Читать книгу Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Zweiter Teil - Gustav Schwab - Страница 7

Kapitel 4

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Indessen zogen die Danaer Haufen an Haufen rastlos in die Schlacht, wie sich Meereswogen ans

Gestade wälzen. Die Völkerfürsten befehligten, die andern gingen lautlos einher. Die Trojaner

dagegen lärmten, wie eine Herde Lämmer blökt, und gemischte Sprache der mancherlei Völker tönte

aus ihren Reihen. Auch der Schlachtruf der Götter hallte darein: die Trojaner ermunterte Ares, der

Gott des Krieges; die Reihen der Griechen feuerte Pallas Athene an.

Die Schlacht. Diomedes

Bald begegneten sich die Heere in einem Raum; Schild traf auf Schild, Speer kreuzte sich mit Speer,

und lautes Getöse, hier Wehklagen, dort Frohlocken, erhob sich ringsum. Wie sich im Spätling zwei

geschwollene Bergströme im Hinabsturz vermischen, so vermählte sich das Geschrei der kämpfenden

Heere. Der erste Held, welcher fiel, war der Trojaner Echepolos, der sich zu weit in den Vorkampf

gewagt hatte. Diesem durchbohrte Nestors Sohn Antilochos mit der Lanzenspitze die Stirne, daß er

umsank wie ein Turm. Schnell ergriff Elephenor, der griechische Fürst, den Fuß des Gefallenen, um

ihn den Geschossen zu entziehen und der Rüstung zu berauben. Aber wie er sich bückte, ihn zu

schleifen, entblößte er sich die Seite unter dem Schild; dies sah Agenor, der Trojaner, und

durchbohrte ihm die Seite mit dem zuckenden Speer, daß der Grieche tot in den Staub sank. Über

ihm tobte der Kampf beider Heere fort, und wie Wölfe erwürgten sie einander.

Ajax traf den blühenden Simoeisios im Vorwärtsdringen rechts über der Brust, daß ihm der Speer zur

Schulter herausfuhr und er in den Staub hintaumelte; dann stürzte er sich auf ihn und beraubte ihn

der Rüstung; gegen ihn warf der Trojaner Antiphos die Lanze; diese verfehlte ihn zwar, traf aber

Leukos, den tapfern Freund des Odysseus, wie er eben den Toten hinwegschleifte. Das schmerzte

den Odysseus, und vorsichtig umschauend, schleuderte er seinen Wurfspieß ab, vor dem die Trojaner

zurückprallten; und er traf einen Sohn des Königes Priamos, den Bastard Demokoon, so daß die

Spitze von einer Schläfe zur andern durchdrang. Als dieser in dumpfem Falle hinstürzte, wichen die

vordersten Kämpfer der Trojaner rückwärts und selbst Hektor mit ihnen. Die Griechen aber jauchzten

laut auf, schoben die Leichname beiseite und drangen tiefer in die Schlachtreihen der Trojaner ein.

Darüber erzürnte Apollo und ermunterte die Trojaner von der Stadt aus, indem er ihnen zurief.

»Räumet doch den Argivern das Feld nicht! Ist doch ihr Leib weder von Stein noch von Eisen, und ihr

bester Held Achill kämpft nicht einmal, sondern grollt bei den Schiffen.« Auf der andern Seite trieb

Athene die Danaer in den Kampf, und so fielen von beiden Teilen noch viele Helden.

Da rüstete Pallas den Sohn des Tydeus, Diomedes, mit besonderer Kraft und Kühnheit aus, daß er vor

allem Danaervolk hervorstrahlte und sich unsterblichen Ruhm gewann. Helm und Schild machte sie

ihm glänzend wie ein Gestirn der Herbstnacht und trieb ihn hinein ins wildeste Getümmel der Feinde.

Nun befand sich unter den Trojanern ein Priester des Hephaistos, mit Namen Dares, ein mächtiger,

reicher Mann, der zwei Söhne, Phegeus und Idaios, mutige Männer, in die Schlacht gesendet hatte.

Diese sprengten aus den Reihen der Ihrigen auf Diomedes hervor mit ihren Streitwagen, während der

griechische Held zu Fuße kämpfte. Zuerst sandte Phegeus seine Lanze ab; sie fuhr aber links an der

Schulter des Tydiden vorbei, ohne ihn zu verwunden. Des Diomedes Wurfspieß dagegen traf den

Phegeus in die Brust und stürzte ihn vom Wagen. Als sein Bruder Idaios dieses sah, wagte er es nicht,

den Leichnam seines Bruders zu schirmen, sondern sprang vom Wagen und entfloh, indem der

Beschirmer seines Vaters, Hephaistos, Finsternis um ihn her verbreitete; denn dieser wollte nicht,

daß sein Priester beide Söhne verlöre.

Jetzt nahm Athene ihren Bruder, den Kriegsgott Ares, bei der Hand und sprach zu ihm: »Bruder,

wollen wir nicht Troer und Griechen jetzt sich selbst überlassen und eine Weile zusehen, welchem

Volke die Fürsehung unsers Vaters den Sieg zuwende?« Ares ließ sich von der Schwester aus der

Schlacht hinausführen, und so waren die Sterblichen sich selbst überlassen; doch wußte Athene

wohl, daß ihr Liebling Diomedes mit ihrer Kraft ausgerüstet streite. Nun fingen die Argiver an, den

Feind erst recht hart zu bedrängen, und vor jedem griechischen Führer sank ein Trojaner dahin.

Agamemnon jagte dem Hodios den Speer ins Schulterblatt; Idomeneus durchstach den Phaistos aus

Tarne, daß er dem Wagen entstürzte; der kundige Jäger Skamandrios wurde von der spitzen Lanze

des Menelaos durchbohrt; den kunstvollen Phereklos, der dem Paris die räuberischen Schiffe

gezimmert hatte, traf Meriones; und andere fielen von anderer Hand. Der Tydide aber durchtobte

das Feld wie ein angeschwollener Herbststrom, und man wußte nicht, gehörte er den Griechen oder

den Trojanern an, denn bald war er da, bald dort. Wie nun der Kampf ihn so hin und her trieb, faßte

Lykaons Sohn, Pandaros, sich ihn ins Auge, richtete seinen Bogen auf ihn und schoß ihm mit dem

Pfeil gerade in die Schulter hinein, so daß sein Blut über den Panzer hinabströmte. Pandaros, solches

sehend, jauchzte und rief hinterwärts zu seinen Genossen: »Drängt euch heran, ihr Trojaner, spornt

eure Rosse! Ich habe den tapfersten Danaer getroffen! Bald wird er umsinken und ausgewütet

haben, wenn anders mich Apollo aus Lykien zum Kampfe selbst herbeigerufen hat!« Doch den

Diomedes hatte das Geschoß nicht tödlich verwundet; er stellte sich vor seinen Streitwagen und rief

seinem Freund und Wagenlenker Sthenelos zu: »Steige doch vom Wagen, mein Geliebter, und zeuch

mir den Pfeil aus der Schulter!« Sthenelos sprang eilig herab und tat also: das helle Blut spritzte dabei

aus den Panzerringen. Da betete Diomedes zu Athene: »Blauäugige Tochter des Zeus! Wenn du je

schon meinen Vater beschirmt hast, so sei auch mir jetzt gnädig! Lenke meinen Speer auf den Mann,

der mich verwundet hat und jetzt frohlockt, auf daß er nicht lange mehr das Licht der Sonne

schaue!« Athene hörte sein Flehen und beseelte ihm Arme und Füße, daß sie leicht wurden wie der

Leib eines Vogels und er, unbeschwert von seiner Wunde, in die Schlacht zurückeilen konnte. »Geh«,

sprach sie zu ihm, »ich habe auch die Finsternis von deinen Augen genommen, daß du Sterbliche und

Götter in der Schlacht unterscheiden kannst; hüte dich darum, wenn ein Unsterblicher auf dich

zugewandelt kommt, dich mit solchem in einen Kampf einzulassen! Nur Aphrodite, wenn sie dir naht,

magst du mit deinem Speere verwunden!«

Nun flog Diomedes in das vorderste Treffen zurück, mit dreifachem Mut und mit Kraft wie ein

Berglöwe ausgerüstet. Hier hieb er den Astynoos durch einen Streich ins Schultergelenke nieder; dort

durchbohrte er den Hypeiron mit der Lanze; dann erlegte er zwei Söhne des Eurydamas, dann zwei

spätgeborne Söhne des Phainops, daß dem Vater nur der Gram zurückblieb; dann warf er zwei Söhne

des Priamos, den Chromios und Echemmon zugleich aus dem Wagen mit Gewalt und beraubte sie

der Rüstung, indes die Seinigen den erbeuteten Streitwagen nach den Schiffen abführten.

