Читать книгу Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Zweiter Teil - Gustav Schwab - Страница 6
Kapitel 3
ОглавлениеDann brachte Ajax, von Odysseus und Diomedes aufgefordert, die Schätze des Königes Polymnestor
aus seinen Schiffen herbei, und es wurde auch davon dem Könige Agamemnon ein schöner Teil an
Gold und Silber zugeschieden.
Polydoros
Endlich berieten sich die Helden über den allerkostbarsten Teil der Beute, über den Knaben
Polydoros, den Sohn des Königes Priamos, und nach kurzer Ratschlagung wurde einstimmig
beschlossen, daß Odysseus und Diomedes als Gesandte zu König Priamos abgeordnet werden und
ihm die Übergabe seines jungen Sohnes anbieten sollten, sobald Helena den Gesandten
Griechenlands ausgeliefert sein würde. Den beiden Helden wurde der Gemahl der geraubten Fürstin,
Menelaos, als dritter Gesandter beigegeben, und so machten sich alle drei mit dem jungen Polydoros
auf den Weg und wurden unter dem Schutze des Völkerrechts als heilige Gesandte von den
Trojanern ohne Widerspruch in ihre Mauern aufgenommen.
Priamos und seine Söhne in ihrem Königspalaste, der fern auf der Burg der Stadt gelegen war,
wußten noch nicht, was zu ihren Füßen vorging, als schon die Gesandtschaft auf dem Marktplatze
Trojas stillehielt und, vom trojanischen Volk umgeben, Menelaos das Wort ergriff und sich mit
herzzerschneidenden Worten über die frevelhafte Verletzung des Völkerrechts beklagte, die sich
Paris an seinem heiligsten und teuersten Besitztum durch den frechen Raub seiner Gemahlin hätte
zuschulden kommen lassen. Er sprach so beredt und eindringlich, daß die umstehenden Trojaner alle,
und darunter die ältesten Häupter des Volkes, von seinen Worten ergriffen wurden und unter Tränen
des Mitleids ihm recht geben mußten. Als Odysseus ihre Rührung bemerkte, nahm auch er das Wort
und sprach: »Mir deucht, ihr sollet wissen, Häupter und andre Bewohner von Troja, daß die Griechen
ein Volk sind, die nichts unüberlegterweise unternehmen und daß sie schon von ihren Vorfahren her
bei allen ihren Taten darauf bedacht sind, Lob und nicht Schmach davonzutragen. So wisset ihr denn
auch, daß nach der unerhörten Beleidigung, die uns allen eures Königes Sohn Paris durch die
Entführung der Fürstin Helena angetan hat, wir, bevor wir die Waffen gegen euch erhoben, zur
gütlichen Beilegung dieses Handels eine friedliche Gesandtschaft an euch geschickt haben. Erst als
dies vergebens war, ist der Krieg, und zwar noch dazu durch einen Überfall von eurer Seite,
begonnen worden. Auch jetzt, nachdem ihr unsern Arm gefühlt habt und alle euch unterworfene
oder mit euch verbündete Städte ringsumher in Trümmern liegen, ihr selbst aber nach vieljähriger
Belagerung in mannigfaltige Not geraten seid, liegt ein glücklicher Ausgang unseres Streites immer
noch in eurer Hand, ihr Trojaner! Gebet uns heraus, was ihr uns geraubt habt, und auf der Stelle
brechen wir unsre Lagerhütten ab, steigen zu Schiffe, lichten die Anker und verlassen mit der
furchtbaren Flotte, die euch so vielen Schaden getan hat, euren Strand für immer. Auch kommen wir
nicht mit leeren Händen. Wir bringen eurem Könige einen Schatz, der ihm lieber sein sollte als die
Fremde, die eure Stadt zu seinem und eurem eigenen Fluche beherbergen muß. Wir bringen ihm den
Knaben Polydoros, sein jüngstes und geliebtestes Kind, den unser Held Ajax in Thrakien dem Könige
Polymnestor entrissen hat und der hier gebunden vor euch steht und von eurem und eures Königes,
seines Vaters, Entschlusse, seine Freiheit und sein Leben erwartet. Gebt ihr uns Helena heraus und
liefert ihr sie heute noch in unsere Hände, so wird der Knabe seiner Fesseln ledig und bleibt im Hause
seines Vaters. Wird uns Helena verweigert, so gehe eure Stadt zugrunde, und vorher noch wird euer
König sehen müssen, was er für sein Leben nicht sehen möchte!«
Ein tiefes Stillschweigen herrschte in der ihn umringenden Versammlung des trojanischen Volkes, als
Odysseus aufgehört hatte zu sprechen. Endlich ergriff der weise und bejahrte Antenor das Wort und
sprach: »Liebe Griechen und einst meine Gäste! Alles, was ihr uns saget, wissen wir selbst und
müssen in unserm Herzen euch recht geben; auch fehlt uns der Wille, die Sache zu bessern, nicht,
wohl aber die Gewalt. Wir leben in einem Staate, in welchem der Befehl des Königes alles gilt; ihm
sich zu widersetzen, erlaubt die Verfassung unsers Reiches, der Glaube, den wir von den Vätern
ererbt, und das Gewissen des Volkes keinem von uns. Wir dürfen in allen öffentlichen
Angelegenheiten nur alsdann sprechen, wenn der König uns zu Rate zieht; und wenn wir gesprochen
haben, so behält er noch immer freie Hand, zu tun, was er will; damit du aber erfahrest, was die
Meinung der Besten im Volke über eure Angelegenheit ist, so werden sich die Ältesten unseres
Volkes versammeln und vor euch ihre Meinung abgeben. Dies ist, was uns zu tun übrigbleibt und
unser König selbst uns nicht verweigern kann.«
Und so geschah es. Antenor veranstaltete einen Rat der Ältesten und führte die Gesandten in
denselben ein. Hier nahm er den Vorsitz und befragte die Häupter des Volkes der Reihe nach über
die Gewalttat des Paris. Die vornehmsten Männer Trojas erklärten einer nach dem andern, daß sie
die Tat für einen fluchwürdigen Frevel hielten; nur Antimachos, ein kriegslustiger, aber tückischer
Mann, verteidigte den Raub der griechischen Fürstin. Er war von Paris mit reichlichen Gaben
bestochen worden, wo es immer Gelegenheit gäbe, sich seiner anzunehmen und die Auslieferung
Helenas zu verhindern. Auch diesmal arbeitete er für diesen Zweck, und hinter dem Rücken der
Helden erteilte er den ruchlosen Rat, die Gesandten der Griechen, drei ihrer tapfersten und klügsten
Helden, umzubringen. Als aber die Trojaner diesen Vorschlag mit Abscheu von sich wiesen, riet er, sie
wenigstens so lange zu behalten, bis sie den gefangenen Polydoros ohne Lösegeld und Tausch dem
Priamos ausgeliefert hätten. Auch dieser Rat wurde als treulos verworfen, und da Antimachos nicht
aufhörte, selbst öffentlich in der Versammlung die Helden zu schmähen, so wurde er von seinen
Mitbürgern, welche den Griechen ihre Mißbilligung seines Betragens und seiner Grundsätze
beweisen wollten, mit Schimpf aus der Versammlung gestoßen.
Erbittert begab sich Antimachos auf die Burg und unterrichtete den König von der Ankunft der
griechischen Gesandtschaft. Nun erhub sich im Rate des Königes und seiner Söhne selbst eine lange,
zwiespältige Beratung, zu welcher auch ein Ältester, der edle Panthoos, der das volle Vertrauen des
alten Königes genoß, gezogen wurde. Dieser wandte sich an den tapfersten, billigsten und
tugendhaftesten aller Söhne des Königes, an Hektor, mit der flehentlichen Bitte, dem Rat aller
besseren Trojaner nachzugeben und die unheilvolle Urheberin des Krieges auszuliefern. »Hat doch«,
sprach er, »Paris so viele Jahre lang Zeit gehabt, sich seines ungerechten Raubes zu erfreuen und
seine Lust zu büßen! Jetzt sind alle unsre verbündeten Städte zerstört, und ihr Untergang weissagt
uns unser eigenes Schicksal; dazu haben die Griechen deinen kleinen Bruder in ihrer Gewalt, und wir
wissen nicht, was aus ihm werden wird, wenn wir den Griechen Helena nicht ausliefern!«
Hektor wurde schamrot und bis zu Tränen betrübt, als er der Untat seines Bruders Paris gedachte.
Dennoch sprach er sich im Rate des Königes nicht für die Auslieferung der Fürstin aus. »Sie ist«,
antwortete er dem Panthoos, »einmal die Schutzflehende unsres Hauses. Als solche haben wir sie
aufgenommen, sonst hätten wir sie von der Schwelle des Königspalastes zurückweisen müssen. Statt
dies zu tun, haben wir ihr und dem Paris ein prächtiges Haus gebaut, und sie haben darin in
Herrlichkeit und Freuden lange Jahre verlebt, und ihr alle habt dazu geschwiegen und habt doch
diesen Krieg kommen sehen! Warum sollen wir sie jetzt vertreiben?« »Ich habe nicht geschwiegen«,
erwiderte Panthoos, »mein Gewissen ist ruhig: ich habe euch die Prophezeiung meines Vaters
mitgeteilt und euch gewarnt; ich warne euch zum zweitenmal. Komme, was da will, ich werde die
Stadt und den König mit euch getreulich verteidigen helfen, auch wenn ihr meinen heilsamen Rat
nicht befolget!« Mit solchen Worten verließ er die Versammlung der Königssöhne.
