsbald in die Knie sank. »So liegst du doch nicht
ungerächt, lieber Freund Asios«, so frohlockte der Troer, »denn ich habe dir einen Begleiter gegeben,
gleichviel welchen!« Der schwer aufstöhnende Hypsenor wurde indessen von zwei Genossen aus
dem Getümmel getragen. Doch war Idomeneus dadurch nicht mutlos gemacht, er erschlug den
Alkathoos, den edlen Eidam des Anchises, und rief jauchzend: »Ist unsre Rechnung billig, Deïphobos?
Ich gebe dir drei für einen! Wohlan, erprobe du selbst auch, ob ich wirklich von des Zeus Geschlechte
bin!« Es war aber Idomeneus ein Enkel des Königes Minos und ein Urenkel des Göttervaters.
Deïphobos besann sich einen Augenblick, ob er den Zweikampf allein bestehen oder sich einen
heldenmütigen Trojaner beigesellen sollte. Der letzte Gedanke schien ihm der beste; und bald führte
er seinen Schwager Äneas dem Idomeneus entgegen. Dieser aber, als er die beiden gewaltigen
Kämpfer auf sich zukommen sah, zagte nicht etwa vor Furcht wie ein Knabe, sondern erwartete sie,
wie ein Gebirgseber die Hetzhunde. Doch rief auch er seine Genossen herbei, die er in der Nähe
kämpfen sah, und sprach: »Heran, ihr Freunde, und helfet mir einzelnem, denn mir graut vor Äneas,
der ein Gewaltiger in der Feldschlacht ist und noch in üppiger Jugend strotzt!« Auf diesen Ruf
versammelten sich um ihn, die Schilde an die Schultern gelehnt, Aphareus, Askalaphos, Deïpyros,
Meriones, Antilochos. Indes rief auch Äneas seine Genossen Paris und Agenor herbei, und die
Trojaner folgten ihnen nach wie Schafe dem Widder. Bald rasselte das Erz der Speere ans Erz, und
aus dem Zweikampfe wurde ein vielfältiger Männerkampf. Äneas schoß zuerst seinen Speer auf
Idomeneus ab; aber er fuhr an dem Helden vorüber in den Boden. Idomeneus dagegen traf den
Önomaos mitten in den Leib, daß er stürzend und sterbend mit der Hand den Boden faßte; der Sieger
hatte eben nur Zeit, den Speer aus dem Leichnam herauszuziehen; denn die Geschosse bedrängten
ihn so, daß er sich zum Weichen entschließen mußte. Aber seine greisen Füße trugen ihn nur
langsam aus dem Treffen, und Deïphobos schickte ihm voll Groll die Lanze nach, die zwar ihn selbst
verfehlte, aber den Askalaphos, den Sohn des Ares, dafür in den Staub warf. Der Kriegsgott, der
durch den Ratschluß des Zeus mit andere Göttern in die goldenen Wolken des Olymp gebannt war,
ahnte nicht, daß ihm ein Sohn gefallen sei. Diesem aber riß Deïphobos den blanken Helm vom
Haupte: da fuhr ihm der Speer des Meriones in den Arm, daß der Helm auf den Boden rollte.
Meriones sprang herzu, zog den Wurfspieß aus dem Arme des Verwundeten und flog ins Gedränge
seiner Freunde zurück. Nun faßte Polites seinen verwundeten Bruder Deïphobos um den Leib und
trug ihn aus der stürmenden Schlacht über den Graben hinüber zu dem harrenden Wagen, auf dem
der Blutende, matt vor Schmerz, alsbald nach der Stadt geführt wurde.
Die andern kämpften fort. Äneas durchstach den Aphareus, Antilochos den Thoon; der Trojaner
Adamas verfehlte diesen und verblutete bald am Speere des Meriones. Dafür rollte Deïpyros der
Grieche, von Helenos mit dem Schwert über die Schläfe getroffen, die Reihen der Danaer entlang.
Schmerzergriffen zuckte Menelaos seinen Speer gegen Helenos, der zu gleicher Zeit den Pfeil vom
Bogen auf den Atriden abschnellte. Menelaos traf den Sohn des Priamos auf das Panzergewölbe,
doch prallte der Wurfspieß ab; aber auch der Pfeil des Helenos war vergebens entflogen, und nun
bohrte ihm Menelaos seine Lanze in die Hand, die den Bogen noch hielt, und Helenos schleppte den
Speer, ins Gedränge seiner Freunde flüchtend, nach. Sein Kampfgenosse Agenor zog ihm die Waffe
aus der Hand, nahm einem Begleiter die wollene Schleuder ab und verband damit die Wunde des
Sehers.