Äneas, der tapfere Eidam des Königes Priamos, sah, wie dünn die Reihen der Trojaner unter den

Streichen und Stößen des Tydiden wurden. Deswegen eilte er durch die stürmenden Geschosse hin,

bis er den Pandaros traf, den er so anredete: »Sohn Lykaons, wo bleibt dein Bogen und Pfeil, wo dein

Ruhm, den bisher kein Lykier, kein Trojaner dir streitig machte? Sende doch dem Manne, der den

Troern so viel Böses tut, noch ein Geschoß zu, wenn er nicht anders ein unsterblicher Gott in

menschlicher Gestalt ist!« Ihm antwortete Pandaros: »Wenn es nicht ein Gott ist, so ist's der Tydide

Diomedes, den ich erschossen zu haben glaubte. Ist er es aber, so hat sich ein Unsterblicher seiner

erbarmt und steht ihm auch jetzt noch zur Seite! Dann bin ich wohl ein unglücklicher Kämpfer! Schon

gegen zween griechische Heerfürsten sandte ich den Pfeil ab, verwundete beide, ohne sie zu töten,

und habe sie nur wütender gemacht! Wahrhaftig, zur Unglücksstunde habe ich Köcher und Bogen

genommen und bin damit vor Troja gezogen! Kehre ich je wieder heim, so soll mir ein Fremdling das

Haupt abschlagen, wenn ich nicht Bogen und Pfeile mit den Händen zerknicke und diesen nichtigen

Tand, der mich begleitet hat, ins lodernde Feuer werfe!«

»Nicht also!« sprach, ihn beruhigend, Äneas. »Besteige vielmehr meinen Streitwagen und lerne die

Gewandtheit der trojanischen Pferde im Verfolgen und Entfliehen kennen. Verleiht Zeus dem

Diomedes durchaus die Siegesehre, so werden sie uns sicher nach Troja hineintragen. Ich selbst will

indessen zu Fuße des Kampfes warten.« Aber Pandaros bat ihn, die Rosse selbst lenken zu wollen, da

er dieses Werkes nicht kundig sei, schwang sich zu ihm auf den Wagen, und so sprengten sie mit den

hurtigen Tieren auf den Tydiden zu. Sein Freund Sthenelos sah sie herankommen, rief den Genossen

an und sprach: »Sieh da, zwei tapfere Männer, die auf dich losstürmen, Pandaros und der Halbgott

Äneas, Aphroditens Sohn! Diesmal laß uns zu Wagen entfliehen; dein Wüten dürfte dir nichts nützen

gegen diese!«

Aber Diomedes blickte finster und erwiderte ihm: »Sage mir nichts von Furcht! Es liegt nicht in

meiner Art, vor einem Kampfe zurückzubeben oder mich zu schmiegen. Meine Kraft ist noch nicht

erschöpft; es verdrösse mich, untätig im Wagen stehen zu müssen. Nein, wie ich hier zu Fuße bin, will

ich ihnen entgegenwandeln. Gelingt es mir, sie beide zu töten, so hemme du unsre Pferde, den Zaum

am Sesselrand befestigend, und führe mir die Rosse des Äneas als Beute zu den Schiffen!« Indem flog

die Lanze des Pandaros dem Tydiden entgegen, durchfuhr den Schild und prallte vom Panzer ab.

»Nicht getroffen, gefehlt!« rief Diomedes dem jauchzenden Trojaner entgegen, und sein die Luft im

Bogen durchsausender Speer fuhr dem Gegner unter dem Auge in den Kiefer, durch die Zähne und

Zunge hindurch, daß die Spitze am Unterkinn wieder herauskam. Pandaros stürzte rasselnd vom

Wagen und zuckte sterbend in der glänzenden Rüstung auf dem Boden. Seine Rosse rannten flüchtig

auf die Seite; Äneas aber sprang herab und umwandelte den Leichnam wie ein trotziger Löwe, Schild

und Speer vorstreckend und jeden zu erschlagen bereit, der ihn antasten würde. Jetzt ergriff

Diomedes einen Feldstein, wie ihn zwei gewöhnliche Männer nicht aufheben konnten. Mit diesem

traf er den Sohn des Anchises am Hüftgelenk, zermalmte dieses und zerriß ihm die Sehnen, daß der

Held, die Rechte gegen den Boden stemmend, ins Knie sank und ihm die Sinne vergingen; und er

wäre gestorben, wenn nicht Aphrodite ihren trauten Sohn mit den Lilienarmen umschlungen, ihn mit

den Falten ihres silberhellen Gewandes umhüllt und aus der Schlacht getragen hätte. Sthenelos hatte

inzwischen Wagen und Rosse des Äneas, dem Befehle seines Freundes folgsam, zu den Schiffen

geführt und war auf dem eigenen Wagen bald wieder an der Seite des Tydiden angekommen. Dieser

hatte mit seinen von Athene geöffneten Augen die Göttin Aphrodite erkannt, durch das

Schlachtgetümmel verfolgt und mit ihrer Beute erreicht. Der Held stieß mit der Lanze nach ihr, und

sein Speer drang durch die ambrosische Haut in die Handwurzel, daß ihr unsterbliches Blut zu rinnen

begann. Die verwundete Göttin schrie laut auf und ließ den Sohn zur Erde sinken. Dann eilte sie

ihrem Bruder Ares zu, den sie zur Linken der Schlacht, Wagen und Rosse in Nacht gehüllt, sitzen fand.

»O Bruder«, rief sie flehend, »schaff mich weg, gib mir die Rosse, daß ich zum Olymp entkomme;

mich schmerzt meine Wunde; Diomedes, der Sterbliche, hat mich verwundet: er wäre imstande,

selbst mit unserem Vater Zeus zu kämpfen.« Ares überließ ihr den Wagen, und Aphrodite, auf der

Höhe des Olymps angekommen, warf sich weinend in die Arme ihrer Mutter Dione und wurde von

ihr unter schmeichelnden Trostworten vor den Göttervater geleitet, der sie lächelnd empfing und ihr

entgegenrief: »Drum wurden dir nicht die Werke des Krieges verliehen, mein liebes Töchterchen;

ordne du Hochzeiten und laß die Schlachten den Kriegsgott besorgen!« Ihre Schwester Pallas und

Hera aber sahen sie spöttisch von der Seite an und sprachen stichelnd: »Was wird es sein?

Wahrscheinlich hat die schöne falsche Griechin unsere Schwester nach Troja gelockt, da wird sie

Helenas Gewand gestreichelt und sich mit einer Spange geritzt haben!«.