In dieser wurde zuletzt auf Hektors Vorschlag beschlossen, zwar die Fürstin Helena nicht
auszuliefern, wohl aber Genugtuung und Ersatz für alles zu leisten, was mit ihr geraubt worden sei.
An ihrer Statt sollte dem Menelaos eine der Töchter des Königes Priamos selbst, die weise Kassandra
oder die in ihrer Jugendblüte heranreifende Polyxena mit königlicher Mitgift zur Gemahlin angeboten
werden. Als die griechischen Gesandten, vor den König und seine Söhne geführt, diesen Vorschlag
vernahmen, ergrimmte Menelaos und sprach: »Wahrhaftig, es ist mit mir weit gekommen, wenn ich,
so viele Jahre des Ehegemahls meiner Wahl beraubt, am Ende von den Feinden mir eine Gattin
auslesen lassen muß! Behaltet eure Barbarentöchter und gebt mir das Weib meiner Jugend zurück!«
Dagegen erhob sich der Eidam des Königes, der Gemahl Krëusas, der Held Äneas, und rief dem
Fürsten Menelaos, der die letzten Worte mit verächtlichem Hohnlachen gesprochen hatte, mit
rauher Stimme zu: »Du sollst weder das eine noch das andere erhalten, Elender, wenn es nach
meiner Abstimmung geht und nach der Meinung aller derjenigen, die den Paris lieben und es mit der
Ehre dieses alten Königshauses halten! Noch hat das Reich des Priamos seine Beschützer! Und würde
auch der Knabe Polydoros, der Sohn des Kebsweibes, ihm verlorengehen, so ist Priamos dadurch
nicht kinderlos geworden! Sollen die Griechen einen Freibrief von uns erhalten, Frauen zu rauben?
Genug der Worte! Wenn ihr euch nicht auf der Stelle mit eurer Flotte davonmacht, so sollet ihr den
Arm der Trojaner fühlen! Noch haben wir streitlustiger Jugend genug, und aus der Ferne kommen
uns von Tag zu Tag mächtigere Verbündete, wenn auch die Schwachen in der Nähe erlegen sind!«
Diese Rede des Äneas wurde von lautem Beifallsruf in der trojanischen Fürstenversammlung
begleitet und die Gesandten nur durch Hektor vor rohen Mißhandlungen geschützt. Voll heimlicher
Wut entfernten sie sich mit ihrem Gefangenen Polydoros, den der König Priamos nur aus der Ferne
erblickt hatte, und kehrten zu den Schiffen der Griechen zurück. Als sich hier die Nachricht von dem
verbreitete, was ihnen in Troja widerfahren war, von den Umtrieben des Antimachos, von dem
Übermute des Äneas und aller Priamossöhne außer Hektor, entstand ein Auflauf unter dem Heere,
und alles Volk schrie mit wilden Gebärden um Rache. Ohne lange die Fürsten zu fragen, wurde in
einer unordentlichen Kriegerversammlung der Beschluß gefaßt, den unglücklichen Knaben Polydoros
büßen zu lassen, was seine Brüder und sein Vater verschuldet. Und auf der Stelle schritten sie zur
Ausführung des Beschlossenen. Das arme Kind wurde auf Schußweite unter die Mauern Trojas
geführt, und als, durch den großen Heeresauflauf herbeigelockt, König Priamos selbst mit seinen
Söhnen auf den Mauern erschien, tönte bald ein kläglicher Weheruf von den Zinnen herab; denn mit
eigenen Augen mußten die Troer sehen, wie die Drohung des Odysseus an dem Knaben vollzogen
ward. Steine flogen von allen Seiten gegen sein bloßes Haupt und seinen aller Beschirmung baren
Leib, und unter unzähligen Würfen starb er eines kläglichen und grausamen Todes. Den entfleischten
Leichnam gestatteten die Griechenfürsten dem flehenden Vater zum ehrlichen Begräbnis
auszuliefern; die Diener des Königes erschienen, von dem Trojanerhelden Idaios begleitet, und luden
die Leiche des Kindes unter Tränen und Wehklagen auf den Trauerwagen, der sie dem trostlosen
Vater zuführen sollte.
Chryses, Apollo und der Zorn des Achill
Unter diesen Begebnissen war das zehnte Jahr des Krieges angebrochen und der griechische Held
Ajax von vielen glücklichen Streifzügen zurückgekehrt. Mit der Ermordung des Polydoros flammte der
Haß zwischen den beiden Nationen feuriger auf als zuvor, und die Götter des Himmels selbst, die
einen durch die Grausamkeit der Griechen den Trojanern zugeneigt, die andern zum Schutze der
Danaer aufgeregt, nahmen tätigen Anteil an dem Kampfe: Hera, Athene, Hermes, Poseidon,
Hephaistos auf Seite der Griechen, auf der Gegenseite Ares und Aphrodite, so daß von diesem
zehnten und letzten Jahre der Belagerung Trojas zehnmal mehr erzählt und gesungen wird als von
den neun andern. Denn jetzt hebt das Lied des Fürsten der Dichter, des Homer, vom Zorne des Achill
an und von allen Übeln, die der Groll ihres größten Helden über die Achiver brachte.
Die Veranlassung zum Zorne des Peliden war folgende: Die Griechen hatten nach der Rückkehr ihrer
Gesandten die Drohung der Trojaner nicht vergessen und bereiteten sich in ihrem Lager zu
entscheidenden Kämpfen vor, als der Priester Apollos, Chryses, dem seine Tochter von Achill geraubt
und dem König Agamemnon überlassen worden war, den Lorbeer seines Gottes um den goldenen
Friedensstab geschlungen, mit reichen Lösegeldern im Schiffslager der Griechen ankam, seine
Tochter freizukaufen. Mit dieser Bitte stellte er sich vor die Atriden und das gesamte Heer und
sprach: »Ihr Söhne des Atreus und andre Argiver, mögen euch die Olympischen Vertilgung Trojas und
glückliche Heimkehr verleihen, wenn ihr, den fernhintreffenden Gott Apollo, dessen Priester ich bin,
ehrend, mir gegen die Lösung, die ich bringe, die geliebte Tochter zurückgebet!«
Das ganze Heer gab seinen Worten Beifall und gebot, den ehrwürdigen Priester zu scheuen und die
köstliche Lösung anzunehmen. Nur der König Agamemnon, der die liebliche Sklavin nicht verlieren
wollte, wurde zornig und sprach: »Laß dich nicht mehr bei den Schiffen treffen, Greis, weder jetzt
noch in Zukunft; deine Tochter ist und bleibt meine Dienerin und wird in meinem Königshause zu
Argos bis ins Alter hinter dem Webstuhl sitzen! Geh, reize mich nicht, mache, daß du gesund in deine
Heimat kommst!«
Chryses erschrak und gehorchte. Schweigend eilte er an den Meeresstrand; dort aber erhob er seine
Hände zu dem Gotte, dem er diente, und flehte ihn an: »Höre mich, Smintheus, der du zu Chryse,
Killa und Tenedos herrschest! Wenn ich je dir deinen Tempel zum Wohlgefallen geschmückt und dir
auserlesene Opfer dargebracht habe, so vergilt jetzt den Achivern mit dem Geschosse!«
So betete er laut: und Apollo erhörte seine Bitte. Zorn im Herzen, verließ er den Olymp, Bogen und
Köcher mit den hallenden Pfeilen auf der Schulter, so wandelte er einher wie die düstere Nacht; dann
setzte er sich in einiger Entfernung von den griechischen Schiffen nieder und schnellte Pfeil um Pfeil
ab, daß sein silberner Bogen grauenvoll erklang. Wen aber sein unsichtbarer Pfeil traf, der starb den
plötzlichen Tod der Pest. Anfangs nun erlegte er im Lager nur Maultiere und Hunde, bald aber
wandte er sein Geschoß auch gegen die Menschen, daß einer um den andern dahinsank und bald die
Totenfeuer unaufhörlich aus den Scheiterhaufen loderten. Neun Tage lang wütete die Pest im
griechischen Heere. Am zehnten Tage berief Achill, dem die Beschirmerin der Griechen, Hera, es ins
Herz gelegt, eine Volksversammlung, nahm das Wort und riet, einen der Opferpriester, Seher oder
Traumdeuter im Heere zu befragen, durch welche Opfer der Eifer Phöbos Apollos besänftigt und das
Unheil abgewendet werden könne.
