Читать книгу Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Zweiter Teil - Gustav Schwab - Страница 5
Kapitel 2
ОглавлениеOhne weitere Bitten abzuwarten, entfernte sich der König und ließ die jammernden Frauen allein in
seinem Zelte. Da hallte plötzlich Waffenlärm vor diesem. »Es ist Achill«, rief Klytämnestra freudig.
Vergebens suchte sich Iphigenia in tiefer Beschämung vor dem erheuchelten Bräutigam zu
verbergen. Der Sohn des Peleus trat, von einigen Bewaffneten begleitet, hastig in das Zelt:
»Unglückliche Tochter Ledas«, rief er, »das ganze Lager ist im Aufruhr und verlangt den Tod deiner
Tochter; ich selbst, der mich dem Geschrei widersetzte, wäre fast gesteiniget worden.« »Und deine
Myrmidonen?« fragte Klytämnestra mit stockendem Atem. »Die empörten sich zuerst«, fuhr Achill
fort, »und schalten mich einen liebeskranken Schwätzer. Mit diesem treuen Häuflein hier komme ich,
euch gegen den anrückenden Odysseus zu verteidigen. Tochter, klammere dich an deine Mutter;
mein Leib soll euch decken, ich will sehen, ob sie es wagen, den Sohn der Göttin anzugreifen, von
dessen Leben das Schicksal Trojas abhängt.« Diese letzten Worte, die einen Schimmer von Hoffnung
enthielten, gaben der Mutter den Atem wieder.
Jetzt aber machte sich Iphigenia aus ihren Armen los, richtete ihr Haupt auf und stellte sich mit
entschlossenen Schritten vor die Königin und den Fürsten: »Höret meine Reden an!« sprach sie mit
einer Stimme, die alles Zittern verloren hatte, »vergebens, liebe Mutter, zürnst du deinem Gatten; er
kann sich nicht gegen das Notwendige stemmen. Alles Lob verdient der Eifer dieses Fremdlings, aber
er wird es büßen müssen, und du wirst gelästert werden. Höret deswegen den Entschluß, den mir die
Überlegung eingegeben hat. Ich habe beschlossen zu sterben; ich verbanne jede niedrige Regung aus
meiner freien Brust und will es vollenden. Auf mir ruht jetzt jedes Auge des herrlichen Griechenlands,
auf mir die Fahrt der Flotte und der Fall Trojas, auf mir die Ehre der griechischen Frauen. Alles dieses
werde ich mit meinem Tode schirmen; mit Ruhm wird sich mein Name bedecken; die Befreierin
Griechenlands werde ich heißen. Soll ich, eine Sterbliche, der Göttin Artemis in den Weg treten, weil
es ihr gefällt, mein Leben für das Vaterland zu verlangen? Nein, ich gebe es willig dahin; opfert mich,
zerstöret Troja, das wird mein Denkmal sein und mein Hochzeitsfest.«
Mit leuchtendem Blicke, wie eine Göttin, stand Iphigenia vor der Mutter und dem Peliden, während
sie also sprach. Da senkte sich der herrliche Jüngling Achill vor ihr auf ein Knie und rief.»Kind
Agamemnons! die Götter machten mich zum glückseligsten Menschen, wenn mir deine Hand zuteil
würde. Um dich beneide ich Griechenland, und um Griechenland, das dir angetrauet ist, dich.
Liebessehnsucht ergreift mich nach dir, du Herrliche, nun ich dein Wesen geschaut habe. Erwäg es
wohl! Der Tod ist ein schreckliches Übel, ich aber möchte dir gern Gutes tun, möchte dich
heimführen zum Leben und Glück!« Lächelnd erwiderte ihm Iphigenia: »Männerkrieg und Mord
genug hat Frauenschönheit durch die Tyndaridin angeregt, mein lieber Freund; stirb nicht auch du für
ein Weib, noch töte jemand um meinetwillen. Nein, laß mich Griechenland retten, wenn ich es
vermag!« »Erhabene Seele«, rief der Pelide, »tue, was dir gefällt, ich aber eile mit diesen meinen
Waffen zum Altar, deinen Tod zu hindern. In deiner Unbesonnenheit darfst du mir nicht sterben,
vielleicht nimmst du mich noch beim Worte, wenn du den Mordstahl auf deinen Nacken gezückt
siehst.« So eilte er der Jungfrau voran, die bald darauf, der Mutter alle Klage verbietend und ihr den
kleinen Bruder Orestes auf die Arme legend, im beseligenden Bewußtsein, das Vaterland zu retten,
dem Tode freudig entgegenging. Die Mutter warf sich im Zelt auf ihr Angesicht und vermochte nicht,
ihr zu folgen.
Unterdessen versammelte sich die ganze griechische Heeresmacht in dem blumenreichen Haine der
Göttin Athene vor der Stadt Aulis. Der Altar war errichtet, und neben ihm stand der Seher und
Priester Kalchas. Ein Ruf des Staunens und Mitleids ging durch das ganze Heer, als man Iphigenia, von
ihren treuen Dienerinnen begleitet, den Hain betreten und auf den Vater Agamemnon zuwandeln
sah. Dieser seufzte laut auf, wandte sein Angesicht zurück und verbarg einen Tränenstrom in sein
Gewand. Die Jungfrau aber stellte sich dem Vater zur Seite und sprach: »Lieber Vater, siehe, hier bin
ich schon! Vor der Göttin Altar übergebe ich mein Leben, wenn es der Götterspruch so gebeut, den
Führern des Heeres zum Opfer fürs Vaterland. Mich freut es, wenn ihr glücklich seid und mit
Siegeslohn zur Heimat wiederkehrt. Berühre mich drum auch kein Argiver; mutig und still will ich den
Nacken dem Opferstahle bieten!«
Ein lautes Staunen ging durch das Heer, als es Zeuge solchen Hochsinnes ward. Nun gebot Talthybios,
der Herold, in der Mitte stehend, Stillschweigen und Andacht. Der Seher Kalchas zog einen blanken
schneidenden Stahl aus der Seite und legte ihn vor dem Altar in einem goldenen Korbe nieder. Jetzt
trat Achill in voller Waffenrüstung und mit gezücktem Schwerte vor den Altar. Aber ein Blick der
Jungfrau verwandelte auch seinen Entschluß. Er warf das Schwert auf die Erde, besprengte den Altar
mit Weihwasser, ergriff den Opferkorb, umwandelte den Festaltar wie ein Priester und sprach: »O
hohe Göttin Artemis, nimm dieses heilige, freiwillige Opfer, das unbefleckte Blut des schönen
Jungfrauennackens, das Agamemnon und Griechenland dir jetzo weiht, gnädig an, gib unsern
Schiffen glückliche Fahrt und Trojas Sturz unsern Speeren!« Die Atriden und das ganze Heer standen
stumm zur Erde blickend. Der Priester Kalchas nahm seinen Stahl, betete und faßte die Kehle der
Jungfrau scharf ins Auge. Deutlich hörte man den Fall seines Schlages. Aber o Wunder, in demselben
Augenblicke war die Jungfrau aus den Augen des Heeres verschwunden. Artemis hatte sich ihrer
erbarmt, und eine Hindin von hohem Wuchs und herrlicher Gestalt lag zappelnd auf dem Boden und
besprengte mit reichlichem Opferblute den Altar. »Ihr Führer des vereinten Griechenheeres«, rief
Kalchas, nachdem er sich von seinem freudigen Staunen erholt hatte, »sehet hier das Opfer, welches
die Göttin Artemis gesandt hat und das ihr willkommner ist als die Jungfrau, deren edles Blut den
Altar nicht besudeln sollte. Die Göttin ist versöhnt, gibt unsern Schiffen fröhliche Fahrt und verspricht
uns die Erstürmung Trojas. Seid guten Muts, ihr Seegefährten, denn noch an diesem Tage verlassen
wir die Bucht von Aulis!« So sprach er und sah zu, wie das Opfertier allmählich vom Feuer verkohlt
ward. Als der letzte Funke erloschen war, unterbrach die Stille der Luft ein Sausen des Windes, die
Blicke des Heeres kehrten sich nach dem Hafen und sahen hier die Schiffe im bewegten Meere
schwanken. Mit lautem Jubelrufe ward aus dem heiligen Haine aufgebrochen, und alles Volk eilte
nach den Zelten.