Drunten auf dem Schlachtfeld hatte sich Diomedes auf den liegenden Äneas geworfen und holte

dreimal aus, ihm den Todesstreich zu versetzen; aber dreimal hielt der zornige Gott Apollo, der nach

der Schwester Verwundung herbeigeeilt war, ihm den Schild vor; und als jener das viertemal

anstürmte, drohte er ihm mit schrecklicher Stimme: »Sterblicher, wage nicht, mit den Göttern dich

zu messen!« Scheu und mit zauderndem Schritt entwich Diomedes. Apollo aber trug den Äneas aus

dem Schlachtgewühl in seinen Tempel nach Troja, wo Leto, seine Mutter, und Artemis, seine

Schwester, ihn in ihre Pflege nahmen. Auf dem Boden, wo der Held gelegen, schuf er sein Scheinbild,

um das sich nun Trojaner und Griechen mit wilden Schlägen und Stößen zankten. Dann ermahnte

Apollo den Ares, daß er den frechen Tydiden, der die Götter selbst bekämpfe, aus der Schlacht zu

entfernen strebe. Und der Kriegsgott, in der Gestalt des Thrakiers Akamas, mischte sich im

Getümmel unter die Söhne des Priamos und schalt sie: »Wie lange gönnet ihr den Griechen das

Morden, ihr Fürsten? Wollt ihr warten, bis um die Tore eurer Stadt selbst gekämpft wird? Wißt ihr

nicht, daß Äneas auf dem Boden liegt? Auf und retten wir den edlen Genossen aus der Hand der

Feinde!« So erregte Ares die Herzen der Trojaner. Sarpedon, der Fürst der Lykier, näherte sich dem

Hektor und sprach zu ihm: »Hektor, wohin ist dir dein Mut geschwunden? Rühmtest du dich doch

jüngst, selbst ohne Verbündete, ohne Heeresmacht, mit deinen leiblichen Brüdern und Schwägern

allein wolltest du Troja schirmen; nun aber sehe ich ihrer keinen in der Schlacht, sie schmiegen sich

alle wie die Hunde vor dem Löwen, und wir Bundesgenossen allein müssen den Kampf

aufrechterhalten!« Hektor fühlte den Vorwurf tief im Herzen, er sprang vom Wagen, schwenkte die

Lanze, durchwandelte ermahnend alle Heldengeschwader und erweckte den tobenden Streit aufs

neue. Seine Brüder und alle Trojaner kehrten die Stirne dem Feinde wieder zu. Auch den Äneas, mit

Gesundheit und Kraft erfüllt, sandte Apollo wieder in den Kampf, daß er sich plötzlich unverletzt den

Seinigen wieder zugesellte. Alle freuten sich, aber keiner nahm sich Zeit, ihn zu fragen; sie stürzten

nur miteinander in die Schlacht.

Aber die Danaer, Diomedes, die beiden Ajax und Odysseus an der Spitze, erwarteten ruhig die

Heranstürmenden wie ein unbewegliches Gewölk; und Agamemnon durcheilte die Heerschar und

rief: »Jetzt seid Männer, o ihr Freunde, und ehret euch selbst in der Schlacht; denn wo ein Volk sich

selbst ehrt, da stehen mehr Männer als fallen; aber für den Fliehenden gibt es keinen Ruhm und

keine Rettung!« So rief er, schickte zuerst den Speer gegen die heranrückenden Trojaner ab und

streckte den Freund des Äneas, den hochgeehrten Deïkoon, der immer im Vorderkampfe stritt,

nieder. Aber auch die gewaltige Hand des Äneas tötete zwei der tapfersten Danaer, Krethon und

Orsilochos, Söhne des Diokles, die zu Pherai im Peloponnes wie zwei freudige Berglöwen zusammen

aufgewachsen waren. Um die Gefallenen trauerte Menelaos, schwenkte den Speer und warf sich

rasch in das vorderste Gewühl. Ares selbst spornte sein Herz, denn er hoffte, daß ihn Äneas fällen

werde. Aber Antilochos, Nestors Sohn, um den Völkerhirten besorgt, stürzte gleichfalls hervor an

seine Seite, während jene beiden schon voll Kampfgier ihre Lanzen gegeneinander gezückt hatten.

Als Äneas zwei Helden sich gegenübersah, wich er zurück; Menelaos und Antilochos retteten die

beiden Leichen aus den Händen der Feinde und übergaben sie den Freunden; sie selbst wandten sich

dem Vorkampfe wieder zu. Menelaos durchstach den Pylaimenes, Antilochos hieb seinem

Wagenlenker Mydon das Schwert in die Schläfe, daß er auf den Scheitel gestellt in den Staub stürzte,

bis ihn seine eigenen Rosse umwarfen, die Antilochos mit der Geißel den Griechen zutrieb.

Jetzt aber jagte Hektor mit den tapfersten Heerscharen der Trojaner voran, und der Kriegsgott selbst

wandelte bald vor, bald hinter ihm her. Als Diomedes den Gott kommen sah, stutzte der Held, wie

ein Wanderer vor einem brausenden Wasserfalle staunt, und rief dem Volke zu: »Staunet nicht über

die Unerschrockenheit Hektors, ihr Freunde, denn immer geht ein Gott neben ihm her und wehrt das

Verderben von ihm ab. Darum, wenn wir weichen, so weichen wir den Göttern!« Indessen stürmten

die Schlachtreihen der Trojaner immer näher heran, und Hektor erschlug zwei tapfere Griechen auf

einem Streitwagen, den Anchialos und Menesthes. Ajax, der Telamonier, eilte herbei, sie zu rächen;

er traf mit der Lanze den Amphios, einen Verbündeten der Trojaner, unter dem Gurte, daß er in

dumpfem Falle zu Boden stürzte; dann stemmte er den Fuß auf den Leichnam und zog die Lanze

heraus; ein Hagel von Speeren hinderte ihn, den Gefallenen der Rüstung zu berauben.

Auf einer andern Seite trieb ein böses Verhängnis den Herakliden Tlepolemos auf den Lykier

Sarpedon zu, dem er schon von weitem zurief. »Was nötigt dich, hier in Angst zu vergehen,

weibischer Asiate, der du dich fälschlich rühmst, ein Zeussohn zu sein wie mein Vater Herakles! Du

bist feige, und selbst wenn du ein Tapferer wärest, so solltest du jetzt dem Hades nicht entgehen!«

»Habe ich mir noch keinen Ruhm erworben«, entgegnete ihm Sarpedon, »so soll dein Tod mir ihn

verschaffen!« Und nun kreuzten sich die Lanzen beider Helden; der Wurfspieß des Sarpedon traf den

prahlerischen Gegner gerade in den Hals, daß die Spitze hinten hervordrang und er entseelt zur Erde

stürzte. Aber auch des Tlepolemos Speer hatte den linken Schenkel Sarpedons bis auf die Knochen

durchbohrt, und nur sein Vater Zeus hemmte den Tod. Die Freunde führten den Bebenden aus dem

Kampfe, so hastig, daß keiner bemerkte, wie er die aus dem Schenkel hervorragende Lanze noch

nachschleppte. Auch die Leiche des Tlepolemos trugen die Griechen aus dem Kampfe zurück.

Während Odysseus in der führerlosen Schar der Lykier wütete und schon ganz nahe an dem

flüchtenden Sarpedon war, erfreute diesen der Anblick des herannahenden Hektor, und er rief ihm

mit schwacher Stimme zu: »Priamos' Sohn, laß mich nicht den Achivern zum Raube daliegen;

verteidige mich, daß ich mein Leben ruhig in dieser Stadt aushauchen mag, wenn ich doch das Land

der Väter, mein Weib und mein Söhnlein nicht mehr sehen soll!« Ohne ein Wort zu erwidern,

drängte Hektor die verfolgenden Griechen zurück, so daß selbst Odysseus nicht wagte, weiter

vorzudringen. Nun legten den Sarpedon seine Freunde unweit vom Skäischen Tore unter der hohen

Buche nieder, die seinem Vater Zeus heilig war, und sein Jugendgenosse Pelagon zog ihm den Speer

aus dem Schenkel. Einen Augenblick verließ den Verwundeten die Besinnung, doch atmete er bald

wieder auf, und ein kühler Nordwind wehte seinen matten Lebensgeistern Erfrischung zu.