Hierauf stand der weiseste Vogelschauer im Heere, der Seher Kalchas, auf und erklärte, den Zorn des
fernhintreffenden Gottes deuten zu wollen, wenn ihm der Held Achill Schutz zuspräche. Der Sohn des
Peleus hieß ihn getrost sein, und Kalchas sprach: »Keine versäumte Gelübde oder Hekatomben
haben den Gott erzürnt. Er ist ergrimmt über die Mißhandlung seines Priesters durch Agamemnon
und wird seine Hand zu unserm Verderben nicht zurückziehen, bis das Mägdlein dem erfreuten Vater
zurückgegeben und ohne Entgelt mit einem hundertfachen Sühnopfer nach Chryse heimgeführt wird.
Nur auf diese Weise möchten wir die Gnade des Gottes wiedergewinnen.«
Im Blute des Königes Agamemnon kochte es bei diesen Worten des Sehers; sein Auge funkelte, und
er begann mit drohendem Blicke: »Unglücksseher, der noch nie ein Wort gesprochen, das mir
Gedeihen gebracht hätte, auch jetzt beredest du das Volk, der Fernhintreffer habe uns die Pest
gesandt, weil ich das Lösegeschenk für die Tochter des Chryses verworfen habe. Wahr ist's, ich
behielte sie gern in meinem Hause; denn sie ist mir lieber als selbst Klytämnestra, das Weib meiner
Jugend, und stehet ihr an Wuchs, Schönheit, Geist und Kunst nicht nach! Dennoch will ich sie eher
zurückgeben, als daß ich das Volk verderben sehe. Aber ich verlange ein anderes Ehrengeschenk zum
Ersatze für sie!«
Nach dem Könige nahm Achill das Wort. »Ich weiß nicht, ruhmvoller Atride«, sprach er, »welches
Ehrengeschenk deine Habsucht von den Achivern verlangt. Wo ist denn noch viel Gemeinschaftliches
aufgespeichert? Alle Beute aus den eroberten Städten ist längst verteilt, und den einzelnen kann man
doch das Ausgeteilte nicht wieder nehmen! Darum entlaß die Tochter des Priesters! Wenn uns
dereinst Zeus die Eroberung Trojas gönnt, so wollen wir dir den Verlust drei‐ und vierfach ersetzen!«
»Tapferer Held«, rief ihm der König zu, »sinne nicht auf Trug! Meinst du, ich werde deinem Befehle
folgen und mein Geschenk hergeben, während du das deinige behältst? Nein. Geben mir die
Griechen keinen Ersatz, so gehe ich hin, mir einen aus eurer Beute zu holen, sei es ein Ehrengeschenk
des Ajax oder des Odysseus oder auch das deinige, Pelide; möget ihr dann noch so sehr zürnen. Doch
davon reden wir ein andermal. Jetzt aber immerhin ein Schiff und die Hekatombe gerüstet; sie selbst,
die rosige Tochter des Chryses, möget ihr einschiffen, und einer der Fürsten, meinethalb du, Achill,
mag das Schiff befehligen!«
Finster entgegnete Achill: »Schamloser, selbstsüchtiger Fürst, wie mag dir nur ein Grieche noch
gehorchen! Ich selbst, dem die Trojaner nichts zuleide getan haben, bin dir nur gefolgt, um deinen
Bruder Menelaos dir rächen zu helfen. Und das achtest du nun nicht, sondern willst mir mein
Ehrengeschenk entreißen, das ich mir mit meinem Schweiße errungen und die Griechen mir
geschenkt haben! Bekam ich doch nach keiner Städteeroberung je ein so herrliches Geschenk wie du;
die schwerste Last des Kampfes hatte mein Arm stets zu tragen, aber wenn es zur Teilung kommt,
trägst du das Beste davon, und ich kehre streitmüde und mit wenigem vergnügt zu den Schiffen
zurück! Jetzt aber gehe ich heim nach Phthia; versuch es und häufe dir Güter und Schätze ohne
mich!«
»Fliehe nur, wenn dir's dein Herz gebeut«, rief ihm Agamemnon zu, »ich habe genug Helden ohne
dich, du bist doch einer der zanksüchtigsten! Aber wisse, die Tochter des Chryses erhält zwar ihr
Vater wieder, ich dagegen hole mir selbst die liebliche Brisëis aus deinem Zelte, damit du lernest,
wieviel ich höher als du sei, und keiner mehr es wage, mir ins Antlitz zu trotzen, wie du tust!« Achill
entbrannte, sein Herz ratschlagte unter seiner Männerbrust, ob er das Schwert ziehen und den
Atriden auf der Stelle niederhauen oder seinen Zorn beherrschen solle. Da stand plötzlich unsichtbar
hinter ihm die Göttin Athene, enthüllte sich ihm allein, indem sie ihn am braunen Lockenhaar faßte
und sprach flüsternd: »Fasse dich, zücke das Schwert nicht, schelten magst du immerhin. Wenn du
mir gehorchst, verspreche ich dir dreifache Gabe!«
Auf diese Mahnung hemmte Achill seine Rechte am silbernen Hefte seines Schwertes und stieß es in
die Scheide zurück; aber seinen Worten ließ er freien Lauf. »Unwürdiger«, sprach er, »wann hat dein
Herz dir eingegeben, mit den Edelsten Griechenlands in einen Hinterhalt zu ziehen oder in offener
Schlacht zuvorderst zu kämpfen? Viel bequemer dünkt es dir, hier im Heereslager sein Geschenk dem
zu entwenden, der es wagt, dir zu widersprechen! Aber ich schwöre dir bei diesem Fürstenzepter, so
gewiß er nie wieder als Baumast grünen wird: hinfort siehest du den Sohn des Peleus nicht mehr in
der Schlacht; umsonst wirst du Rettung suchen, wenn der männermordende Hektor die Griechen
scharenweise niederwirft; umsonst wird alsdann an deiner Seele der Gram fressen, daß du den
edelsten der Danaer keiner Ehre wert geachtet hast!« So sprach Achill, warf seinen Zepter auf die
Erde und setzte sich nieder. Vergebens suchte der ehrwürdige Nestor die Streitenden mit milder
Rede zu versöhnen. Endlich rief Achill, sich aus der Versammlung erhebend, dem Könige zu: »Tue,
was du willst, nur mute mir keinen Gehorsam zu. Nie werde ich des Mägdleins wegen gegen dich
oder andere die Arme zum Streit erheben. Ihr gabet sie mir, ihr könnt sie mir auch wieder nehmen.
Aber laß dir nicht einfallen, das mindeste sonst bei meinen Schiffen anzutasten, wenn du nicht willst,
daß dein Blut von meiner Lanze triefe!«
Die Versammlung trennte sich. Agamemnon ließ die Tochter des Chryses und die Hekatombe zu
Schiffe bringen, und Odysseus führte beide ihrer Bestimmung zu. Dann aber berief der Atride die
Herolde Talthybios und Eurybates und befahl ihnen, die Tochter des Brises aus dem Zelte des Peliden
zu holen. Die Herolde gingen ungerne, jedoch dem drohenden Wort ihres Herrschers gehorchend
zum Schiffslager. Sie fanden den Achill vor seinem Zelte sitzend, und er wurde ihres Anblickes nicht
fröhlich; sie selbst aber wagten vor Scheu und Ehrfurcht nicht, zu verkündigen, weswegen sie kämen.
Aber Achill hatte es ihnen im Geiste schon abgelauscht. »Freude sei mit euch«, rief er ihnen zu, »ihr
Herolde des Zeus und der Menschen! Nahet euch immerhin; nicht ihr traget die Schuld eurer
Forderung, sondern Agamemnon. Wohlan denn, Freund Patroklos, führe die Jungfrau heraus und
übergib sie ihnen. Aber sie selbst sollen mir Zeugen sein vor den Göttern, den Menschen und jenem
Wüterich: wenn man je wieder meiner Hilfe bedarf, so ist es nicht meine Schuld, sondern die Schuld
des Atriden, wenn ich nicht erscheine.«
Patroklos brachte das Mädchen, die den Herolden widerstrebend folgte; denn sie hatte ihren milden
Herrn liebgewonnen. Achill aber setzte sich weinend an den Strand, schaute hinunter in die dunkle
Meeresflut und flehte seine Mutter Thetis um Hilfe an. Da ertönte ihre Stimme aus der Tiefe: »Wehe
mir, mein Kind, daß ich dich gebar; so kurz währet dein Leben, und nun sollst du auch noch soviel
Tränen und Kränkung erfahren! Aber ich selbst gehe hinauf zum Donnerer und flehe für dich um
Hilfe. Zwar ist er gestern zum Mahle der frommen Äthiopier an den Strand des Okeanos gegangen,
und erst nach zwölf Tagen wird er wiederkehren; dann aber eile ich hinauf zu ihm und umfasse ihm
die Knie. So lange setze du dich zu deinen Schiffen, zürne den Danaern und enthalte dich des
Krieges.« Achill verließ mit der Antwort seiner Mutter im Herzen den Strand und setzte sich grollend,
mit verschlungenen Armen, in seinem Zelte nieder.
Inzwischen war Odysseus mit dem Schiffe zu Chryse angekommen und übergab dem freudig
überraschten Vater sein holdseliges Kind. Dankbar hob Chryses seine Hände gen Himmel und flehte
zu Phöbos um Abwendung der Plage, die er den Griechen zugesandt, und in diesem Augenblicke
hörte die Pest unter dem griechischen Heere auf, und als Odysseus mit dem Schiffe ins Lager der
Griechen zurückkam, fand er diese des Übels ledig.