Als Agamemnon in dem seinigen ankam, fand er seine Gattin Klytämnestra nicht mehr dort; ihr
treuer Diener war ihm vorausgeeilt und hatte die ohnmächtig auf dem Boden Liegende mit der
Nachricht von der Rettung ihrer Tochter erweckt und aufgerichtet. Mit einem flüchtigen Gefühl des
Dankes und der Freude erhob die zur Besinnung gekommene Königin ihre Hände gen Himmel, dann
aber rief sie mit bitterem Schmerze: »Mein Kind ist mir doch geraubt! Er ist doch der Mörder meiner
Mutterfreude! Laß uns eilen, daß meine Augen den Kindesmörder nicht schauen!« Der Diener eilte,
den Wagen und das Gefolge zu bestellen, und als Agamemnon von dem Opferfeste zurückkam, war
seine Gemahlin schon fern auf dem Wege nach Mykene.
Abfahrt der Griechen. Aussetzung des Philoktetes
Noch an demselben Tage ging die Flotte der Griechen unter Segel, und der günstigste Fahrwind
führte sie schnell auf die hohe See. Nach einer kurzen Fahrt landeten sie auf der kleinen Insel Chryse,
um frisches Wasser einzunehmen. Hier entdeckte Philoktetes, der Sohn des Königes Pöas aus
Meliböa in Thessalien, der erprobte Held und Waffengefährte des Herakles, der Erbe seiner
unüberwindlichen Pfeile, einen verfallenen Altar, welchen einst der Argonaute Iason auf seiner Fahrt
der Göttin Pallas Athene, der die Insel heilig war, geweihet hatte. Der fromme Held freute sich seines
Fundes und wollte der Beschirmerin der Griechen auf ihrem verlassenen Heiligtume opfern. Da schoß
eine giftige Natter, dergleichen die Heiligtümer der Götter zu bewachen pflegten, auf den
Herantretenden zu und verwundete den Helden mit ihrem Biß am Fuße. Erkrankt wurde er wieder zu
Schiffe gebracht, und die Flotte segelte weiter. Die giftige und stets weiterfressende Wunde aber
peinigte den Sohn des Pöas mit unerträglicher Qual, und seine Schiffsgenossen konnten den übeln
Geruch des eiternden Geschwüres und sein beständiges Jammergeschrei nicht länger aushalten.
Keine Spende, kein Opfer vermochten sie ruhig darzubringen; in alles mischte sich sein unheiliger
Angstruf. Endlich traten die Söhne des Atreus mit dem verschlagenen Odysseus zusammen; denn die
Unzufriedenheit der Begleiter des kranken Helden fing an, sich durch das ganze Heer zu verbreiten,
welches fürchtete, daß der wunde Philoktetes das Lager von Troja verpesten und den Griechen mit
seiner endlosen Wehklage das Leben verbittern möchte. Deswegen faßten die Anführer des Volkes
den grausamen Entschluß, als sie an der wüsten und unbewohnbaren Küste der Insel Lemnos
vorüberfuhren, den armen Helden hier auszusetzen, und bedachten dabei nicht, daß sie mit dem
tapfern Manne sich zugleich seiner unüberwindlichen Geschosse beraubten. Der schlaue Odysseus
erhielt den Auftrag, diesen hinterlistigen Anschlag zu vollführen; er lud den schlafenden Helden sich
auf, fuhr mit ihm in einem Nachen an den Strand und legte ihn hier unter einer nahen Felsengrotte
nieder, nachdem er so viel Kleidungsstücke und Lebensmittel zurückgelassen hatte, als zur
kümmerlichen Fristung seines Lebens für die nächsten Tage nötig waren. Das Schiff hatte am Strande
nur so lange angehalten, als es Zeit bedurfte, den Unglücklichen auszusetzen: dann segelte es, sobald
Odysseus zurückgekehrt war, weiter und vereinigte sich bald wieder mit dem übrigen Zuge.
Die Griechen in Mysien. Telephos
Die griechische Flotte kam jetzt glücklich an die Küste von Kleinasien. Da aber die Helden der Gegend
nicht recht kundig waren, ließen sie sich von dem günstigen Winde zuerst ferne von Troja an die
mysische Küste treiben und legten sich mit allen ihren Schiffen vor Anker. Längs des Gestades fanden
sie zur Bewachung des Ufers allenthalben Bewaffnete aufgestellt, die ihnen im Namen des
Landesherrn verboten, dies Gebiet zu betreten, bevor dem Könige gemeldet wäre, wer sie seien. Der
König von Mysien war aber selbst ein Grieche, Telephos, der Sohn des Herakles und der Auge, der
nach wunderbaren Schicksalen seine Mutter bei dem Könige Teuthras in Mysien antraf, dessen
Königes Tochter Argiope zur Gemahlin erhielt und nach des Tode König der Mysier geworden war.
Die Griechen, ohne zu fragen, wer der Herr des Landes wäre, und ohne den Wächtern eine Antwort
zu erteilen, griffen zu den Waffen, stiegen ans Land und hieben die Küstenwächter nieder. Wenige
entrannen und meldeten dem Könige Telephos, wieviel tausend unbekannte Feinde in sein Land
gefallen wären, die Wachen niedergemetzelt hätten und sich jetzt im Besitze des Ufers befänden.