Ares und Hektor bedrängten jetzt die Griechen, daß sie allmählich rückwärts wichen zu ihren

Schiffen. Sechs herrliche Helden fielen allein von Hektors Hand. Mit Schrecken überblickte vom

Olymp herab Hera, die Göttermutter, das Gemetzel, das die Trojaner unter dem Beistande des Ares

anrichteten. Auf ihren Antrieb ward Athenes Wagen mit den ehernen, goldumfaßten Rädern, der

silbernen Deichsel und dem goldenen Joche gerüstet, in welches Hera selbst ihr schnellfüßiges

Rossegespann fügte; Athene aber hüllte sich in ihres Vaters Panzer, bedeckte das Haupt mit dem

goldenen Helm, ergriff den Schild mit dem Gorgonenhaupte, faßte den Speer und schwang sich auf

den silbernen Sessel, der in goldenen Riemen hing. Neben ihr sitzend, schwenkte Hera die Geißel und

beflügelte die Rosse. Des Himmels Tor, das die Horen hüteten, krachte von selbst auf, und die

riesigen Göttinnen fuhren an den Zacken des Olymp vorüber. Auf der höchsten Kuppe saß Zeus, und

ihr Gespann einen Augenblick zügelnd, rief ihm Hera, seine Gemahlin, zu: »Zürnst du denn gar nicht,

Vater, daß dein Sohn Ares das herrliche Volk der Griechen wider das Geschick verdirbt? Siehst du,

wie sich Aphrodite und Apollo freuen, die den Wüterich gereizt haben? Nun wirst du mir doch

erlauben, daß ich dem Frechen einen Streich versetze, der ihn aus dem Kampfe hinausstößt!«

»Immerhin soll es dir gestattet sein«, rief ihr Zeus von seinem Sitze zu, »sende nur frisch meine

Tochter Athene gegen ihn, die am bittersten zu kämpfen versteht.« Nun flog der Wagen zwischen

dem Sternengewölbe und der Erde dahin, bis er sich am Zusammenflusse des Simois und Skamander

mitsamt den Rossen auf den Boden niederließ.

Die Göttinnen eilten sofort in die Männerschlacht, wo die Krieger wie Löwen und Eber um den

Tydiden gedrängt standen. Zu ihnen gesellte sich Hera in Stentors Gestalt und rief mit der ehernen

Stimme dieses Helden: »Schämet euch, ihr Argiver! Seid ihr nur furchtbar, solange Achill an eurer

Seite ficht? Der sitzt nun bei den Schiffen, und ihr vermöget nichts!« Mit diesem Ruf erregte sie den

wankenden Mut der Danaer. Athene aber bahnte sich den Weg zu Diomedes selbst. Sie fand diesen

an seinem Wagen stehend und die Wunde abkühlend, die ihm der Pfeil des Pandaros gebohrt hatte.

Der Druck des breiten Schildgehenkes und der Schweiß peinigten ihn, und seine Hand fühlte sich

kraftlos; mit Mühe lüftete er den Riemen und trocknete sich das Blut. Nun faßte die Göttin Athene

das Joch der Rosse, stützte ihren Arm darauf und sprach zu dem Helden gekehrt: »In Wahrheit, der

Sohn des mutigen Tydeus gleicht seinem Vater nicht sonderlich; dieser zwar war nur klein von

Gestalt, aber doch ein immer rüstiger Kämpfer; schlug er sich doch vor Theben einmal ganz wider

meinen Willen, und doch konnte ich ihm meinen Beistand nicht versagen. Auch hättest du dich

meiner Obhut und meiner Hilfe zu erfreuen; aber ich weiß nicht, was es ist ‐ starren dir deine Glieder

von der Arbeit oder lähmt dich die sinnberaubende Furcht: genug, du scheinst mir nicht der Sohn des

feurigen Tydeus zu sein!« Diomedes blickte bei diesen Reden der Göttin auf, staunte ihr ins Gesicht

und sprach: »Wohl erkenne ich dich, Tochter des Zeus, und will dir die Wahrheit unverhohlen sagen.

Weder Furcht noch Trägheit lähmen mich, sondern der gewaltigsten Götter einer. Du selbst hast mir

das Auge aufgetan, daß ich ihn erkenne. Es ist Ares, der Gott des Krieges, den ich im Treffen der

Trojaner walten sah; sieh hier die Ursache, warum ich selbst zurückwich und auch dem übrigen

Griechenvolke gebot, sich hier um mich zu sammeln!« Darauf antwortete ihm Athene: »Diomedes,

mein auserwählter Freund! Hinfort sollst du weder den Ares noch einen andern der Unsterblichen

fürchten; ich selbst will deine Helferin sein. Lenke nur mutig deine Rosse dem rasenden Kriegsgott

selber zu!« So sprach sie, gab seinem Wagenlenker Sthenelos einen leichten Stoß, daß er willig vom

Streitwagen sprang, und setzte sich selbst in den Sessel zu dem herrlichen Helden. Die Achse stöhnte

unter der Last der Göttin und des Stärksten unter den Griechen. Sofort ergriff Pallas Athene Zügel

und Peitsche und lenkte den Huftritt der Rosse Ares, dem Kriegsgotte, zu. Dieser raubte gerade dem

tapfersten Ätolier, Periphas, den er erschlagen hatte, die Rüstung. Als er aber den Diomedes im

Streitwagen auf sich zukommen sah ‐ die Göttin hatte sich in undurchdringliche Nacht gehüllt ‐, ließ

er den Periphas liegen und eilte auf den Tydiden zu, über Joch und Zügel seiner Rosse herausgelehnt

und mit der Lanze nach der Brust des Helden zielend. Aber Athene, unsichtbar, ergriff sie mit der

Hand und gab ihr eine andere Richtung, daß sie ohne Ziel in die Luft hinausflog. Nun erhub sich

Diomedes in seinem Wagensitze, und Athene selbst lenkte den Stoß seines Speeres, daß es dem Ares

unter dem ehernen Leibgurt in die Weiche fuhr. Der Kriegsgott brüllte, wie zehntausend Sterbliche in

der Schlacht schreien: Trojaner und Griechen zitterten, denn sie glaubten bei heiterer Luft den

Donner des Zeus zu hören. Diomedes aber sah den Ares, in Wolken gehüllt, wie in einem Orkane zum

Himmel emporfahren. Dort setzte sich der Kriegsgott neben den Donnerer, seinen Vater, und zeigte

ihm das aus der Wunde herabtriefende Blut. Aber Zeus schaute finster und sprach: »Sohn, winsle mir

hier nicht an meiner Seite! Von allen Olympiern bist du mir der Verhaßteste; immer hast du nur Zank

und Fehde geliebt, mehr als alle anderen gleichest du an Trotz und Starrsinn deiner Mutter. Gewiß

hat dieses Weh dir auch ihr Rat bereitet! Dennoch kann ich nicht länger mit ansehen, wie du leidest,

und der Arzt der Götter wird dich heilen.« So übergab er ihn dem Paion, welcher der Wunde

wahrnahm, daß sie sich auf der Stelle schloß.