Der zwölfte Tag, seit Achill sich in seine Lagerstätte zurückgezogen hatte, war angebrochen, und
Thetis hatte ihr Versprechen nicht vergessen. Im frühesten Morgennebel tauchte sie aus dem Meere
und stieg empor zum Olymp. Hier fand sie auf der höchsten Kuppe des gezackten Berges, abseits von
den andern Göttern, den wartenden Zeus gelagert, setzte sich zu ihm, und mit der Linken seine Knie
umschlingend, mit der Rechten nach der Sitte Flehender sein Kinn berührend, sprach sie zu ihm:
»Vater Zeus, wenn ich dir je mit Worten oder Taten gedient habe, so gewähre mir mein Verlangen:
Ehre meinen Sohn, dem vom Geschicke so früh zu welken bestimmt ist; Agamemnon hat ihn jetzt
eben aufs tiefste gekränkt und ihm das Ehrengeschenk entzogen, das er selbst erbeutet hatte.
Deswegen bitte ich dich, Göttervater, gib den Trojanern so lange den Sieg, bis die Griechen meinem
Sohne wieder die verdiente Ehre erweisen!« Lange blieb Zeus unbeweglich und schweigend. Aber
Thetis schmiegte sich ihm immer fester ans Knie und flüsterte: »So gewähre mir doch meine Bitte,
Vater, oder verweigere sie mir rundweg, damit ich es wisse, ob ich mehr als alle andere Götter einer
Ehre von dir gewürdigt werde!« So nötigte sie endlich den Vater der Götter zu der unmutigen
Antwort: »Es ist nicht zum Heile, daß du mich zwingst, mit der Göttermutter Hera zu hadern, die
ohnehin mir immer zuwider ist. Eile nur hinweg, daß sie dich nicht bemerke, und es genüge dir der
Wink meines Hauptes, welcher der untrüglichsten Verheißung gleich ist.« So sprechend, nickte Zeus
mit den Augenbrauen, und die Höhen des Olymps erbebten von dem Nicken seines Hauptes.
Zufrieden fuhr Thetis hinab zur Meerestiefe. Hera aber, welche die Ratschlagung ihres Gemahles mit
der Göttin wohl beachtet hatte, trat heran zu Zeus und reizte ihn mit Vorwürfen. Doch dieser
antwortete der Göttin ruhig: »Getraue dir nicht, einzusehen, was ich beschließe; schweig und
gehorche meinem Gebote!« Da erschrak Hera vor dem Wort ihres Gemahls, des Götter‐ und
Menschenvaters, und wagte nicht weiter, Einsprache gegen seinen Entschluß zu tun.
Versuchung des Volkes durch Agamemnon
Zeus gedachte des Winks, den er der Meeresgöttin Thetis zugenickt hatte. Er schickte den Traumgott
in das Lager der Griechen und in das Zelt des schlummernden Königs Agamemnon. Dieser stellte sich
in Nestors Gestalt, den der König vor allen andern Ältesten ehrte, zu seinen Häupten und sprach zu
ihm: »Schläfst du, Sohn des Atreus? Ein Mann, der das ganze Volk beraten soll, darf nicht so lange
schlafen. Höre mich, der ich als ein Bote des Zeus zu dir komme; er befiehlt dir, die Achiver zur
Schlacht zu rüsten: jetzt sei die Stunde, wo Troja bezwungen werden kann. Die Himmlischen sind
entschlossen, und Verderben schwebt über der Stadt.«
Agamemnon erwachte vom Schlafe und verließ eilig das Lager. Er band sich die Sohlen unter die
Füße, zog das Gewand an, hängte das Schwert über die Schulter, ergriff den Zepter und wandelte in
der Frühe des Morgens nach den Schiffen. Die Herolde gingen auf sein Geheiß, das Volk zur
Versammlung zu rufen, von einer Lagerstatt zu der andern; die Fürsten des Heeres aber wurden am
Schiffe Nestors in einen Rat gerufen. Hier eröffnete Agamemnon die Beratung mit den Worten:
»Freunde, vernehmet! Ein gottgesandter Traum, in Nestors Gestalt zu mir tretend, hat mich belehrt,
daß, von Zeus herabgeschickt, über Troja Verderben schwebe. Laßt uns nun sehen, ob es uns gelingt,
die durch den Zorn des Achill entmutigten Männer zur Schlacht zu rüsten. Ich selbst will sie zuerst mit
Worten versuchen und ihnen den Rat erteilen, zu Schiffe zu gehen und die trojanische Küste zu
verlassen; dann sollt ihr euch, der eine da‐, der andere dorthin eilend, verteilen und die Völker zum
Bleiben zu bewegen suchen.« Nach Agamemnon erhob sich Nestor und sprach zu den Fürsten:
»Wenn ein anderer Mann uns einen solchen Traum erzählte, so würden wir ihn der Lüge
beschuldigen und uns verächtlich abwenden. So aber ist der, der diesen Traum gesehen hat, der
erste Fürst aller Danaer; und darum glauben wir ihm und gehen ans Werk!« Nestor verließ den Rat,
und alle Fürsten folgten ihm auf den Markt, wo das gesamte Volk sich schon wie ein Bienenschwarm
versammelte. Neun Herolde ordneten dasselbe, daß es sich im Kreise lagerte und allmählich der
Lärm und das Flüstern der Redenden verstummte. Dann sprach Agamemnon, in der Mitte der
Versammlung stehend und auf seinen Herrscherstab sich lehnend: »Lieben Freunde, versammelte
heldenmütige Streiter des Danaervolkes, der grausame Zeus hat mich in starke Schuld verstrickt, er,
der mir einst so gnädig gelobt hatte, daß ich nur als Vertilger Trojas heimziehen sollte. Jetzt aber
gefällt es ihm, der schon so viele Städte zu Boden geschmettert hat und in seiner Allmacht noch
niederschmettern wird, mir zu befehlen, daß ich, nachdem so viel Volkes umsonst erlegen ist,
ruhmlos nach Argos zurückkehren soll. Auch ist es freilich schmählich, wenn ein späteres Geschlecht
vernehmen soll, daß dieses große Griechenvolk in einem heillosen Streite gegen soviel schwächere
Feinde fortkämpfe. Denn wahrhaftig, wenn wir die Zahl der Trojaner im Frieden mit der Zahl der
Unsrigen messen wollten, so daß je ein Trojaner einem Tische von zehn Griechen den Wein
kredenzte: viele Tische, deucht mir, würden des Weines entbehren müssen. Aber freilich haben sie
mächtige Bundesgenossen aus vielen Städten, deren Macht mir nicht erlaubt, ihre Stadt zu vertilgen,
wie ich wohl möchte. Inzwischen sind neun Jahre herumgegangen, das Holz an unsern Schiffen wird
anbrüchig, die Seile vermodern, unsere Weiber und Kinder sitzen zu Hause und schmachten nach
uns: so ist es wohl das beste, wir fügen uns in des Zeus Gebot, gehen zu Schiffe und kehren ins liebe
Land der Väter zurück.« Die Worte Agamemnons bewegten die Versammlung wie schwellende
Meereswogen. Das ganze Heer geriet in Aufruhr; alles stürzte den Schiffen zu, daß der Staub in die
Luft wirbelte; einer ermunterte den andern, die Schiffe ins Meer zu ziehen; die Balken unter diesen
wurden hinweggezogen, die Gräben, die mit dem Meer in Verbindung standen, geräumt.