Der König sammelte in aller Eile einen Heerhaufen und ging den Fremdlingen entgegen. Er selbst war
ein herrlicher Held und seines Vaters Herakles würdig, hatte auch seine Kriegsscharen zu griechischer
Heereszucht gebildet. Die Danaer fanden deswegen einen Widerstand, wie sie ihn nicht erwartet
hatten; denn es entspann sich ein blutiges und lange unentschiedenes Treffen, in welchem sich Held
mit Helden maß. Unter den Griechen tat sich in der Schlacht besonders Thersander hervor, der Enkel
des berühmten Königes Ödipus und Sohn des Polyneikes, der vertraute Waffengenosse des Fürsten
Diomedes, der schon als Epigone sich berühmt gemacht hatte. Dieser raste in dem Heere des
Telephos mit Mord und erschlug endlich den geliebtesten Freund und ersten Krieger des Königes an
seiner Seite. Darüber entbrannte der König in Wut, und es entspann sich ein grimmiger Zweikampf
zwischen dem Enkel des Ödipus und dem Sohne des Herakles. Der Heraklide siegte, und Thersander
sank, von einem Lanzenstiche durchbohrt, in den Staub. Laut seufzte sein Freund Diomedes auf, als
er dies aus der Ferne sah, und ehe der König Telephos sich auf den Leichnam werfen und ihm die
Rüstung abziehen konnte, war er herzugesprungen, hatte sich den Leichnam des Freundes über die
Schultern gelegt und eilte mit Riesenschritten, ihn aus dem Kampfgewühle zu tragen. Als der Held
mit seiner Last fliehend an Ajax und Achill vorüberkam, durchfuhr auch diese Helden ein
schmerzlicher Zorn, sie sammelten ihre wankenden Scharen, teilten sie in zwei Haufen und gaben
durch eine geschickte Schwenkung dem Treffen eine andere Gestalt. Die Griechen waren jetzt bald
wieder im Vorteil; Teuthrantios, der Halbbruder des Telephos, fiel, von einem Geschosse des Ajax
getroffen; Telephos selbst, in der Verfolgung des Odysseus begriffen, wollte dem sinkenden Bruder
zu Hilfe kommen, strauchelte aber über einen Weinstock: denn durch die Geschicklichkeit der
Griechen waren die kämpfenden Scharen der Feinde in eine Weinpflanzung gelockt worden, in der
die Stellung der Danaer die günstigere war. Diesen Augenblick ersah sich Achill, und während
Telephos vom Falle sich erhob, durchbohrte ihm der Wurfspieß des Peliden die linke Weiche. Er
richtete sich dennoch auf, zog das Geschoß aus der Seite, und durch den Zusammenlauf der Seinigen
beschirmt, entging er weiterer Gefahr. Noch lange hätte das Treffen mit abwechselndem Glücke
fortgedauert, wenn nicht die Nacht eingebrochen wäre und beide Teile, der Ruhe bedürftig, sich von
dem Kampfplatze zurückgezogen hätten. Und so begaben sich die Mysier nach ihrer Königsstadt, die
Griechen nach ihrem Ankerplatze zurück, nachdem von beiden Seiten viele tapfere Männer gefallen,
viele verwundet waren. Am folgenden Tage schickten beide Teile Gesandte wegen eines
Waffenstillstandes, damit die Leiber der Gefallenen zusammengesucht und begraben werden
könnten. Jetzt erst erfuhren die Griechen zu ihrem Staunen, daß der König, der sein Gebiet so
heldenmütig verteidigt habe, ihr Volksgenosse und der Sohn ihres größten Halbgottes sei, und
Telephos ward mit Schmerzen inne, daß ihm Bürgerblut an den Händen klebe. Nun fand es sich auch,
daß im griechischen Heere drei Fürsten waren, Tlepolemos, ein Sohn des Herakles, Pheidipp und
Antiphos, Söhne des Königes Thessalos und Enkel des Herakles, alle drei also Verwandte des Königes
Telephos. Diese nun erboten sich, im Geleite der mysischen Gesandten vor ihren Bruder und Vetter
Telephos zu gehen und ihm näher zu berichten, wer die Griechen seien, die an seiner Küste gelandet,
und in welcher Absicht sie nach Asien kämen. Der König Telephos nahm seine Verwandten liebreich
auf und konnte sich nicht genug von ihnen erzählen lassen. Da erfuhr er, wie Paris mit seinem Frevel
ganz Griechenland beleidigt hatte und Menelaos mit seinem Bruder Agamemnon und allen
verbündeten Griechenfürsten aufgebrochen sei. »Darum«, sprach Tlepolemos, der als ein leiblicher
Halbbruder des Königes für die übrigen das Wort führte, »lieber Bruder und Landsmann, entzeuch
dich deinem Volke nicht, für das ja auch unser lieber Vater Herakles an allen Orten und Enden der
Welt gestritten, von dessen Vaterlandsliebe ganz Griechenland unzählige Denkmale aufzuweisen hat;
heile die Wunden wieder, die du, ein Grieche, Griechen geschlagen hast, indem du deine Scharen mit
den unsrigen vereinigst und als unser Verbündeter gegen das meineidige Trojanervolk ziehest.«
Telephos richtete sich von seinem Lager, auf welchem er, durch die Wunde des Achill
darniedergestreckt, die griechischen Helden empfangen hatte, mit Mühe auf und erwiderte
freundlich: »Eure Vorwürfe sind nicht gerecht, liebe Volksgenossen; durch eure eigene Schuld seid ihr
aus Freunden und Blutsverwandten meine erbitterten Feinde geworden. Haben doch die
Küstenwächter, meinem strengen Befehle gehorsam, euch wie alle Landenden geziemend nach
Namen und Abkunft gefragt und nicht nach roher Barbarenweise, sondern nach dem Völkerrechte
der Griechen mit euch gehandelt. Ihr aber seid in der Meinung, daß gegen Barbaren alles erlaubt sei,
ans Land gesprungen ohne ihnen die verlangte Weisung zu geben, und habt meine Untertanen, ohne
sie anzuhören, niedergemacht. Auch mir habt ihr« ‐ hier zeigte er auf seine Seite ‐ »ein Andenken
hinterlassen, das mich, wohl fühle ich es, mein Leben lang an unser gestriges Zusammentreffen
erinnern wird. Doch grolle ich euch darüber nicht und kann die Freude, Blutsverwandte und Griechen
in meinem Reiche aufgenommen zu haben, nicht zu teuer erkaufen. Höret nun, was in Beziehung auf
eure Anforderung mein Bescheid ist: Gegen Priamos zu Felde zu ziehen mutet mir nicht zu. Mein
zweites Gemahl, Astyoche, ist seine Tochter; dazu ist er selbst ein frommer Greis, und seine übrigen
Söhne sind edelmütig, er und sie haben keinen Anteil an dem Verbrechen des leichtsinnigen Paris.
Sehet dort meinen Knaben Eurypylos; wie sollte ich ihm das Herzeleid antun und das Reich seines
Großvaters zerstören helfen! Wie ich aber dem Priamos nichts zuleide tun will, so werde ich auch
euch, meine Landsleute, auf keinerlei Weise schädigen. Nehmet Gastgeschenke von mir und fasset
Mundvorrat, soviel euch nötig ist. Dann gehet hin und fechtet in der Götter Namen euren Handel
aus, den ich nicht schlichten kann.«
Mit dieser gütigen Antwort kamen die drei Fürsten vergnügt in das Lager der Argiver zurück und
meldeten dem Agamemnon und den andern Fürsten, wie sie Freundschaft im Namen der Griechen
mit Telephos geschlossen. Der Kriegsrat der Helden beschloß, den Ajax und Achill sofort an den König
zu senden, daß sie das Bündnis mit ihm bestätigten und ihn wegen seiner Wunde trösteten. Diese
fanden den Herakliden schwer an der Verletzung darniederliegen, und Achill warf sich weinend über
sein Lager und bejammerte es, daß sein Speer unwissentlich einen Landsmann und edlen Sohn des
Herakles getroffen. Der König aber vergaß seine Schmerzen und bedauerte nur, von der Ankunft so
herrlicher Gäste nicht unterrichtet gewesen zu sein, um ihnen einen königlichen Empfang zu
bereiten. Hierauf lud er die Atriden feierlich in seine Hofburg ein, bewirtete sie mit festlicher Pracht
und erfreute sie mit köstlichen Geschenken. Diese brachten auf die Bitte Achills die beiden
weltberühmten Ärzte Podaleirios und Machaon mit, die Wunde des Königes zu untersuchen und zu
heilen. Das letztere gelang ihnen zwar nicht, denn der Speer des Göttersohnes hatte seine eigene
Kraft, und die Wunden, die er schlug, widerstanden der Heilung; doch befreiten die Linderungsmittel,
die sie auflegten, den König für den Augenblick von den unerträglichsten Schmerzen. Und nun
erteilte er von seinem Krankenlager aus den Griechen allerlei heilsame Ratschläge, versah die Flotte
mit Lebensmitteln und ließ sie nicht eher abziehen, als bis der Winter, der im Anzuge war, da sie
landeten mit seinen härtesten Stürmen vorüber war. Darauf belehrte er sie über die Lage der Stadt
Troja und über den Weg, den sie dahin zu machen hätten, und bezeichnete ihnen als einzigen
Landungsplatz die Mündung des Flusses Skamander.