Inzwischen waren auch die andern Götter in den Olymp zurückgekehrt, um die Feldschlacht der Troer

und Danaer wieder sich selbst zu überlassen. Zuerst brach jetzt Ajax, der Sohn Telamons, in das

Gedränge der Trojaner und machte den Seinigen wieder Luft, indem er Akamas, dem gewaltigsten

Thrakier, die Stirne unter dem Helm durchbohrte. Darauf erschlug Diomedes den Axylos und seinen

Wagenlenker; vor Euryalos erlagen drei andere edle Trojaner, vor Odysseus Pidytes, vor Teucer

Aretaon, vor Antilochos Ableros, vor Agamemnon Elatos, vor andern andere. Den Adrastos erhaschte

Menelaos, als ihn die Rosse, strauchelnd, auf den Boden geworfen und mit dem Wagen unter andern

herrenlosen Pferden zur Stadt enteilten. Der liegende Feind umschlang die Knie des Fürsten und

flehte jämmerlich: »Fange mich lebendig, Atride, nimm volle Lösung von Erz und Gold aus dem

Schatze meines Vaters, der sie dir willig gibt, wenn er mich wieder lebendig umarmen darf!«

Menelaos fühlte sein Herz im Busen bewegt, da lief Agamemnon heran und strafte ihn mit den

Worten: »Sorgst du so für deine Feinde, Menelaos? Fürwahr, sie haben es um dich im Heimatlande

verdient! Nein, keiner soll unserm Arm entfliehen, auch der Knabe im Mutterschoße nicht! Alles, was

Troja großgezogen hat, soll ohne Erbarmen sterben!« Da stieß Menelaos den Flehenden mit der

Hand von sich, und Agamemnon durchbohrte ihm den Leib mit er Lanze. Unter den stürmenden

Argivern hörte man Nestors hallenden Ruf: »Freunde, daß ja keiner, zu Raub und Beute gewendet,

dahinten bleibe! jetzt gilt es nur, Männer zu töten; nachher könnt ihr gemächlich den Leichnamen die

Rüstung abziehen!«

Bald wären jetzt die Trojaner ihrer Stadt überwunden zugeflohen, wenn nicht Helenos, der Sohn des

Priamos, der kundigste Vogelschauer, sich zu Hektor und Äneas gewendet und so zu ihnen

gesprochen hätte: »Alles beruht jetzt auf euch, ihr Freunde; nur wenn ihr das flüchtige Volk vor den

Toren hemmet, vermögen wir selbst noch die Scharen der Danaer zu bekämpfen. Dir, Äneas,

übertragen die Götter zunächst dieses Geschäft. Du aber, Bruder Hektor, eile gen Troja und sage

unserer Mutter ein Wort. Sie soll die edelsten Weiber auf der Burg im Tempel Athenes versammeln,

ihr köstlichstes Gewand auf die Knie der Göttin legen und ihr zwölf untadelige Kühe geloben, wenn

sie sich der trojanischen Frauen und Kinder und ihrer Stadt erbarmt und den schrecklichen Tydiden

abwehrt.« Unverdrossen sprang Hektor vom Wagen, durchwandelte ermahnend die Geschwader

und enteilte nach der Stadt.

Glaukos und Diomedes

Auf dem Schlachtfelde rannten jetzt der Lykier Glaukos, der Enkel des Bellerophontes, und der

Tydide Diomedes aus den Heeren hervor und begegneten voll Kampfgier einander. Als Diomedes den

Gegner in der Nähe sah, maß er ihn mit den Blicken und sprach: »Wer bist du, edler Kämpfer? Noch

nie bist du mir in der Feldschlacht begegnet, doch jetzt sehe ich dich vor andern weit hervorragen, da

du es wagest, dich meiner Lanze entgegenzustellen; denn mir kommen nur Kinder in den Weg, die

zum Unglücke geboren sind. Bist du aber ein Gott, der sterbliche Gestalt angenommen hat, so

begebe ich mich des Kampfes. Ich fürchte den Zorn der Himmlischen und verlange nicht ferner nach

dem Streite mit unsterblichen Göttern. Doch wenn du ein Sterblicher bist, so komm immerhin heran,

du sollst dem Tode nicht entgehen!« Darauf antwortete der Sohn des Hippolochos: »Diomedes, was

fragst du nach meinem Geschlecht? Wir Menschen sind wie Blätter im Walde, die der Wind verweht

und der Frühling wieder treibt! Willst du es aber wissen, so höre: Mein Urahn ist Aiolos, der Sohn des

Hellen, der zeugte den schlauen Sisyphos, Sisyphos zeugte den Glaukos, Glaukos den Bellerophontes,

Bellerophontes den Hippolochos, und des Hippolochos Sohn bin ich. Dieser schickte mich her gen

Troja, daß ich andern vorstreben und der Väter Geschlecht nicht schänden sollte.« Als der Gegner

geendigt, stieß Diomedes seinen Schaft in die Erde und rief ihm mit freundlichen Worten zu:

»Wahrlich, edler Fürst, so bist du ja mein Gastfreund von Väterzeiten her, Öneus, mein Großvater,

hat deinen Großvater Bellerophontes zwanzig Tage lang gastlich in seinem Hause beherbergt; und

unsere Ahnen haben sich schöne Ehrengeschenke gereicht: der meine dem deinen einen purpurnen

Leibgurt, der deinige dem meinigen einen goldenen Henkelbecher, den ich noch in meiner

Behausung verwahre. So bin ich denn dein Wirt in Argos und du der meine in Lykien, wenn ich je

dorthin mit meinem Gefolge komme. Darum wollen wir uns im Schlachtgetümmel beide mit unsern

Lanzen vermeiden. Gibt es doch für mich noch Trojaner genug zu töten und für dich der Griechen

genug! Uns aber laß die Waffen miteinander vertauschen, damit auch die andern sehen, wie wir uns

von Väterzeiten her rühmen, Gastfreunde zu sein!« So redeten jene, schwangen sich von den

Streitwagen herab, faßten sich liebreich die Hände und gelobten einander gegenseitige Freundschaft.

Zeus aber, der alles, was geschah, zugunsten der Griechen lenkte, verblendete den Sinn des Glaukos,

daß er seine goldene Rüstung mit der ehernen des Diomedes wechselte; es war, wie wenn ein Mann

gegen neun Farren hundert hergäbe.

Hektor in Troja

Hektor hatte unterdessen die Buche des Zeus und das Skäische Tor erreicht. Hier umringten ihn die

Weiber und Töchter der Trojaner und forschten ängstlich nach Gemahlen, Söhnen, Brüdern und

Verwandten. Nicht allen wußte er Bescheid zu geben; er ermahnte nur alle, die Götter anzuflehen.

Doch viele hatten seine Nachrichten in Weh und Jammer versenkt. Jetzt war er am Palaste seines

Vaters angekommen. Dieser war ein herrliches Gebäude, ringsum mit weithin sich dehnenden

Säulenhallen geschmückt; im Innern waren fünfzig Gemächer aus glattem Marmor, eins ans andere

nachbarlich angebaut. Hier wohnten die Söhne des Königes mit ihren Gemahlinnen. Auf der andern

Seite des inneren Hofes reihten sich zwölf Marmorsäle aneinander, wo die Eidame des Königes mit

seinen Töchtern hausten. Das Ganze war von einer hohen Mauer umschlossen und bildete für sich

allein eine stattliche Burg. Hier begegnete Hektor seiner guten Mutter Hekabe, die eben zu ihrer

liebsten und anmutigsten Tochter Laodike zu gehen im Begriffe war. Die greise Königin eilte auf

Hektor zu, faßte ihm die Hand und sprach voll Sorgen und Liebe: »Sohn, wie kommst du zu uns aus

der wütenden Schlacht? Die entsetzlichen Männer müssen uns wohl hart bedrängen, und du kommst

gewiß, die Hände zu Zeus zu erheben. So verziehe denn, bis ich dir vom lieblichen Wein bringe, daß

du dem Vater Zeus und den andern Göttern ein Trankopfer darbringen kannst und darauf dich selbst

mit einem Labetrunk erquicken; denn der Wein ist doch die kräftigste Stärkung für einen müden

Kämpfer!« Aber Hektor erwiderte der Königin: »Laß mir keinen Wein reichen, geliebte Mutter, daß

du mich nicht entnervest und ich meiner Kraft vergesse; auch dem Göttervater scheue ich mich mit

ungewaschener Hand Wein zu spenden; du hingegen geh, von den edelsten Frauen Trojas umringt,

mit Räuchwerk zu Athenes Tempel, lege der Göttin dein köstlichstes Gewand auf die Knie und gelobe

ihr zwölf untadelige Kühe, wenn sie sich unser erbarmt. Ich aber will hingehen, meinen Bruder Paris

in die Schlacht zu berufen. Schlänge ihn doch die Erde lebendig hinab, denn er ist zu unserem