Den Freunden der Griechen im Olymp selbst wurde bange, als sie den Ernst der Völker sahen, und
Hera ermahnte Athene, hinunterzueilen ins Heer der Achiver und durch ihre schmeichelnde
Götterrede die Flucht derselben zu hemmen. Pallas Athene gehorchte ihr und flog von den
Felsenhöhen des Olymp hinab ins Schiffslager der Griechen. Hier fand sie den Odysseus mit
gramvollem Herzen regungslos vor seinem Schiffe stehend, das er nicht zu berühren wagte. Die
Göttin näherte sich ihm, und indem sie sich seinen Blicken offenbarte, sprach sie freundlich zu ihm:
»Also wollet ihr euch wirklich in die Schiffe stürzen und fliehen? Wollet dem Priamos den Ruhm und
den Trojanern Helena lassen, die Griechin, um welche so viele Griechen fern vom Vaterlande
dahingesunken sind? Nein, das wirst du nicht dulden, edler, kluger Odysseus! Eilig dich ins Heer der
Danaer geworfen, nicht gezaudert! Brauche deiner Beredsamkeit, ermahne, hemme sie!« Auf den
Ruf der Göttin warf Odysseus schnell seinen Mantel weg, welchen Eurybates, sein Herold, der ihm
gefolgt war, aufnahm, und eilte unter das Volk. Stieß er nun an einen der Fürsten und edlern
Männer, so hielt er ihn mit freundlichen Worten an und sprach ihm zu: »Ziemt es dir auch, mein
Trefflicher, zu verzagen wie ein Feigling? Du solltest vielmehr ruhig bleiben und auch die andern
beruhigen. Weißt du doch nicht, wie der Atride wirklich im Herzen gesinnt ist und ob er die Griechen
nicht hat versuchen wollen!« Wenn er aber wo einen Mann vom Volke lärmend und schreiend
antraf, den schlug er mit seinem Zepter und bedrohte ihn mit lauter Stimme: »Elender, rühre dich
nicht; hör du, was andre sagen, du, den man weder im Kampf noch im Rate rechnen kann! Wir
Griechen können doch nicht alle Könige sein! Vielherrschaft ist nichts nütze, nur einem hat Zeus den
Zepter verliehen, und diesem sollen die andern gehorchen!«
So ließ Odysseus seine herrschende Stimme durchs Heer erschallen und bewog endlich das Volk, von
den Schiffen auf den Versammlungsplatz zurückzuströmen. Allmählich wurde alles ruhig und
verharrte geduldig auf den Sitzen. Nur eine einzige Stimme krächzte noch: es war Thersites, der sich,
wie gewöhnlich, mit fordernden Scheltworten gegen die Fürsten vernehmen ließ. Dieser war der
häßlichste Mann, der aus Griechenland mit vor Troja gekommen war; er schielte mit dem einen Auge
und war lahm am andern Fuße, hatte einen Höcker auf dem Rücken, die Schultern gegen die Brust
eingeengt, einen Spitzkopf, dessen Scheitel nur mit dünner Wolle spärlich besäet war. Besonders war
der Haderer dem Peliden und Odysseus verhaßt; denn gegen diese Helden lästerte er unaufhörlich.
Diesmal aber kreischte er seine Schmähungen dem Völkerfürsten Agamemnon entgegen: »Was hast
du zu klagen, Atride«, schrie er; »wessen bedarfst du denn? Ist nicht dein Zelt voll von edlem Erz und
voll von Weibern? Du lässest es dir wohl sein, und wir sollen uns von dir in allen Jammer
hineinführen lassen? Viel besser tun wir, auf den Schiffen heimzusegeln und diesen hier allein vor
Troja sich mit Ehrengeschenken mästen zu lassen! Hat er doch jetzt selbst den mächtigen Achill
verunehrt und vorenthält ihm seine Ehrengabe. Aber der träge Pelide hat keine Galle in der Leber,
sonst hätte der Tyrann zum letzten Male gefrevelt!«
Während Thersites so schalt, stellte sich Odysseus neben ihn und maß ihn mit finsterem Blick, dann
hub er sein Zepter, bleute ihm Rücken und Schultern und rief. »Find ich dich noch einmal im
Wahnsinne toben wie jetzt, du Schuft, so soll mein Haupt nicht auf meinen Schultern stehen und
Telemachos nicht mein Sohn sein, wenn ich dir nicht die Kleider bis auf die Blöße vom Leibe ziehe
und dich, mit Geißelhieben gestäupt, nackt zu den Schiffen sende!« Thersites krümmte sich unter
den Streichen des Helden, mit blutigen Striemen auf Schulter und Nacken, und lief dann tobend vor
Schmerz und heulend vor Wut von dannen. Im Volk aber stieß ein Nachbar den andern lachend an
und freute sich darüber, daß der ekelhafte Mensch die verdiente Strafe erhielt.
Jetzt aber trat der Held Odysseus vor das Volk, neben ihn Pallas Athene, welche die Gestalt eines
Herolds angenommen hatte und den Völkern Stillschweigen gebot. Er selbst hob seinen Fürstenstab
in die Höhe, daß die Umstehenden aufmerkten, und sprach: »Sohn des Atreus! Wahrhaftig, so weit
ist es gekommen, daß die Griechen dir Schmach bereiten und ihren Verheißungen ungetreu werden,
sie, die versprochen haben, nicht eher von dannen zu ziehen, als bis sie Troja vertilgt hätten. Nun
jammern sie wie Weiber und kleine Kinder nach der Heimkehr und klagen einander ihr Leid! Aber
welche Schande wäre es für uns, nachdem wir so lange hier verweilt, leer heimzukehren! Darum, ihr
Freunde, geduldet euch doch noch ein weniges; erinnert euch an das Zeichen, das uns vor unserer
Abfahrt von Aulis zuteil wurde, als wir auf geweihten Altären, um jenen Sprudelquell her,
Hekatomben unter dem schönen Ahornbaume opferten. Mir ist, als wäre es erst gestern geschehen!
Ein gräßlicher Drache mit dunkelfarbigen Schuppen schlüpfte unter dem Altar hervor und fuhr
schlängelnd an dem Ahornbaume hinauf. Dort hing ein Sperlingsnest mit nackten Jungen
schwankend auf einem Aste: ihrer achte schmiegten sich in die Blätter, das neunte aber war die
brütende Mutter der Vögel. Die umflog mit kläglichem Zwitschern die Kleinen, bis der Drache sein
Haupt hindrehte und die Jammernde am Flügel erhaschte. Nachdem er die Mutter samt den Jungen
verzehrt, verwandelte ihn Zeus, der den Drachen gesandt hatte, zum offenbaren Wunderzeichen in
einen Stein; und ihr Achiver sahet es mit staunendem Grauen. Kalchas aber, der Seher, rief euch zu:
›Was stehet ihr verstummt, ihr Griechen? Wisset ihr nicht, daß dies Wunder eine Wahrsagung des
Zeus ist? Die neun Sperlinge sind neun Jahre, die ihr um Troja kriegen werdet: im zehnten aber sollet
ihr die prachtvolle Stadt erobern.‹ So weissagte damals Kalchas. Nun aber wird ja alles vollendet! Die
neun Jahre des Kampfes sind vorüber, das zehnte Jahr ist erschienen, und der Sieg muß mit ihm
kommen. So harret denn die kleine Weile miteinander noch aus, ihr Griechen! Bleibet, bis wir die
Feste des Königes Priamos zerstört haben!«
Ein Jubel der versammelten Argiver beantwortete die Rede des Odysseus; der weise Nestor benützte
die umgewandelte Stimmung der Völker und riet dem Könige Agamemnon, sofort, wenn sich etwa
noch einer unbändig nach der Heimkehr sehnte, einem solchen nicht zu verweigern, zu Schiffe zu
gehen und von dannen zu fahren. Dann aber sollte er die Männer nach Stamm und Geschlecht
absondern und kämpfen lassen: so würde er am sichersten erfahren, wer von Kriegern und Führern
der Mutigere oder der Feigere sei und ob Göttergewalt oder Furcht oder mangelnde Kriegserfahrung
die Eroberung Trojas verhindere. Erfreut antwortete auf diesen Vorschlag der Völkerfürst:
»Fürwahr, Nestor, du, der Greis, übertriffst unsere Männer alle durch Einsicht. Hätte ich im Rate der
Griechen noch zehn deinesgleichen, so sollte mir Trojas hochragende Burg bald zertrümmert in den
Staub sinken! Ich selbst muß gestehen, daß ich unbesonnen gehandelt habe, mich mit Achill wegen
des Mädchens zu entzweien. Zeus hatte mich damals mit Blindheit geschlagen. Versöhnen wir beide
uns je wieder, so wird der Untergang Trojas nicht länger säumen! Doch nun wollen wir uns zum
Angriffe rüsten; stärke sich jeder mit einem Mahl, bereite Schild und Lanze, füttre und tränke seine
Rosse, besichtige den Streitwagen und gedenke der Schlacht, die bis zum Abend dauern wird. Bleibt
mir einer absichtlich bei den Schiffen zurück, dessen Leib soll den Hunden und Vögeln nicht
entgehen!«
Als Agamemnon ausgeredet, schrien die Danaer laut auf, daß es tönte wie die Meerflut, wenn sie sich
beim Südwind am hohen Felsenstrande bricht. Das Volk sprang auf, jeder eilte zu seinen Schiffen,
und bald sah man den Rauch des Frühstücks aus den Lagerhütten dampfen. Agamemnon selbst
opferte dem Zeus einen Stier und lud die edelsten Achiver zum Mahle ein. Als dies vorüber war,
gebot er den Herolden, die Griechen zur Schlacht zu rufen; und bald stürzten die Haufen, Scharen
von Kranichen oder Schwänen gleich, die am Flußufer hinflattern, auf die Skamandrische Wiese. Die
Führer, an ihrer Spitze der Atride, ordneten die Reihen. Herrlich war der Fürst der Fürsten
Agamemnon anzuschauen, an Augen und Haupt dem Göttervater gleich, an breiter Brust dem
Poseidon und gerüstet wie der streitbare Kriegsgott selbst.