Paris zurückgekehrt
Obgleich in Troja noch nichts von der Abfahrt der großen griechischen Flotte bekannt war, herrschte
doch seit der Abreise der griechischen Gesandten Schrecken und Furcht vor dem bevorstehenden
Kriege in dieser Stadt. Paris war inzwischen mit der geraubten Fürstin, der herrlichen Beute und
seiner ganzen Flotte zurückgekommen. Der König Priamos sah die unerbetene Schwiegertochter
nicht mit Freuden in seinen Palast eintreten und versammelte auf der Stelle seine zahlreichen Söhne
zu einer Fürstenversammlung. Diese ließen sich durch den Glanz der Schätze, die ihr Bruder unter sie
zu verteilen bereit war, und die Schönheit der Griechinnen aus den edelsten Fürstengeschlechtern,
welche er im Gefolge Helenas mitgebracht und denjenigen seiner Brüder, die noch keine Frauen
hatten, zur Ehe zu geben bereit war, leicht betören; und weil ihrer viele noch jung und alle
kampflustig waren, so fiel die Beratung dahin aus, daß die Fremde in den Schutz des Königshauses
aufgenommen und den Griechen nicht ausgeliefert werden sollte. Ganz anders hatte freilich das Volk
der Stadt, dem vor einem feindlichen Angriff und einer Belagerung gar bange war, die Ankunft des
Königssohnes und seinen schönen Raub aufgenommen; mancher Fluch hatte ihn durch die Straßen
verfolgt, und hier und da war selbst ein Stein nach ihm geflogen, als er die erbeutete Gemahlin in des
Vaters Palast geleitete. Doch hielt die Ehrfurcht vor dem alten König und seinem Willen die Trojaner
ab, sich der Aufnahme der neuen Bürgerin ernstlich zu widersetzen.
Als nun im Rate des Priamos der Beschluß gefaßt war, die Fürstin nicht zu verstoßen, sandte der
König seine eigene Gemahlin zu ihr in das Frauengemach, um sich zu überzeugen, daß sie freiwillig
mit Paris nach Troja gekommen sei. Da erklärte Helena, daß sie durch ihre eigene Abstammung den
Trojanern ebensosehr angehöre als den Griechen: denn Danaos und Agenor seien ebensowohl ihre
eigenen Stammväter als die Stammhalter des trojanischen Königshauses. Unfreiwillig geraubt, sei sie
jetzt doch durch langen Besitz und innige Liebe an ihren neuen Gemahl gefesselt und freiwillig die
Seinige. Nach dem, was geschehen, könne sie von ihrem vorigen Gatten und ihrem Volke keine
Verzeihung erwarten; nur Schande und Tod stände ihr bevor, wenn sie ausgeliefert würde.
So sprach sie mit einem Strom von Tränen und warf sich der Königin Hekabe zu Füßen, welche die
Schutzflehende liebreich aufrichtete und ihr den Willen des Königes und seiner Söhne verkündete,
sie gegen jeden Angriff zu schirmen.
Die Griechen vor Troja
So lebte denn Helena ungefährdet am Königshofe von Troja und bezog darauf mit Paris einen
eigenen Palast. Auch das Volk gewöhnte sich bald an ihre Lieblichkeit und griechische Holdseligkeit,
und als nun endlich die fremde Flotte wirklich an der trojanischen Küste erschien, waren die
Einwohner der Stadt minder verzagt denn zuvor.
Sie zählten ihre Bürger und ihre Bundesgenossen, die sie schon vorher beschickt und deren
wirksamer Hilfe sie sich versichert hatten, und sie fanden sich an Zahl und Kraft ihrer Helden und
Streiter den Griechen gewachsen. So hofften sie mit dem Schutze der Himmlischen ‐ denn außer
Aphrodite waren noch mehrere Götter, darunter der Kriegsgott, Apollo, und Zeus, der Vater der
Olympischen selbst, auf ihrer Seite ‐ die Belagerung ihrer Stadt abtreiben und die Feinde zum
schnellen Rückzuge nötigen zu können.
Zwar war ihr Anführer, König Priamos selbst, ein nicht mehr kampffähiger Greis, aber fünfzig Söhne,
worunter neunzehn von seiner Gattin, der Königin Hekabe, umringten ihn teils im blühenden, teils im
kräftigsten Alter, vor allen Hektor, nächst ihm Deïphobos und nach diesen als die ausgezeichnetsten
Helenos, der Wahrsager, Pammon, Polites, Antiphos, Hipponoos und der zarte Troilos. Vier liebliche
Töchter, Krëusa, Laodike, Kassandra und die in der Kindheit schon von Schönheit strahlende Polyxena
umgaben seinen Thron. Dem Heere, das sich jetzt streitfertig machte, stand als Oberfeldherr Hektor,
der helmumflatterte Held, vor; neben ihm befehligte die Dardaner Äneas, der Schwiegersohn des
Königes Priamos und Gemahl Krëusas, ein Sohn der Göttin Aphrodite und des greisen Helden
Anchises, der noch immer ein Stolz des trojanischen Volkes war; an die Spitze einer andern Schar
stellte sich Pandaros, der Sohn des Lykaon, dem Apollo selbst seinen Bogen verliehen hatte; andere
Scharen, zum Teil trojanischer Hilfsvölker, führten Adrastos, Amphios, Asios, Hippothoos, Pylaios,
Akamas, Euphemos, Pyraichmes, Pylaimenes, Hodios, Epistrophos; Chromis und Ennomos eine
Hilfsschar von Mysiern; Phorkys und Askanios eine gleiche der Phryger, Mesthles und Antiphos die
Mäonier, Nastes und Amphimachos die Karier, die Lykier Sarpedon und Glaukos.
Auch die Griechen hatten inzwischen gelandet und sich längs dem Gestade des Meeres zwischen den
beiden Vorgebirgen Sigeion und Rhöteion in einem geräumigen Lagerplatz angesiedelt, der einer
ordentlichen Stadt nicht unähnlich war. Die Fahrzeuge waren ans Land gezogen worden und in
mehreren Reihen hintereinander aufgestellt, so daß sie sich, weil der Boden des Ufers aufwärts ging,
stufenförmig übereinander erhoben. Die Schiffszüge der einzelnen Völkerschaften reihten sich in der
Ordnung aneinander, wie sie gelandet. Die Schiffe selbst waren auf Unterlagen von Steinen
aufgestellt, damit sie vom feuchten Boden nichts zu leiden hätten und luftiger ständen. In der ersten
Reihe vom Land aus hatten an den beiden äußersten Enden der Telamonier Ajax und Achill, beide das
Gesicht gegen Troja gekehrt, jener zur Linken, dieser zur Rechten, ihre Fahrzeuge aufgestellt und ihre
Lagerhütten aufgepflanzt, die wir nur uneigentlich und der Kürze halber Zelte nennen. Das Quartier
des Achill wenigstens glich beinahe einem ordentlichen Wohnhause, hatte Scheunen und Ställe für
Mundvorräte, Wagenpferde und zahmes Vieh; und neben seinen Schiffen war Raum zu Wettrennen,
Leichenspielen und andern Feierlichkeiten. An Ajax schlossen sich die Schiffe des Protesilaos an, dann
kamen andere Thessalier, dann die Kreter, Athener, Phokier, Böotier, zuletzt Achill mit seinen
Myrmidonen; in der zweiten Reihe standen unter andern die Lokrer, Dulichier, Epeer; in der dritten
waren minder namhafte Völker mit ihren Schiffen gelagert; aber auch Nestor mit den Pyliern,
Eurypylos mit den Ormeniern, zuletzt Menelaos. In der vierten und letzten längs dem Meeresgestade
selbst standen Diomedes, Odysseus und Agamemnon, so daß Odysseus in der Mitte, zur Rechten
Agamemnon, links Diomedes lagerte. Vor Odysseus befand sich die Agora, der freie Platz, der zu allen
Versammlungen und Verhandlungen bestimmt war und auf welchem die Altäre der Götter standen.