Verderben geboren!«

Die Mutter tat, wie der Sohn sie angewiesen. Sie stieg in die duftende Kammer hinunter, wo die

schönsten Seidengewande verwahrt lagen, die Paris selbst aus Sidon mitgebracht hatte, als er auf

Umwegen mit Helena nach der Heimat schiffte. Eines davon, das größte, schönste, mit den

herrlichsten Bildern durchwirkte, das zuunterst von allen lag, suchte sie hervor und wandelte nun,

von der Schar der edelsten Weiber begleitet, nach der Burg, zu Athenes Tempel. Hier öffnete ihnen

Antenors Gattin Theano, die trojanische Priesterin der Pallas, das Haus der Göttin. Die Frauen reihten

sich um das Bild Athenes und huben mit Klagetönen die Hände zu der Göttin empor. Dann nahm

Theano das Gewand aus den Händen der Königin, legte es auf die Knie des Bildes und flehte zu der

Tochter des Zeus: »Pallas Athene, Beschirmerin der Städte, erhabene, machtvolle Göttin, brich du

dem Diomedes den Speer, laß ihn selbst, auf sein Angesicht gestürzt, vor unsern Toren sich wälzen;

erbarme dich der Stadt, der Frauen, der stammelnden Kinder! In dieser Hoffnung weihen wir dir

zwölf untadelige Kühe.«

Aber Pallas Athene verweigerte ihnen im Herzen ihre Bitte. Hektor war inzwischen im Palaste des

Paris angekommen, der hoch auf der Burg, in der Nähe vom Königspalast und von Hektors Wohnung,

stand; denn beide Fürsten hatten von der Königswohnung abgesonderte Häuser. Er trug in der

Rechten seinen Speer, der elf Ellen lang und dessen eherne Spitze am Schaft mit einem goldenen

Ring umlegt war. Er fand den Bruder, wie er in seinem Gemache die Waffen musterte und das Horn

des Bogens glättete; seine Gemahlin Helena saß emsig unter den Weibern und leitete ihr Tagewerk.

Als Hektor jenen sah, schalt er ihn und rief. »Du tust nicht recht, so im Unmute hier zu sitzen, Bruder;

um deinetwillen schlägt sich das Volk vor der Stadt im Feldgetümmel! Du selbst aber würdest mit

jedem andern zanken, den du so saumselig zum Treffen sähest. Auf denn, ehe die Stadt unter den

Feuerbränden unseres Feindes auflodert, hilf sie verteidigen mit uns!« Paris antwortete ihm: »Du

tadelst mich nicht mit Unrecht, Bruder; doch habe ich nicht aus Unmut, sondern nur aus Gram hier in

der Untätigkeit gesessen. Nun aber hat mir meine Gattin freundlich zugeredet, in die Schlacht

hinauszugehen; so verziehe denn, bis ich meine Rüstung angezogen habe, oder geh: ich hoffe dir bald

nachzufolgen.« Hektor schwieg darauf, aber Helena redete ihn mit Worten der Beschämung an: »O

Schwager, ich bin ein schnödes, unheilstiftendes Weib! Hätte mich doch die Meereswoge

verschlungen, ehe ich mit Paris hier ans Land stieg! Nun das Übel aber einmal verhängt worden: wäre

ich doch wenigstens nur die Genossin eines besseren Mannes, der die Schmach und die vielen

Vorwürfe, die er sich zuzieht, auch empfände; so aber hat er kein Herz im Leibe und wird keines

haben, und die Frucht seiner Feigheit wird nicht ausbleiben. Aber du, Hektor, komm doch herein und

ruhe von der Arbeit, die wegen meiner, des schändlichen Weibes, die wegen der Freveltat meines

Gatten doch zumeist auf deinen Schultern lastet!« »Nein, Helena«, sprach Hektor, »heiß mich nicht

so freundlich sitzen, ich darf wahrlich nicht: mein Herz drängt mich, den Trojanern zu helfen.

Muntere du nur diesen Menschen da auf, und er selbst spute sich, daß er mich bald innerhalb der

Stadtmauern erreiche. Ich will zuvor noch in meine eigene Wohnung gehen und nach Weib, Söhnlein

und Gesinde schauen.« So sprach Hektor und enteilte. Aber er fand die Gattin nicht zu Hause. »Als

sie hörte«, sprach zu ihm die Schaffnerin, »daß die Trojaner Not leiden und der Sieg sich zu den

Griechen neige, verließ sie die Wohnung, wie außer sich, um einen der Stadttürme zu besteigen, und

die Wärterin mußte ihr das Kind nachtragen.«

Schnell legte Hektor den Weg durch die Straßen Trojas jetzt wieder zurück. Als er das Skäische Tor

erreicht, kam seine Gemahlin Andromache, die blühende Tochter des kilikischen Eëtion von Theben,

eilenden Laufes gegen ihn her; die Dienerin, ihr folgend, trug das unmündige Knäblein Astyanax,

schön wie ein Gestirn, an der Brust. Mit stillem Lächeln betrachtete der Vater den Knaben,

Andromache aber trat ihm unter Tränen zur Seite, drückte ihm zärtlich die Hand und sprach:

»Entsetzlicher Mann! gewiß tötet dich noch dein Mut, und du erbarmst dich weder deines

stammelnden Kindes noch deines unglückseligen Weibes, das du bald zur Witwe machen wirst.

Werde ich deiner beraubt, so wäre es das beste, ich sänke in den Boden hinab. Den Vater hat mir

Achill getötet, meine Mutter hat der Bogen der Artemis erlegt, meine sieben Brüder hat auch der

Pelide umgebracht, ohne dich habe ich keinen Trost, Hektor: du bist mir Vater und Mutter und

Bruder. Darum erbarme dich, bleib hier auf dem Turm; mach dein Kind nicht zur Waise, dein Weib

nicht zur Witwe! Das Heer stelle dort an den Feigenhügel: dort steht die Mauer dem Angriffe frei und

ist am leichtesten zu ersteigen, dorthin haben die tapfersten Krieger, die Ajax beide, Idomeneus, die

Atriden und Diomedes schon dreimal den Sturm gelenkt, sei es, daß ein Seher es ihnen offenbarte,

sei's, daß das eigene Herz dieselben trieb!«

Liebreich antwortete Hektor seiner Gemahlin: »Auch mich härmt alles dieses, Geliebteste; aber ich

müßte mich vor Trojas Männern und Frauen schämen, wenn ich, erschlafft wie ein Feiger, hier aus

der Ferne zuschaute. Auch mein eigner Mut erlaubt es mir nicht, er hat mich immer gelehrt, im

Vorderkampfe zu streiten; zwar das Herz weissagt es mir: der Tag wird kommen, wo die heilige Troja

hinsinkt und Priamos und all sein Volk; aber weder der Trojaner Leid noch der eigenen Eltern und der

leiblichen Brüder, wenn sie dann unter dem Schwert der Griechen fallen, geht mir so zu Herzen wie

das deine, wenn dich, die Weinende, ein Danaer in die Knechtschaft führen wird und du dann zu

Argos am Webestuhl sitzest oder Wasser trägst, vom harten Zwang belastet, und dann wohl ein

Mann, dich in Tränen schauend, spricht: ›Das war Hektors Weib!‹ Decke mich der Grabhügel, ehe ich

von deinem Geschrei und deiner Entführung hören muß!« So sprach er und streckte die Arme nach

seinem Knäbchen aus; aber das Kind schmiegte sich schreiend an den Busen der Amme, von der

Zärtlichkeit des Vaters erschreckt und vor dem ehernen Helm und dem fürchterlich flatternden