Paris und Menelaos
Das Heer, auf Nestors Rat nach Volksstämmen geordnet, stand in Schlachtordnung, als man endlich
den Staub der aus ihren Mauern heranziehenden Trojaner gewahr wurde. Nun setzten sich auch die
Griechen in Bewegung. Als beide Heere einander nahe genug waren, daß der Kampf beginnen
konnte, schritt aus der Reihe der Trojaner der Königssohn Paris vor, in ein buntes Pantherfell
gekleidet, den Bogen um die Schultern gehängt, sein Schwert an der Seite, und indem er zwo spitze
Lanzen schwenkte, forderte er den tapfersten aller Griechen heraus, mit ihm den Zweikampf zu
wagen. Als diesen Menelaos aus den sich heranwälzenden Scharen hervorspringen sah, freute er sich
wie ein hungriger Löwe, dem eine ansehnliche Beute, ein Gemsbock oder ein Hirsch in den Weg
kommt, und schnell sprang er in voller Rüstung von seinem Wagen zur Erde herab, den frevelhaften
Dieb seines Hauses zu bestrafen. Dem Paris graute beim Anblick eines solchen Gegners, und er
entzog sich dem Kampfe erblassend und ins Gedränge seiner Landsleute zurückfahrend, als hätte er
eine Natter gesehen. Als ihn Hektor so in die Menge der Trojaner zurücktauchen sah, rief er ihm voll
Unmut zu: »Bruder, du bist doch nur von Gestalt ein Held, in Wahrheit aber nichts als ein weibischer,
schlauer Verführer. Wärest du lieber gestorben, ehe du um Helena gebuhlt! Siehst du nicht, wie die
Griechen ein Gelächter erheben, daß du es nicht wagest, dem Manne standzuhalten, dem du die
Gattin gestohlen hast? Du wärest wert zu erfahren, an welchem Manne du dich versündigt, und ich
würde dich nicht bemitleiden, wenn du dich verwundet auf dem Boden wälzest und der Staub dein
zierliches Lockenhaar besudelte.« Paris antwortete ihm: »Hektor, dein Herz ist hart und dein Mut
unwiderstehlich wie eine Axt aus Erz, mit der der Schiffszimmermann Balken behaut, und du tadelst
mich nicht mit Unrecht; aber schilt mir nicht meine Schönheit, denn sie ist auch eine Gabe der
Unsterblichen. Wenn du mich aber jetzt kämpfen sehen willst, so heiß Trojaner und Griechen ruhen;
dann will ich um Helena und alle ihre Schätze mit dem Helden Menelaos vor allem Volke den
Zweikampf wagen. Wer von uns beiden siegt, mag sie heimführen; ein Bund soll es bekräftigen; ihr
bauet alsdann das trojanische Land in Frieden, und jene schiffen heim gen Argos.«
Eine freudige Überraschung hatte sich Hektors bei diesen Worten seines Bruders bemächtigt; er trat
vor die Schlachtordnung heraus in die Mitte und hemmte, den Speer hochhaltend, den Anlauf der
trojanischen Haufen. Als die Griechen seiner ansichtig wurden, zielten sie in die Wette mit
Wurfspießen, Pfeilen und Steinen nach ihm. Agamemnon aber rief laut nach den griechischen Reihen
zurück: »Haltet ein, Argiver, werfet nicht; der helmumflatterte Hektor begehrt zu reden!« Die
Griechen ließen ihre Hände sinken und verharrten in Schweigen ringsumher; und nun verkündete
Hektor mit lauter Stimme den Völkern den Entschluß seines Bruders Paris. Seine Rede beantwortete
ein tiefes Stillschweigen. Endlich nahm Menelaos vor den Heeren das Wort: »Hört mich an«, rief er,
»mich, auf dessen Seele der allgemeine Kummer am schwersten lastet! Endlich, hoffe ich, werdet ihr,
Argiver und Trojaner, nachdem ihr um des Streites willen, den Paris angefacht, so viel Schlimmes
erduldet habt, versöhnt voneinander scheiden! Einer von uns zweien, welchen auch das Schicksal
auserkoren hat, soll sterben; ihr andern aber sollt in Frieden scheiden. Laßt uns opfern und
schwören, alsdann mag der Zweikampf beginnen!«
Beide Heere wurden froh über diesen Worten; denn sie sehnten sich nach einem Ende des unseligen
Kriegs. Auf beiden Seiten zogen die Wagenlenker den Rossen die Zügel an, die Helden sprangen von
den Streitwagen, zogen die Rüstungen aus und legten sie, Feinde ganz nahe an Feinden, auf die Erde
nieder. Hektor sandte eilig zween Herolde nach Troja, die Opferlämmer zu bringen und den König
Priamos herbeizurufen, auch der König Agamemnon schickte den Herold Talthybios zu den Schiffen,
ein Lamm zu holen. Die Götterbotin Iris aber, in Priamos' Tochter Laodike umgestaltet, eilte, die
Botschaft der Fürstin Helena in die Stadt zu bringen. Sie fand sie am Webestuhl, ein köstliches
Gewand mit den Kämpfen der Trojaner und Griechen durchwirkend, die Augen auf ihre Arbeit
geheftet. »Komm doch heraus, trautes Kind«, rief sie ihr zu, »du sollst etwas Seltsames schauen! Die
Trojaner und Griechen, die noch eben voll Ingrimms zur Feldschlacht gegeneinander anrückten,
ruhen stillschweigend, auf die Schilde hingelehnt, die Speere in den Boden gesteckt, einander
gegenüber; aber Krieg ist beendigt; nur deine Gatten Alexander und Menelaos werden mit der Lanze
um dich kämpfen: und wer seinen Gegner besiegt, trägt dich als Gemahlin davon!«
So sprach die Göttin und erfüllte das Herz Helenas mit Sehnsucht nach ihrem Jugendgemahl
Menelaos, nach der Heimat und nach den Freunden. Sie hüllte sich schnell in einen silberweißen
Schleier, in welchen sie die Träne verbarg, die ihr an den Wimpern hing, und eilte, von Aithra und
Klymene, zweien ihrer Dienerinnen, gefolgt, nach dem Skäischen Tore. Hier saß auf den Zinnen König
Priamos mit den ältesten und verständigsten Greisen des trojanischen Volkes, Panthoos, Thymötes,
Lampos, Klytios, Hiketaon, Antenor und Ukalegon; die beiden letztern waren die verständigsten
Männer von Troja; sie alle ruhten zwar in ihrem hohen Alter vom Kriege aus, in der Ratsversammlung
aber war ihr Wort das tüchtigste. Als diese von der Höhe des Turmes Helena herankommen sahen,
flüsterten die Greise, die Gestalt der Fürstin bestaunend, einander leise zu: »Fürwahr, niemand soll
Trojaner und Griechen tadeln, daß sie für ein solches Weib so lange im Elend ausharren. Gleicht sie
doch einer unsterblichen Göttin an Herrlichkeit! Aber auch mit solcher Gestalt mag sie immerhin auf
den Schiffen der Danaer heimkehren, damit uns und unsern Söhnen nicht der Schaden
zurückbleibe!« Priamos aber rief Helena liebreich herbei: »Komm näher heran«, sprach er, »mein
Töchterchen, setze dich zu mir her, ich will dir deinen ersten Gemahl, deine Freunde und deine
Verwandten zu schauen geben; du bist mir nicht schuld an diesem jammervollen Kriege; die Götter
sind es, die ihn mir zugesendet haben. Nenne mir denn jenes gewaltigen Mannes Namen, der dort so
groß und herrlich über alle Danaer hervorprangt; an Haupt überragen ihn zwar hier und da noch
größere Männer in dem Heere, aber von so königlicher Gestalt habe ich doch noch keinen unter
ihnen gesehen.«
Ehrfurchtsvoll entgegnete Helena dem Könige: »Teurer Schwiegervater, Scheu und Furcht bewegen
mich, indem ich dir nahe. Mir wäre der bitterste Tod besser gewesen, als daß ich, Heimat, Tochter
und Freunde verlassend, deinem Sohne hierher gefolgt bin. In Tränen möchte ich zerfließen, daß es
geschah! Nun aber höre: der dort, nach dem du fragst, ist Agamemnon, der trefflichste König und ein
tapferer Krieger; er war, ach, er war dereinst mein Schwager!« »Glücklicher Atride«, rief Priamos aus,
den Helden sich betrachtend, »Gesegneter, dessen Zepter zahllose Griechen gehorchen! Auch ich
stand einst in männlicher Jugend an der Spitze eines großen Heeres, als wir die Horde der Amazonen
von Phrygien abwehrten; doch war mein Heer nicht so groß wie das deinige!« Dann fragte der Greis
von neuem: »Nenne mir nun auch noch jenen, Töchterchen; er ragt nicht so hoch empor wie der
Atride, aber seine Brust ist breiter, seine Schultern sind mächtiger; seine Wehr liegt zu Boden
gestreckt; er selbst umwandelt die Reihen der Männer wie ein Widder die Schafe.« »Das ist der Sohn
des Laërtes«, antwortete Helena, »der schlaue Odysseus; Ithaka, die felsige Insel, ist seine Heimat.«
Jetzt mischte sich auch der Greis Antenor ins Gespräch: »Du hast recht, Fürstin«, sagte er, »ihn und
Menelaos kenne ich gut; habe ich sie doch in meinem Haus als Gesandte einst beherbergt. Im Stehen
überragte Menelaos den Helden Odysseus; wenn sie sich aber beide gesetzt, erschien Odysseus als
der Herrlichere. Auch redete Menelaos wenig, lauter hingeworfene inhaltsreiche Worte. Odysseus
aber, wenn er reden wollte, stand da, die Augen zur Erde geheftet, den Stab unbeweglich in der
Hand, anzusehen wie ein Verlegener; man wußte nicht, ist er tückisch oder dumm. Sandte er aber
einmal die gewaltige Stimme aus der Brust, dann drängten sich seine Worte wie Schneeflocken im
Winter, und kein Sterblicher konnte sich mit Odysseus an Beredsamkeit messen.«
Priamos hatte sich indessen noch weiter umgeschaut. »Wer ist denn der Riese dort«, rief er, »der so
gar groß und gewaltig über alles Volk hervorragt?« »Das ist der Held Ajax«, antwortete Helena, »die
Stütze der Argiver; und weiter drüben steht wie ein Gott unter seinen Kretern Idomeneus. Ich kenne
ihn wohl; Menelaos hat ihn oft in unserer Wohnung beherbergt. Und ach, nun erkenne ich einen um
den andern, die freudigen Krieger aus meiner Heimat; hätten wir Muße, so wollte ich dir sie alle mit
Namen nennen! Nur meine leiblichen Brüder Kastor und Pollux sehe ich nicht. Sind sie wohl nicht mit
hierhergekommen? Oder scheuen sie sich, in der Schlacht zu erscheinen, weil sie sich ihrer Schwester
schämen?« Über diesem Gedanken verstummte Helena; sie wußte nicht, daß ihre Brüder schon
lange von der Erde verschwunden waren.