Dieser Platz teilte auch noch die dritte Reihe, so daß derselbe den Nestor zur Linken, den Eurypylos
zur Rechten hatte. Der Raum nach dem Meere hin verengerte sich, und auch die Agora nahm viel
Platz weg, so daß die dritte und vierte Reihe die wenigsten Schiffe enthielt. Das ganze Schiffslager
war wie eine ordentliche Stadt von vielen Gassen und Wegen durchschnitten, die Hauptstraßen aber
liefen zwischen den vier Reihen durch; vom Lande nach dem Meere gingen Quergassen, welche die
Schiffe jeder Völkerschaft voneinander trennten; die Schiffe selbst waren von den Lagerhütten ihrer
Völkerschaften wieder durch kleine Zwischenräume abgesondert, und jede Völkerschaft zerfiel
wieder in kleinere Unterabteilungen nach den verschiedenen Städten oder Anführern. Die
Lagerhütten waren aus Erde und Holz aufgebaut und mit Schilf bedeckt. Jeder Anführer hatte sein
Quartier in der vordersten Reihe seiner Schar, und ein jedes war nach dem Range des Bewohners
mehr oder weniger ausgeschmückt. Die Schiffe dienten zugleich dem ganzen Lager zur Verteidigung.
Noch vor ihnen hatten die Griechen einen Erdwall aufgeworfen, der erst in der letzten Zeit der
Belagerung einer Mauer Platz machte. Hinter ihm war ein Graben, vorn mit einer dichten Reihe von
Schanzpfählen versehen.
Zu allen diesen schönen Einrichtungen hatten die Griechen während der langen Zeit, da König und
Rat von Troja über die beste Weise der Verteidigung sich berieten, Muße gefunden. Ihre Krieger
verrichteten zugleich den Schiffsdienst und erhielten ihr Brot auf öffentliche Veranstaltung. Für die
übrigen Lebensbedürfnisse hatte ein jeder selbst zu sorgen. Die gemeinen Streiter waren leicht
bewaffnet und fochten zu Fuße. Die vornehmeren stritten auf Kriegswagen, so daß jeder streitende
Held einen andern als Wagenlenker bei sich hatte. Von Reiterei wußten die Völker jener alten Zeit
noch nichts. Die Streitwagen mit den größten Helden waren auch bestimmt, in der ersten Reihe zu
kämpfen, und sollten immer das Vordertreffen bilden.
Zwischen dem Schiffslager der Griechen und der Stadt Troja breitete sich, von den Flüssen
Skamander und Simois eingeschlossen, die sich erst beim griechischen Lager zu einer Mündung
vereinigten, die blumige Skamandrische Wiese und die Troische Ebene vier Wegestunden lang aus,
die zum Schlachtfelde bestimmt und wie geschaffen war und hinter welcher sich mit hohen Mauern,
Zinnen und Türmen die von Götterhand befestigte herrliche Stadt und Burg Troja erhob. Sie lag auf
einem Hügel weithin sichtbar; ihr Inneres war uneben und bergicht und von vielen Straßen
durchschnitten. Nur von zweien Seiten war sie leichter zugänglich, und hier befand sich auf der einen
Seite das Skäische, auf der andern das Dardanische Tor mit einem Turme. Die übrigen Seiten waren
höckricht und mit Gebüschen verwachsen, und ihre Tore und Törchen kamen wenig in Betracht. In
der oberen Stadt oder Burg Ilion, auch Pergamos genannt, standen die Paläste des Priamos, des
Paris, die Tempel der Hekate, der Athene und des Apollo, auf der höchsten Spitze der Burg ein
Tempel des Zeus. Vor der Stadt am Simois, den Griechen zur Linken, war der Hügel Kallikolone; zur
Rechten führte die Straße an den Quellen des Skamander und dann an dem hohen Hügel Batieia
vorbei, der umgangen werden konnte und außen vor der Stadt lag. Hinter Troja kam das Ilische Feld,
das sich schon bergan zog und die unterste Stufe des waldigen Idagebirges bildete, dessen höchster
Gipfel Gargaron hieß und dessen beide letzte Äste rechts und links von den Griechen das Sigeische
und Rhöteische Vorgebirge bildeten.
Noch ehe der Kampf zwischen beiden Völkern seinen Anfang nahm, wurden die Griechen durch die
Ankunft eines werten Gastes überrascht. Der König Telephos von Mysien, der sie so großmütig
unterstützt hatte, war seitdem an der Wunde, die ihm der Speer des Achill geschlagen, unheilbar
krank gelegen, und die Mittel, die ihm Podaleirios und Machaon aufgelegt hatten, taten schon lange
keine Wirkung mehr. Gequält von den unerträglichsten Schmerzen, hatte er ein Orakel des Phöbos
Apollo, das in seinem Lande war, befragen lassen, und dieses hatte ihm die Antwort erteilt, nur der
Speer, der ihn geschlagen, vermöge ihn zu heilen. So dunkel das Wort des Gottes lautete, so trieb ihn
doch die Verzweiflung, sich einschiffen zu lassen und der griechischen Flotte zu folgen. So kam denn
auch er bei der Mündung des Skamander an und ward in die Lagerhütte des Achill getragen. Der
Anblick des leidenden Königes erneuerte den Schmerz des jungen Helden. Betrübt brachte er seinen
Speer herbei und legte ihn dem Könige zu den Füßen seines Lagers, ohne Rat zu wissen, wie man sich
desselben zur Heilung der eiternden Wunde bedienen sollte. Viele Helden umstanden ratlos das Bett
des gepeinigten Wohltäters, bis es Odysseus einfiel, aufs neue die großen Ärzte des Heeres zu Rate
zu ziehen. Podaleirios und Machaon eilten auf seinen Ruf herbei. Sobald sie das Orakel Apollos
vernommen, verstanden sie als weise, vielerfahrene Söhne des Asklepios seinen Sinn, feilten ein
wenig Rost vom Speere des Peliden ab und legten ihn sorgfältig verbreitet über die Wunde. Da war
ein Wunder zu schauen: sowie die Feilspäne auf eine eiternde Stelle des Geschwüres gestreut
wurden, fing diese vor den Augen des Helden zu heilen an, und in wenigen Stunden war der edle
König Telephos dem Orakel zufolge durch den Speer des Achill von der Wunde desselben Speeres
genesen. Jetzt erst war die Freude der Helden über den großmütigen Empfang, der ihnen in Mysien
zuteil geworden war, vollkommen. Gesundet und froh ging Telephos wieder zu Schiffe, und wie
jüngst die Griechen ihn, so verließ jetzt er sie unter Danksagungen und Segenswünschen, in sein
Reich Mysien zurückkehrend. Er eilte aber, nicht Zeuge des Kampfes zu sein, den seine lieben
Gastfreunde gegen den ebenso geliebten Schwäher beginnen würden.
Zweites Buch
Ausbruch des Kampfes. Protesilaos. Kyknos
Die Griechen waren noch mit dem Geleite des Königes Telephos beschäftigst, als die Tore Trojas sich
auftaten und die völlig gerüstete Heeresmacht der Trojaner unter Hektors Anführung sich über die
Skamandrische Ebene ergoß und ohne Widerstand gegen die Schiffe der sorglosen Achiver anrückte.