Roßschweif erbangend. Der Vater schaute das Kind und die Mutter lächelnd an, nahm sich schnell

den schimmernden Helm vom Haupte, legte ihn zu Boden, küßte sein geliebtes Söhnchen und wiegte

es auf dem Arm. Dann flehte er zum Himmel empor: »Zeus und ihr Götter! laßt dies mein Knäblein

werden wie mich selbst, voranstrebend dem Volk der Trojaner; laßt es mächtig werden in Troja und

die Stadt beherrschen, und dereinst sage man, wenn es beutebeladen aus dem Streite heimkehrt:

der ist noch weit tapferer als sein Vater; und darüber soll sich seine Mutter herzlich freuen!« Mit

diesen Worten gab er den Sohn der Gattin in den Arm, die unter Tränen lächelnd ihn an den Busen

drückte. Hektor aber streichelte sie, inniger Wehmut voll, mit der Hand und sagte: »Armes Weib,

traure mir nicht zu sehr im Herzen, gegen das Geschick wird mich niemand töten; dem Verhängnis

aber ist noch kein Sterblicher entronnen. Auf, geh du zur Spindel und zum Webestuhl und befiehl

deinen Weibern! Den Männern Trojas liegt die Sorge für den Krieg ob, am meisten aber mir!« Als er

dies gesagt, setzte sich Hektor den Helm auf und ging davon. Andromache schritt dem Hause zu,

indem sie wiederholt rückwärts blickte und herzliche Tränen weinte. Als die Mägde in der Kammer

sie erblickten, teilte sich ihnen allen ihr Gram und ihre Betrübnis mit, und Hektor wurde bei

lebendigem Leib in seinem Palast betrauert.

Auch Paris hatte nicht gezaudert; in strahlenden Erzwaffen eilte er durch die Stadt, wie ein stattliches

Roß die Halfter zerreißt und nach dem Strombade rennt. Er erreichte den Bruder, als dieser sich eben

von seiner Gattin Andromache gewendet hatte. »Nicht wahr«, rief ihm Paris von weitem zu, »ich

habe dich, mein älterer Bruder, durch mein Zaudern aufgehalten und bin nicht da zur rechten Zeit!«

Aber Hektor antwortete ihm freundlich: »Mein Guter, billig zu reden bist du ein tapferer Streiter; nur

säumst du oft gern und willst nicht, und sieh, da kränkt es mich dann innig, wenn ich unter dem

Trojanervolke, das so viel für dich erduldet, schmähliche Reden über dich hören muß. Doch das

wollen wir ein andermal ausmachen, wenn wir die Griechen aus Troas verjagt haben und um den

Krug der Freiheit im Palaste sitzen!«

Hektor und Ajax im Zweikampf

Als die Göttin Athene vom Olymp herab die beiden Brüder so zum Kampfe hineilen sah, flog sie

stürmisch hinunter zur Stadt Troja. An des Zeus Buche begegnete ihr Apollo, der von der Zinne der

Burg, von wo er die Schlacht der Trojaner lenkte, daherkam und seine Schwester anredete: »Welch

ein heftiger Eifer treibt dich vom Olymp herunter, Pallas? Bist du noch immer auf den Fall der

Trojaner bedacht, Erbarmungslose? Wolltest du mir doch gehorchen und für heute den

Entscheidungskampf ruhen lassen! Ein andermal mögen sie die Feldschlacht erneuern, weil ihr, du

und Hera, doch nicht ruhet, bis ihr die hohe Stadt Troja verwüstet habt!« Ihm antwortete Athene:

»Fernhintreffer, es sei, wie du sagst; und in derselben Absicht bin ich auch vom Olymp

herabgekommen. Aber sage mir, wie gedenkst du den Männerkampf zu stillen?« »Wir wollen«,

sprach Apollo, »dem gewaltigen Hektor seinen Mut noch steigern, daß er einen der Danaer zum

entscheidenden Zweikampf herausfordert; laß uns dann sehen, was diese tun.« Athene war das

zufrieden.

Das Gespräch der Unsterblichen hatte der Seher Helenos in seiner Seele vernommen; eilig trat er zu

Hektor und sprach: »Weiser Sohn des Priamos, wolltest du diesmal meinem Rate gehorchen, der ich

dein liebender Bruder bin? Heiß die andern alle, Trojaner und Griechen, vom Streite ruhen; du selbst

aber fordre den Tapfersten aller Argiver zur Entscheidung heraus. Du kannst es ohne Gefahr; denn,

glaube meinem Seherworte, der Tod ist noch nicht über dich verhängt.«

Hektor freute sich dieses Worts. Er hemmte die trojanischen Heerhaufen und trat, den Speer in der

Mitte haltend, zwischen die kämpfenden Heere, und auf dieses Zeichen ruhte alsbald der Streit auf

beiden Seiten; denn auch Agamemnon hieß seine Griechen sich lagern. Athene und Apollo aber

setzten sich beide in Gestalt zweier Geier auf die Buche des Zeus und freuten sich des

Männergewühls, bis beide Ordnungen, von Schilden, Helmen und hervorragenden Lanzen dicht

umstarrt, gedrängt dasaßen, nur so viel sich regend als das Meer, wenn das Gekräusel des Westes

darüber hinschauen. In der Mitte beider Völker begann jetzt Hektor: »Trojaner und ihr Griechen,

höret, was mir mein Herz gebietet! Den Bundesvertrag, den wir jüngst geschlossen, hat Zeus nicht

genehmigt, vielmehr beiden Völkern böse Entschlüsse eingegeben, bis entweder ihr selbst Troja

erobert oder vor uns erlieget bei euren Schiffen. Nun sind die tapfersten Helden Griechenlands in

eurem Heere. Welchem von solchen sein Herz gebeut, mit mir, dem göttergleichen Hektor, den

Vorkampf zu wagen, der trete heraus! Die Bedingung, die ich stelle, ist diese, und Zeus sei mein

Zeuge: wenn mein Gegner mich mit dem Speer erlegt, mag er meinen Waffenraub zu den Schiffen

hinabtragen, doch meinen Leib nach Troja senden, daß er der Ehre des Scheiterhaufens in der

Heimat teilhaftig werde; wenn aber mir Apollo Ruhm gewährt und ich meinen Gegner erlege, so

hänge ich seine Rüstung im Tempel des Phöbos zu Troja auf, und den Erschlagenen möget ihr bei

euren Schiffen mit Pracht bestatten und ihm am Hellespont ein Mal auftürmen, von dem einst in

späten Zeiten der Schiffer noch sage: ›Sehet, hier ragt der Grabhügel des längstverstorbenen

Mannes, der einst im Streit mit dem göttergleichen Hektor erlag!‹«

Also sprach jener; die Danaer aber schwiegen, denn es war schimpflich, den Kampf zu verweigern,

und gefahrvoll, ihn anzunehmen. Endlich stand Menelaos auf und strafte seine Landsleute mit den

Worten: »Wehe mir, ihr Prahler: Weiber, nicht Männer! Wäre es doch eine unvertilgbare Schande,

wenn kein Danaer dem Hektor zu begegnen wagte! Möchtet ihr euch alle in Kot und Wasser

verwandeln, wie ihr miteinander dasitzet, jeder ohne Herz und ohne Ruhm! So will ich denn mich

selbst zum Kampfe gürten und den Göttern den Ausgang anempfehlen!« So sprach er und warf sich

in die Rüstung; und sein Tod wäre beschlossen gewesen, wenn nicht die Fürsten der Griechen

aufgefahren wären und ihn zurückgehalten hätten. Ja selbst Agamemnon ergriff seine Rechte und

sprach: »Bruder, bedenke dich! was fällt dir ein, den stärkern Mann bekämpfen zu wollen, vor dem

selbst andern, als du bist, graut; mit dem Achill selber in der Feldschlacht sich zu messen gestutzt

hat! Wir bitten dich alle, tritt zurück und setze dich nieder!« So wandte Agamemnon seinem Bruder

das Herz. Und nun hielt Nestor eine strafende Rede an das Volk und erzählte seinen eigenen