Während diese sich so unterredeten, trugen die Herolde die Bundesopfer durch die Stadt, welche aus
zwei Lämmern und aus einheimischem Weine zum Trankopfer, der in einen bocksledernen Schlauch
gefüllt war, bestanden. Der Herold Idaios folgte mit einem blinkenden Krug und goldenen Becher. Als
sie durchs Skäische Tor kamen, nahte dieser dem Könige Priamos und sprach zu ihm: »Mach dich auf,
König; beide, die Fürsten der Trojaner und der Griechen, rufen dich hinab ins Gefilde, damit du dort
einen heiligen Vertrag beschwörest. Dein Sohn Paris und Menelaos werden allein um das Weib mit
dem Speere kämpfen: wer im Kampfe siegt, dem folgt sie mitsamt den Schätzen. Alsdann schiffen die
Danaer nach Griechenland zurück.« Der König stutzte, doch befahl er seinen Gefährten, die Rosse
anzuschirren, und mit ihm bestieg Antenor den Wagensitz. Priamos ergriff die Zügel, und bald flogen
die Rosse durchs Skäische Tor hinaus aufs Blachfeld. Zwischen den beiden Völkern angekommen,
verließ der König mit seinem Begleiter den Wagen und stellte sich in die Mitte. Aus dem griechischen
Heere eilten jetzt Agamemnon und Odysseus herbei. Die Herolde führten die Bundesopfer heran,
mischten den Wein im Kruge und besprengten die beiden Könige mit dem Weihwasser. Dann zog der
Atride das Opfermesser, das ihm immer neben der großen Scheide seines Schwertes herabhing,
schnitt den Lämmern, wie bei Opfern gebräuchlich, das Stirnhaar ab und rief den Göttervater zum
Zeugen des Bündnisses. Dann durchstach er den Lämmern die Kehlen und legte die geopferten in
den Staub nieder; die Herolde gossen unter Gebet den Wein aus goldnen Bechern, und alles Volk von
Griechenland und Troja flehte dazu laut: »Zeus und ihr unsterblichen Götter alle! Welche von uns
zuerst den Eidschwur brechen, deren Gehirn fließe auf den Boden wie dieser Wein, ihres und ihrer
Kinder!«
Priamos aber sprach: »Jetzt, ihr Trojaner und Griechen, laßt mich wieder zu Ilions hoher Burg
zurückkehren; denn ich kann es unmöglich mit eigenen Augen ansehen, wie mein Sohn hier auf
Leben und Tod mit dem Fürsten Menelaos kämpft; weiß doch Zeus allein, welchem von beiden der
Untergang verhängt ist!« So sprach der Greis, ließ die Opferlämmer in den Wagen legen, bestieg mit
seinem Begleiter den Sitz und lenkte die Rosse wieder der Stadt Troja zu.
Hierauf maßen Hektor und Odysseus den Raum des Kampfplatzes und schüttelten in einem ehernen
Helm zwei Lose, zu entscheiden, wer zuerst die Lanze auf den Gegner werfen dürfe. Hektor,
rückwärts gewandt, schwenkte den Helm: da sprang das Los des Paris heraus. Nun waffneten sich
beide Helden und wandelten in Panzer und Helm, die mächtigen Lanzen in der Hand, mit drohendem
Blicke in der Mitte der Trojaner und Griechen einher, von beiden Völkern angestaunt. Endlich traten
sie einander in dem abgemessenen Kampfraume gegenüber und schwangen zornig ihre Speere.
Durch das Los berechtigt, entsandte zuerst Paris den seinigen: der traf dem Menelaos den Schild,
aber die Lanzenspitze bog sich am Erze und sank zurück. Dann erhob auch Menelaos seinen Speer
und betete dazu mit lauter Stimme: »Zeus, laß mich den strafen, der mich zuerst beleidigt hat; daß
man noch unter den späten Enkeln sich scheue, dem Gastfreunde Böses zu tun!« Der entsandte
Speer durchschmetterte dem Paris den Schild, durchdrang den Harnisch und durchschnitt ihm den
Leibrock an der Weiche; nun riß der Atride sein Schwert aus der Scheide und führte einen Streich auf
den Helm des Gegners; aber die Klinge zersprang ihm klirrend. »Grausamer Zeus, was mißgönnst du
mir den Sieg?« rief Menelaos, stürmte auf den Feind ein, ergriff ihn am Helm und zog ihn, sich
umwendend, der griechischen Schlachtordnung zu; ja er hätte ihn geschleift und der beengende
Kehlriemen ihn erwürgt, wenn nicht die Göttin Aphrodite die Not gesehen und den Riemen
gesprengt hätte. So blieb dem Menelaos der leere Helm in der Hand; diesen schleuderte der Held
den Griechen zu und wollte von neuem auf seinen Gegner eindringen. Den aber hatte Aphrodite in
einen schirmenden Nebel gehüllt und plötzlich nach Troja geführt. Hier setzte sie ihn im süß
duftenden Gemache nieder, trat dann in Gestalt einer alten spartanischen Spinnerin zu Helena, die
auf einem der Türme unter vielen trojanischen Weibern saß. Die Göttin zupfte sie am Gewand und
sprach zu ihr: »Komm, Paris ruft dich, er sitzt in der Kammer in reizendem Feierkleide; du solltest
glauben, er gehe zum Reigen, und nicht, er komme vom Zweikampf.« Als Helena aufblickte, sah sie
Aphrodite in göttlichem Reize vor sich verschwinden. Unbemerkt von den Frauen schlich sie sich
davon und eilte nach ihrem Palaste. Dort fand sie im hohen Gemache den Gatten, von Aphrodite
geschmückt, in einem Sessel gelagert. Sie setzte sich ihm gegenüber, kehrte die Augen weg und
schalt ihren Gemahl: »So kommst du vom Kampfe zurück? Lieber sähe ich dich getötet von dem
Gewaltigen, der mein erster Gatte war! Noch kürzlich prahltest du, ihn im Lanzenwurf und im
Handgemenge zu besiegen! Geh nun und fordere ihn noch einmal heraus! Doch nein, ich rate dir,
bleib in Ruhe, das zweitemal dürfte er dir übler mitspielen!« »Kränke mir das Herz nicht durch deine
Schmähungen, Frau«, erwiderte ihr Paris; »wenn Menelaos mich besiegt hat, so geschah es mit
Athenes Hilfe. Ein andermal werde ich über ihn siegen; die Götter haben auch uns noch nicht
vergessen.« Da wandte Aphrodite Helenas Herz, daß sie den Gatten freundlicher ansah und ihm
versöhnt die Lippen zum Kusse reichte. ‐
Auf dem Kampfplatze durchstürmte Menelaos noch immer wie ein Raubtier das Heer, den
verschwundenen Paris ausspähend: aber weder ein Trojaner noch ein Grieche konnte ihm den
Fürsten zeigen, und doch hätten sie ihn gewiß nicht verhehlt, denn er war beiden zuwider wie der
Tod. Endlich erhob Agamemnon seine Stimme und sprach: »Höret mein Wort, ihr Dardaner und
Griechen! Menelaos ist der offenbare Sieger. So gehet uns denn jetzt Helena samt den Schätzen
zurück und bezahlet uns für alle Folgezeit einen Tribut!« Die Argiver nahmen diesen Vorschlag mit
Jubel auf, die Trojaner schwiegen.