Die Äußersten im Schiffslager, die zuerst zerstreut zu den Waffen griffen und den heranziehenden
Feinden entgegeneilten, wurden von der Übermacht erdrückt. Doch hielt das Gefecht mit ihnen die
Heerschar der Trojaner so lange auf, daß die Griechen im Lager sich sammeln und auch ihrerseits in
einem geordneten Heerhaufen den Feinden entgegentreten konnten. Da gestaltete sich nun die
Schlacht ganz ungleich. Denn wo Hektor selbst zugegen war, gewannen die Trojaner die Oberhand, in
die Schlachtreihen aber, die ferne von ihm fochten, drangen die Griechen siegreich ein. Der erste
namhafte Held unter den Griechen, der von der Hand des trojanischen Fürsten Äneas in dieser
Schlacht fiel, war Protesilaos, des Iphiklos Sohn. Als verlobter Jüngling war er gen Troja gezogen und
der erste Grieche, der bei der Landung ans Ufer sprang: so sollte er auch als das erste Heldenopfer
fallen, und seine Braut Laodameia, die holdselige Tochter des Argonauten Akastos, sollte den
Bräutigam, den sie mit banger Sorge in den Krieg hatte ziehen lassen, nicht wieder erblicken.
Noch war Achill vom Kampfplatz entfernt. Er hatte dem Mysier, den er einst mit dem Speere
verwundet und jetzt mit dem Speere geheilt hatte, das Geleite ans Meer gegeben und sah
nachdenklich dem Schiffe nach, das sich in die ferne Flut vertiefte. Da kam sein Freund und
Kampfgeselle Patroklos auf ihn zugeeilt, faßte ihn bei der Schulter und rief. »Wo weilst du, Freund?
Die Griechen bedürfen deiner. Der erste Kampf ist entbrannt: des Königes Priamos ältester Sohn
Hektor rast an der Spitze der feindlichen Scharen wie ein Löwe, dessen Höhle Jäger umstellt haben.
Äneas, der Eidam des Königes, hat aus der Mitte unserer Fürsten den edlen Protesilaos, der an
Jugend und Mut dir glich, doch an Kraft dir nicht gleich war, erschlagen. Wenn du nicht kommst, so
wird der Mord unter unsern Helden einreißen!« Aus seinen Träumen erwacht, blickte Achill hinter
sich, sah den mahnenden Freund, und in diesem Augenblicke drang auch der Hall des
Kampfgetümmels in sein Ohr. Da sprang er, ohne ein Wort zu erwidern, durch die Gassen des
Schiffslagers seinem Zelte zu. Hier erst fand er die Sprache wieder, rief mit lauter Stimme seine
Myrmidonen unter die Waffen und erschien mit ihnen wie ein donnerndes Wetter in der Schlacht.
Seinem stürmischen Angriffe hielt selbst Hektor nicht stand. Zwei Söhne des Priamos erschlug er, und
der Vater sah wehklagend von den Mauern herab den Tod seiner Kinder von des fürchterlichen
Heldenjünglings Hand. Dicht an der Seite des Peliden kämpfte der Telamonier Ajax, dessen Riesenleib
alle andern Danaer überragte; vor den Streichen der beiden Helden flohen die Trojaner wie eine
Herde von Hirschen vor einer Hundekoppel daher; zuletzt wurde die Flucht der Feinde allgemein, und
die Trojaner schlossen die Tore wieder hinter sich zu. Die Griechen aber begaben sich in Ruhe wieder
zu ihren Schiffen und fuhren in Vollendung ihres Lagerbaues gemächlich fort. Achill und Ajax wurden
von Agamemnon zu Wächtern der Schiffe bestimmt, und diese setzten wieder andere Helden zu
Wächtern über einzelne Abteilungen der Flotte.
Alsdann wandten sie sich zum Begräbnisse des Protesilaos, legten den Leichnam auf einen schön
geschmückten und aufgetürmten Scheiterhaufen und begruben seine Gebeine auf einer Halbinsel
des Strandes unter schönen hohen Ulmbäumen. Noch waren sie mit der Bestattung nicht ganz fertig,
als ein zweiter Überfall die sorglos Feiernden erschreckte.
In Kolonai bei Troja herrschte der König Kyknos, der, von einer Nymphe dem Meeresgotte Poseidon
geboren, auf der Insel Tenedos wunderbarerweise von einem Schwan großgezogen worden war,
daher er auch seinen Namen Kyknos, das heißt Schwan, bekommen hatte. Dieser war den Trojanern
verbündet, und ohne besonders dazu von Priamos aufgefordert zu sein, hielt er sich verpflichtet, als
er die Landung der fremden Kriegsvölker vor Troja gewahr wurde, seinen alten Freunden zu Hilfe zu
kommen. Daher sammelte er in seinem Königreiche einen ansehnlichen Heerhaufen, legte sich in der
Nähe des griechischen Schiffslagers in einen Hinterhalt und war mit seiner Schar eben erst in diesem
Versteck angekommen, als die Griechen, aus dem ersten Treffen mit den Trojanern als Sieger
zurückgekehrt, ihrem gefallenen Helden die letzte Ehre erwiesen. Während sie sorglos und nicht in
der vollen Waffenrüstung um den Scheiterhaufen geschart standen, sahen sie sich plötzlich von
Streitwagen und Bewaffneten umringt, und ehe sie sich nur besinnen konnten, ob der Boden die
Streiter ausgespien habe oder woher sie sonst erschienen seien, hatte Kyknos mit seiner
Heeresmacht ein furchtbares Blutbad unter den Griechen angerichtet.
Doch war nur ein Teil der Argiver bei der Leichenfeier des Protesilaos beschäftigt und zugegen. Die
andern bei den Schiffen und in den Lagerhütten waren ihren Waffen näher und eilten, den Peliden
Achill an der Spitze, den Ihrigen bald in voller Rüstung und in geschlossenen Kriegsreihen zu Hilfe. Ihr
Anführer selbst stand auf dem Streitwagen, schrecklich anzuschauen, und seine todbringende Lanze
traf mit ihrem Stoße bald diesen, bald jenen Kolonaier, bis er, in den Reihen der Schlacht nur den
Feldherrn der Fremdlinge suchend, diesen im fernen Kampfgewühle an den gewaltigen Stößen
erkannte, die er, auch auf einem hohen Streitwagen stehend, rechts und links an die Griechen
austeilte. Dorthin lenkte der Held Achill seine schneeweißen Rosse, und als er nun dem Kyknos
gegenüber auf dem Wagen stand, rief er, die bebende Lanze mit nervigem Arme schwingend: »Wer
du auch seiest Jüngling! nimm diesen Trost mit in den Tod, daß du von dem Sohne der Göttin Thetis
getroffen worden!« Diesem Ausruf folgte sein Geschoß. Aber so sicher er die Lanze abgezielt hatte,
so rüttelte sie dem Sohne des Poseidon doch nur mit dumpfem Stoße an der Brust; und mit
staunendem Blicke maß der Pelide seinen unverwundlichen Gegner. »Wundre dich nicht, Sohn der
Göttin«, rief dieser ihm lächelnd zu; »nicht mein Helm, den du anzustaunen scheinst, oder mein
hohler Schild in der Linken halten die Stöße von meinem Leibe ab; vielmehr trage ich diese
Schutzwaffe als bloßen Zierat, wie auch wohl der Kriegsgott Ares zuweilen zum Scherze Waffen
anzulegen pflegt, deren er doch gewiß nicht bedarf, seinen Götterleib zu schirmen. Wenn ich alle
Bedeckung von mir werfe, so wirst du mir doch die Haut mit deinem Speere nicht ritzen können.