Zweikampf mit Ereuthalion, dem Arkadier. »Wäre ich noch so jugendlich«, endete er, »noch so

ungeschwächter Kraft wie damals, so sollte Hektor seinen Kämpfer bald gefunden haben!« Auf seine

Strafrede erhuben sich neun Fürsten in dem Heere: vor allen Agamemnon, ihm zunächst Diomedes,

drauf die beiden Ajax zugleich; dann Idomeneus, sein Genosse Meriones, Eurypylos, Thoas und

Odysseus. Sie alle erboten sich zu dem gefürchteten Kampf. »Das Los soll entscheiden«, begann von

neuem Nestor; »wen es auch trifft, freuen werden sich die Griechen und der Erkorene mit, wenn er

aus dem erbitterten Streit als Sieger hervorgeht.« Nun bezeichnete sich jeder selbst ein Los; alle

zusammen wurden in den Helm Agamemnons geworfen; das Volk betete; Nestor schüttelte den

Helm, und heraus sprang das Los des Telamonssohnes Ajax. Ein Herold zeigte dasselbe

herumwandelnd den acht Helden vor Ajax, aber keiner erkannte es, bis die Reihe an den kam, der es

sich selbst bezeichnet hatte. Freudig warf Ajax das Los vor die Füße und rief. »Freunde, wahrlich, es

ist meines, und mein Herz ist froh, denn ich hoffe, über Hektor zu siegen. Ihr alle betet in der Stille

oder laut, während ich mich rüste.« Das Volk gehorchte ihm, und bald stürmte Ajax, den riesigen Leib

in blinkende Erzwaffen gehüllt, zum Kampfe vor, dem ungeheuren Kriegsgott selber ähnlich. Ein

Lächeln flog über sein finsterernstes Antlitz, wie er mächtigen Schrittes, die gewaltige Lanze

schwingend, einherwandelte. Alle Danaer freuten sich ringsum seines Anblicks, und Schrecken

durchschauderte die Schlachtreihen der Trojaner. Ja dem gewaltigen Hektor selbst fing sein Herz im

Busen an zu schlagen, aber er konnte nicht mehr ins Gewühl seiner Scharen zurückfliehen, hatte er

doch selbst den Zweikampf gefordert.

Ajax näherte sich ihm, den ehernen siebenhäutigen Schild vortragend, den der berühmte Künstler

Tychios ihm einst gefertigt. Als er ganz nahe vor Hektor stand, sprach er drohend: »Hektor, nun

erkennst du, daß es im Danaervolk auch außer dem löwenherzigen Peliden noch Helden gibt, und

zwar ihrer genug. Wohlan denn, beginne den blutigen Kampf!« Ihm antwortete Hektor:

»Göttergleicher Sohn des Telamon, versuche mich nicht wie ein schwaches Kind oder ein

unkriegerisches Weib. Sind mir doch die Männerschlachten wohlbekannt; ich weiß den Stierschild

rechts und links hinzuwenden, weiß den Tanz des schrecklichen Kriegsgotts zu Fuße zu tanzen und

die Rosse im Gewühl zu lenken! Wohlan, nicht mit heimlicher List sende ich den Speer nach dir,

tapferer Held, nein, öffentlich: laß sehen, ob er dich treffe!« Mit diesen Worten entsandte er in

hohem Schwung die Lanze, und sie fuhr dem Ajax in den Schild, durchdrang sechs Schichten und

ermattete erst in der siebenten Haut. Jetzt flog die Lanze des Telamoniers durch die Luft: diese

durchschmetterte dem Hektor den ganzen Schild, durchschnitt seinen Leibrock und würde ihm in die

Weiche gedrungen sein, wenn nicht Hektor ihrem Fluge ausgebogen wäre. Beide zogen die Speere

aus den Waffen und rannten wie unverwüstliche Waldeber aufs neue gegeneinander an. Hektor

zielte, mit dem Speere stoßend, dem Ajax auf die Mitte des Schilds; aber seine Lanzenspitze bog sich

und durchbrach das Erz nicht. Ajax hingegen durchbohrte mit dem Speere den Schild seines Gegners

und streifte ihm selbst den Hals, daß ihm schwarzes Blut entspritzte. Nun wich Hektor wohl ein wenig

rückwärts, seine nervige Rechte ergriff jedoch einen Feldstein und traf damit die Schildbuckel des

Feindes, daß das Erz erdröhnte. Ajax aber hub einen noch viel größeren Stein vom Boden auf und

sandte ihn mit solchem Schwunge dem Hektor zu, daß er den Schild einwärts brach und den Gegner

am Knie verletzte, so daß derselbe rücklings hinsank; doch verlor er den Schild nicht aus den Händen,

und Apollo, der ihm unsichtbar zur Seite stand, richtete ihn schnell vom Boden wieder auf. Beide

wären jetzt mit dem Schwert aufeinander losgegangen, um den Streit endlich zu entscheiden: da

eilten die Herolde der beiden Völker, Idaios, der Troer, Talthybios, der Grieche, herbei und streckten

die Stäbe zwischen die Kämpfenden. »Nicht weiter gekämpft, ihr Kinder«, rief Idaios, »ihr seid ja

beide tapfer, beide von Zeus geliebt; wir alle haben das gesehen! Jetzt aber kommt die Nacht herbei,

gehorchet der Nacht.« »Ermahne du deinen eignen Volksgenossen!« entgegnete dem Herold Ajax,

»er ist es ja, der den Tapfersten der Griechen zum Kampfe hervorgerufen hat! Will er es so, so mag

ich dir gehorchen!«Und nun sprach Hektor selbst zu seinem Gegner: »Ajax, ein Gott hat dir den

gewaltigen Leib, die Kraft und die Speerkunde verliehen: doch laß uns heute vom

Entscheidungskampfe ausruhen; ein andermal wollen wir ihn erneuern und so lange fechten, bis ein

Gott einem von beiden Völkern Sieg und Kriegsruhm verleiht! Nun laß uns aber auch noch einander

rühmliche Gaben schenken, damit es einst bei Trojanern und Griechen heiße: sehet, sie kämpften

miteinander den Kampf der Zwietracht, aber in Freundschaft sind sie voneinander geschieden!« So

sprach Hektor und reichte dem Gegner sein Schwert mit dem silbernen Griff samt Scheide und

zierlichem Wehrgehenk. Ajax aber löste seinen purpurnen Gurt vom Leibe und bot ihn dem Hektor

dar. Dann schieden beide voneinander. Ajax zog sich in die Schar der Griechen zurück, Hektor ins

Gewühl der Trojaner. Diese waren froh, ihren Helden unverletzt aus den Händen des furchtbaren

Ajax zurückzuerhalten.

Waffenstillstand

Die Fürsten der Danaer versammelten sich jetzt in dem Gezelte ihres Oberfeldherrn Agamemnon,

wohin sie auch den seines Sieges sich hocherfreuenden Ajax jubelnd geführt hatten. Hier wurde dem

Zeus ein fünfjähriger fetter Stier geopfert und beim Schmause der Sieger mit dem besten

Rückenstücke geehrt. Als sie sich an Speise und Trank gesättiget, eröffnete Nestor den Rat der

Fürsten mit dem Vorschlage, am andern Morgen den Krieg ruhen zu lassen und nach Abschluß eines

Waffenstillstandes die Leichname der gefallenen Danaer auf Wagen, mit Rindern und Maultieren

bespannt, abzuholen und abseits von den Schiffen zu verbrennen, damit, wenn sie wieder zum

Vaterlande heimzögen, ein jeder den Kindern seiner Verwandten den Staub der Ihrigen mitbringen

könnte. Die Könige riefen ihm ringsumher Beifall.


Die schönsten Sagen des klassischen Altertums - Zweiter Teil

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