Drittes Buch
Pandaros
Auf dem Olymp war eine große Götterversammlung: Hebe wandelte an den Tischen umher und
schenkte Nektar ein. Die Götter tranken einander aus goldenen Pokalen zu und schauten auf Troja
nieder. Da ward von Zeus und Hera Trojas Untergang beschlossen. Der Vater der Götter wandte sich
zu seiner Tochter Athene und befahl ihr, auf den Kampfplatz hinabzueilen und die Trojaner zu
versuchen, daß sie die auf ihren Sieg stolzen Griechen wider den Vertrag zu beleidigen anfingen.
Pallas Athene mischte sich sofort unter das Getümmel der Trojaner, nachdem sie die Gestalt des
Laodokos, der ein Sohn Antenors war, angenommen. In dieser Verhüllung suchte sie den Sohn
Lykaons, den trotzigen Pandaros, auf, der ihr zu dem Werke geschickt schien, das ihr der Vater
aufgetragen. Dieser war ein Verbündeter der Trojaner und aus Lykien mit seiner Heerschar
hergekommen. Die Göttin fand ihn bald, in der Mitte der Seinigen stehend. Sie trat nahe zu ihm,
klopfte ihm auf die Schulter und sprach: »Höre, kluger Pandaros, jetzt könntest du etwas tun,
wodurch du bei allen Trojanern dir Preis und Dank verdientest, vor allem von Paris, der dir gewiß mit
den herrlichsten Geschenken lohnen würde. Siehst du dort Menelaos, den hochmütigen Sieger
stehen? Wage es und drücke deinen Pfeil auf ihn ab.«
So sprach die verhüllte Göttin, und das Herz des Toren gehorchte ihr. Schnell entblößte er den
Bogen, öffnete den Deckel des Köchers, wählte einen befiederten Pfeil, legte ihn auf die Sehne, und
bald sprang das Geschoß vom schwirrenden Horn. Athene aber lenkte den Pfeil auf den Leibgurt, so
daß er zwar durch diesen und den Harnisch drang, aber nur die oberste Haut ritzte, jedoch so, daß
das Blut aus der Wunde rann und den Menelaos ein leichter Schauer durchflog. Wehklagend
umringten ihn Agamemnon und die Genossen. »Teurer Bruder«, rief der König, »dir zum Tode hab
ich das Bündnis geschlossen; die treulosen Feinde haben es mit Füßen getreten. Zwar werden sie es
büßen, und ich weiß gewiß, daß der Tag kommt, wo Troja mit Priamos und dem ganzen Volke
hinsinkt; mich aber erfüllt dein Tod mit dem bittersten Schmerz. Wenn ich ohne dich heimkehre und
deine Gebeine auf trojanischem Boden am unvollendeten Werk dahinmodern, mit welcher Schmach
würde mich das Vaterland empfangen; denn einem andern, nicht mir ohne dich, ist beschieden, Troja
zu erobern und Helena fortzuführen. Und auf dein Grab springend, wird der Trojaner Hohnreden
führen über dich, Hohnreden über mich. Spaltete sich doch die Erde, mich zu verschlingen!« Aber
Menelaos tröstete seinen Bruder. »Sei ruhig«, sprach er, »das Geschoß hat mich nicht zum Tode
verwundet; mein Leibgurt hat mich geschützt.« »O daß dem so wäre«, seufzte Agamemnon und
beschickte durch seinen Herold eilig den heilkundigen Machaon. Dieser kam, zog den Pfeil aus dem
Gurt, löste diesen, öffnete den Harnisch und beschaute die Wunde; dann sog er selbst das quellende
Blut heraus und legte ihm eine lindernde Salbe auf.
Während der Arzt und die Helden so um den verwundeten Menelaos beschäftigt waren, rückten die
Schlachtreihen der Trojaner schon heran; auch die Griechen hüllten sich wieder in ihre Wehren, und
Agamemnon übergab dem Eurymedon Rosse und Wagen mit der Weisung, sie ihm zu bringen, wenn
er ihn vom Durcheilen der Schlachtordnung ermattet sehe. Dann flog er zu Fuß unter die Scharen der
Streiter und ermunterte sie zur Abwehr, die Mutigen belebend, die Saumseligen tadelnd. So gelangte
er auf seinem Gange zu den Kretern, die gewappnet ihren Heerführer Idomeneus umringten. Dieser
stand an ihrer Spitze, kampflustig wie ein Eber. Die hinteren Reihen munterte sein Freund Meriones
auf. Als Agamemnon die Scharen sah, wurde sein Herz fröhlich. »Du bist mir doch der Besten einer,
Idomeneus«, rief er ihnen zu, »bei jedem Geschäfte, im Kriege wie beim Mahle, wenn man den
funkelnden Ehrenwein in den mächtigen Krügen mischt: Wenn da die andern ihr bescheidenes Maß
trinken, so steht dein Becher immer voll wie der meinige. Jetzt aber stürme mit mir in die Schlacht,
wie du dich so oft gegen mich gerühmt.« »Wohl bleibe ich dein treuer Genosse, König«, erwiderte
jener, »geh nur andere anzuspornen, bei mir bedarf es dessen nicht. Möge Tod und Verderben die
bundbrüchigen Trojaner treffen!«
Jetzt erreichte Agamemnon die beiden Ajax, hinter denen ein ganzes Gewühl von Fußvolk einherzog.
»Wenn doch«, rief ihnen der König im Vorübereilen zu, »ein Mut wie der eurige den Busen aller
Danaer beseelte, dann sollte die Burg des Priamos bald unter unsern Händen in Trümmer fallen.«
Nun traf er weiterschreitend auf Nestor. Dieser ordnete gerade seinen Heerhaufen: voran die Helden
mit Roß und Wagen, viele und tapfere Männer zu Fuße hinten, die Feigen in die Mitte gedrängt. Dazu
ermahnte er sie mit weisen Worten: »Wage sich mir keiner mit seinem Streitwagen zu weit vor,
weiche mir auch keiner zurück; stößt Wagen auf Wagen, so strecket die Lanze vor.« Wie ihn
Agamemnon die Seinigen so ermahnen hörte, rief er ihm zu: »O Greis, möchten dir die Knie folgen
und deine Leibeskraft ausreichen, wie dir der Mut noch den Busen füllt. Könnte doch ein anderer dir
die Last des Alters abnehmen, daß du zum Jüngling umgeschaffen würdest!« »Wohl möchte ich jetzt
der sein, der ich einst war«, antwortete ihm Nestor, »doch haben die Götter den Menschen nicht
alles zugleich verliehen. Mögen die jüngeren Speere werfen; ich begleite meine Männer mit Worten
und weisem Rate, den auch das Alter geben kann.« Freudig ging Agamemnon an ihm vorüber und
stieß jetzt auf Menestheus, den Sohn des Peteos, um den die Athener geschart waren und neben
welchem die Kephallenier in dichten Schlachtreihen unter Odysseus standen. Beider Haufen ruhten
in Erwartung und wollten andere Züge voranstürmen lassen. Dies verdroß den Völkerfürsten, und er
sprach mürrisch zu ihnen: »Was schmieget ihr euch so zusammen, ihr beiden, auf andere harrend?
Wenn wir Braten schmausen und Wein trinken, seid ihr immer die ersten; nun aber würdet ihr es
nicht ungerne sehen, wenn zehn Griechenscharen vor euch in die Schlacht eindrängen!« Odysseus
aber sah ihn finster an und sprach: »Was denkst du, Atride? Uns schiltst du saumselig? Warte nur,
wenn wir einmal losbrechen, ob wir die Wut der Schlacht nicht gehörig gegen die Troer aufregen und
du mich nicht im vordersten Getümmel erblicken wirst. Drum schwatze mir nicht voreilig nichtige
Worte!« Als er den Helden so zürnen sah, erwiderte Agamemnon lächelnd: »Ich weiß es wohl, edler
Sohn des Laërtes, daß du weder Tadel noch Ermahnung bedarfst; auch bist du im Herzensgrund
milde wie ich; laß uns keine harten Worte wechseln.« So verließ er ihn und eilte weiter. Da fand er
den Sohn des Tydeus, den stolzen Diomedes, neben Sthenelos, des Kapaneus Sohn, seinem Freund
und Wagenlenker, auf dem herrlichen Streitwagen harrend. Auch diesen versuchte er mit
verdrießlichen Worten: »Weh mir«, sprach er, »Sohn des Tydeus, du scheinst dich bange nach dem
Treffen umzusehen; so blickte dein Vater nicht, als er gegen Theben zog: den sah man immer mitten
in der Arbeit!« Diomedes schwieg auf den Verweis des Herrschers; sein Freund Sthenelos antwortete
für ihn: »Du weißt es besser, Atride«, sprach er, »wir rühmen uns größerer Tapferkeit denn unsere
Väter, haben wir doch Theben erobert, vor dem sie einst erlegen sind!« Diomedes aber unterbrach
seinen Genossen und sagte finster: »Schweige, Trauter, ich verarge es dem Völkerhirten nicht, daß er
die Griechen zum Kampf anreizt; ihm wird der Ruhm zuteil, wenn wir siegen, ihm unendlicher Gram,
wenn wir überwunden werden. Darum auf, laß uns der Abwehr gedenken!« So sprach Diomedes und
sprang vom Wagen, daß ihm das Erz um die Brust klirrte.