Wisse, daß ich am ganzen Leibe fest wie Eisen bin und daß es etwas heißt, nicht etwa der Sohn einer
Meernymphe zu sein, nein der geliebte Sohn dessen, der den Nereus und seinen Töchtern und allen
Meeren gebeut. Erfahre, daß du dem Sohne Poseidons selbst gegenüberstehst!« Mit diesen Worten
schleuderte er seinen Speer auf den Peliden und durchbohrte damit die Wölbung seines Schildes, so
daß derselbe durch das Erz und die neun ersten Stierhäute der göttlichen Waffe hindurchdrang: erst
in der zehnten Lage blieb das Wurfgeschoß stecken. Achill aber schüttelte den Speer aus dem Schilde
und sandte dafür den seinigen gegen den Göttersohn ab. Aber der Leib des Feindes blieb
unverwundet. Selbst das dritte Geschoß, das der Pelide absandte, blieb ohne Wirkung. Jetzt geriet
Achill in Wut wie ein Stier im Tiergefechte, dem ein rotes Tuch vorgehalten wird und der mit den
Hörnern in die Luft gestoßen hat. Noch einmal warf er die Lanze aus Eschenholz nach Kyknos, traf
diesen auch wirklich an der linken Schulter und jubelte laut auf; denn die Schulter war blutig. Doch
seine Freude war vergeblich, das Blut war nicht das Blut des Göttersohnes, es war der Blutstrahl des
Menötes, eines neben Kyknos fechtenden und von anderer Hand getroffenen feindlichen Helden.
Knirschend vor Wut, sprang jetzt Achill vom Wagen, eilte auf den Gegner zu und hieb mit gezücktem
Schwerte auf ihn ein; aber selbst der Stahl prallte stumpf an dem zu Eisen gehärteten Körper ab. Da
erhub Achill in der Verzweiflung den zehnhäutigen Schild und zerschlug dem unverwüstlichen Feinde,
ganz auf ihn eingedrungen, drei‐, viermal die Schläfe mit der Schildbuckel. Jetzt erst fing Kyknos an zu
weichen, und Nebel schwamm ihm vor den Augen; er wandte seine Schritte rückwärts, strauchelte
über einen Stein, darüber ergriff ihn Achill mit der Hand im Nacken und warf ihn vollends zu Boden.
Dann stemmte er sich mit Schild und Knien auf die Brust des Liegenden und schnürte dem Feinde mit
seinem eigenen Helmbande die Kehle zu.
Der Fall ihres göttlichen Führers nahm den Kolonaiern plötzlich den Mut; sie verließen den
Kampfplatz in wilder Flucht, und bald war von dem ganzen Überfalle nichts mehr zu sehen als die
vielen Leichen von Griechen und Barbaren, die auf dem Felde um den halbvollendeten Grabhügel des
Protesilaos zerstreut umherlagen und den um viele der Ihrigen trauernden Argivern neue Arbeit
machten.
Die Folge dieses Überfalls war, daß die Griechen in die Landschaft des erschlagenen Königes Kyknos
einfielen und aus der Hauptstadt Mentora die Kinder desselben als Beute hinwegführten. Dann
griffen sie das benachbarte Killa an, eroberten auch diese feste Stadt mit unermeßlicher Kriegsbeute
und kehrten so beladen zu ihrem wohlbewachten Schiffslager zurück.
Palamedes und sein Tod
Der einsichtsvollste Mann im griechischen Heere war Palamedes, tätig, weise, gerecht und standhaft;
von zarter Gestalt, des Gesanges und Leierspiels kundig. Seine Beredsamkeit hatte den Atriden die
meisten Fürsten Griechenlands für den Feldzug gegen Troja gestimmt, seine Klugheit selbst den Sohn
des Laërtes überlistet. Dadurch hatte er sich aber auch einen unversöhnlichen Feind in dem Heere
der Danaer erworben, der Tag und Nacht auf Rache sann und nur um so finsterer darüber brütete, je
mehr das Ansehen des verständigen Euböers unter den Fürsten zunahm. Nun wurde den Griechen
durch ein Orakel Apollos bekannt, daß sie diesem Gott als Apollo Smintheus ‐ unter solchem Namen
wurde er in der Landschaft Troas verehrt ‐ eine Hekatombe an der Stelle opfern sollten, wo seine
Bildsäule und sein Tempel stand, und Palamedes war von dem Gotte auserwählt worden, die
stattlichen Opfertiere nach der heiligen Stätte zu führen. Dort wartete ihrer Chryses, der Priester des
Gottes, der das feierliche Opfer vollbrachte. Die Verehrung Apollos in dieser Landschaft hatte einen
seltsamen Ursprung. Als die alten Teukrer, aus Kreta herüber mit ihrem Könige Teucer kommend, an
dieser Küste Kleinasiens gelandet waren, gab ihnen das Orakel den Befehl, da zu bleiben, wo sie ihre
Feinde aus der Erde würden hervorkriechen sehen. Als sie nun in Hamaxitos, einer Stadt dieser
Landschaft, angekommen waren, benagten die Mäuse, aus der Erde hervorschlüpfend, in einer Nacht
alle ihre Schilde. Sie sahen auf diese Weise den Spruch des Gottes erfüllt, ließen sich in der Gegend
nieder und erbauten dem Apollo eine Bildsäule, der eine Maus, was in äolischer Mundart Smintha
bedeutet, zu Füßen lag.
Diesem Apollo Smintheus, der seinen Tempel nicht weit von Chryse auf einer Anhöhe stehen hatte,
ward nun unter Palamedes' Anführung von seinem Priester Chryses eine Hekatombe oder
Hundertzahl heiliger Schafe geopfert. Die Ehre, die dem Palamedes durch die Anordnung Apollos
selbst widerfuhr, beschleunigte seinen Untergang. Denn in Odysseus' sonst nicht unedlem Gemüte
gewann jetzt ganz der Neid die Oberhand, und er sann auf eine fluchwürdige List, durch welche er
dem edlen Manne den Untergang bereitete. Er verbarg eigenhändig in tiefster Heimlichkeit eine
Summe Geldes in dem Zelt des Palamedes. Dann schrieb er im Namen des Priamos einen Brief an
den griechischen Helden, in welchem dieser von überschicktem Gelde sprach und dem Palamedes
seinen Dank ausdrückte, daß derselbe ihm das Heer der Griechen verraten habe. Dieser Brief wurde
einem phrygischen Gefangenen in die Hände gespielt, bei demselben sodann von Odysseus entdeckt
und der unschuldige Träger auf seine Veranstaltung sofort auf der Stelle niedergemacht. Den Brief
zeigte Odysseus vor der Fürstenversammlung im griechischen Lager. Palamedes wurde von den
entrüsteten Häuptern der Danaer vor einen Kriegsrat gestellt, welchen Agamemnon aus den
vornehmsten Fürsten zusammensetzte und in welchem Odysseus sich den Vorsitz zu verschaffen
wußte; auf seine Veranlassung ward im Zelte des Beschuldigten geforscht, endlich nachgegraben und
so die Summe Goldes, die der trügerische Odysseus dort versteckt hatte, unter seiner Lagerstätte
aufgefunden. Die Richter, nichts vom wahren Vorgang der Sache ahnend, sprachen einstimmig das
Todesurteil aus. Palamedes würdigte sie keiner Selbstverteidigung: er durchschaute den Trug, aber er
hatte keine Hoffnung, Beweise seiner Unschuld sowie der Schuld seines Gegners vorzubringen. Als
daher das Urteil gefällt war, das auf Steinigung lautete, brach er nur in die Worte aus: »O ihr
Griechen, ihr tötet die gelehrteste, die unschuldigste, die gesangreichste Nachtigall!« Die
verblendeten Fürsten lachten über diese Verteidigung und führten den edelsten Mann im
griechischen Heere zum unbarmherzigsten Tode fort, den er mit heldenmütiger Standhaftigkeit
ertrug. Als ihn schon die ersten Steinwürfe niedergeschmettert hatten, brach er in die Worte aus:
»Freue dich, Wahrheit, du bist vor mir gestorben!« Als er diese Worte gesprochen, fuhr ihm, von
Odysseus' rachsüchtiger Hand geschleudert, ein Stein an die Schläfe, daß er umsank und starb. Aber
Nemesis, die Göttin der Gerechtigkeit, schaute vom Himmel herab und beschloß, den Griechen und
ihrem Verführer Odysseus noch am Ziel ihrer Taten den Frevel zu vergelten.
Taten des Achill und Ajax
Von den nächsten Kriegsjahren vor Troja erzählt die Sage nichts Ausführliches. Die Griechen lagen
nicht untätig vor Troja, da aber die Bewohner dieser Stadt ihre Kräfte schonten und selten Ausfälle
machten, so wandten die Danaer ihre Macht gegen die Umgegend. Achill zerstörte und plünderte
allmählich zwölf Städte mit seiner Flotte, elf nahm er zu Lande ein. Dem Priester Chryses führte er
auf einem Streifzuge nach Mysien seine schöne Tochter Astynome oder Chrysëis gefangen fort. Bei
der Einnahme von Lyrnessos überfiel er den Palast des Königes oder Priesters Brises, der in der
Verzweiflung den Strick um den Hals schlang und sich den Tod gab. Sein holdseliges Kind Brisëis oder
Hippodameia wurde dem Sieger zuteil, und er führte sie als eine Liebslingsbeute ins griechische Lager
mit sich davon. Auch die Insel Lesbos und die Stadt Theben in Kilikien, am Fuße des Berges Plakos
gegründet, unterlagen seinen Angriffen. In der letztern Stadt herrschte der Eidam des Königes
Priamos, der König Eëtion, dessen Tochter Andromache mit dem tapfersten Helden Trojas, mit
Hektor, vermählt war. Sieben blühende Söhne wuchsen noch in seinem Königshause. Da kam Achill,
stürmte die hochragenden Tore der Stadt und erschlug den König mit den sieben Söhnen. Als der
Leichnam des hohen Fürsten, der von herrlicher, Ehrfurcht gebietender Gestalt war, vor dem jungen
Helden ausgestreckt lag, bemächtigte sich desselben ein Grauen und eine Scheu, und er wagte es
nicht, den Liegenden der Waffen zu berauben und sich dieselben als rühmliche Siegesbeute
anzueignen. Er verbrannte daher den Leichnam zur ehrlichen Bestattung im vollen, kunstreich
gearbeiteten Waffengeschmeide und türmte ihm ein mächtiges Denkmal auf, das noch lange, von
hohen Ulmen umschattet, die Gegend schmückte. Die Gemahlin des Königes, die Mutter
Andromaches, führte er mit sich fort in die Sklaverei; doch gab er sie später gegen ein reiches
Lösegeld frei, und sie kehrte nach der Heimat zurück, wo ein Pfeil der Göttin Artemis sie am
Webstuhl traf und tötete. Aus dem Stalle des Königes führte Achill sein treffliches Pferd, Pedasos
genannt, mit sich fort, das, obwohl sterblich gezeugt, es doch an Kraft und Schnelligkeit seinen
eigenen unsterblichen Rossen gleichtat und mit ihnen um die Wette am Wagen einherlief; aus der
Rüstkammer des Königes Eëtion aber nahm er viel andere Herrlichkeiten mit, unter andern auch eine
ungeheure eiserne Wurfscheibe, so groß, daß sie einem Bauer fünf Jahre lang Eisen zu seinem
Ackergeräte würde gegeben haben.
Nächst Achill war der tapferste und riesigste Held unter den Griechen der Telamonsohn Ajax. Auch er
feierte nicht. Er führte seinen Schiffszug nach der thrakischen Halbinsel, wo die Königsburg
Polymnestors prangte. Diesem hatte der König Priamos von Troja seinen jüngsten Sohn Polydoros,
den er mit der Laothoë, einem Kebsweibe, gezeugt hatte, zur Pflege übersandt und dadurch seinen
Liebling dem Waffendienst entzogen, auch dem thrakischen Könige zur Beköstigung des Kindes Gold
und Kostbarkeiten genug übergeben. Dieser Schätze und des ihm anvertrauten Unterpfandes
bediente sich nun der treulose Barbar, als sein Land von dem Helden Ajax überfallen und seine Burg
belagert wurde, den Frieden zu erkaufen; er verleugnete seine Freundschaft mit dem Könige
Priamos, verfluchte ihn, teilte Geld und Getreide, das er zur Nahrung des Knaben von ihm
empfangen, unter die griechischen Streiter aus; dem Ajax selbst aber überlieferte er das Gold und
alle Kostbarkeiten seines Verbündeten und endlich den Knaben Polydoros selbst.
Ajax kehrte mit seiner Beute nicht sogleich zum griechischen Schiffslager zurück, sondern wandte
sich auf seinen Schiffen nach der phrygischen Küste. Dort griff er das Reich des Königes Teuthras an,
tötete den König, der ihm an der Spitze eines Heerhaufens entgegenzog, in der Schlacht und
schleppte die Tochter des Teuthras, die königliche Jungfrau Tekmessa, die edelgesinnt und von
herrlicher Gestalt war, als Kriegsbeute mit sich fort. Doch ward sie ihm bald wegen ihrer Schönheit
und ihres Edelsinnes lieb; er hielt sie hoch wie eine Gemahlin und hätte sich feierlich mit ihr
vermählt, wenn es Griechengebrauch gewesen wäre, eine Barbarin zu freien.
Achill und der Telamonier trafen von ihren glücklichen Streifzügen, ihre Lastschiffe voll Beute, zu
gleicher Zeit im griechischen Schiffslager vor Troja wieder ein. Alle Danaer gingen ihnen unter
Lobgesängen entgegen; bald umringte sie eine ganze Versammlung von Streitern; man stellte die
Helden in die Mitte, und unter jubelndem Zuruf wurde ihnen als Lohn der Siege ein Olivenkranz aufs
Haupt gesetzt. Alsdann hielten die Helden einen Rat, um über die mitgebrachte Beute, die von den
Griechen als Gemeingut angesehen wurde, einen Beschluß zu fassen. Da wurden denn auch die
gefangenen Frauen vorgeführt, und alle Danaer staunten über ihre Schönheit. Das Anrecht auf die
holde Brisestochter wurde dem Achill, dem Helden Ajax der Besitz der königlichen Tekmessa
bestätigt. Überdies durfte der Pelide auch die Gespielin seiner Geliebten, die holde Jungfrau
Diomedea, behalten, welche sich von der Königstochter nicht trennen wollte, mit der sie von zarter
Kindheit an im Hause des Brises aufgewachsen war; sie hatte sich, vor die griechischen Helden
geführt, zu Achills Füßen geworfen und flehte ihn unter Tränen an, sie nicht von ihrer lieben Herrin
trennen zu lassen. Nur Astynome, die Tochter des Priesters Chryses, wurde dem Völkerhirten
Agamemnon, seine Königswürde zu ehren, zugesprochen und von Achill auch willig abgetreten. Die
andre Kriegsbeute an Gefangenen und Mundvorrat ward Mann für Mann unter das griechische Heer
verteilt.