Читать книгу Gustloff im Papierkorb - Guy Marchal - Страница 10
Geschichten schreiben
ОглавлениеIch muss also selbst zum Geschichtenerzähler werden. Aber wie mache ich das, wenn ich nur über einige wenige Dokumente verfüge? Ich breite auf dem Tisch aus, was ich habe. Es sind Schriftstücke, welche die ungewisse Reise der Dinge durch die Zeit auf irgendeine abenteuerliche Weise überstanden haben: in Schachteln, in denen aufbewahrt wurde, was die entschwundene Generation noch als «familiäre Erinnerungsstücke» zusammengestellt und der nachfolgenden übergeben hat; in Schubladen einer alten Kommode, in die Wachshefte, Dokumente, Fotos, alte Zeugnisse, Aufsatzhefte in deutscher Schrift, Blätter mit Algebra-Aufgaben, die ein fleissiger, Französisch sprechender Schüler einmal gelöst hat, hineingestopft worden sind. Kurz: ein schreckliches und zufälliges Durcheinander.
Ich suche also Brauchbares heraus und lege es zur Seite:
– ein schweizerisches Dienstbüchlein, das 1921 angelegt worden ist und die Daten der zahlreichen Aktivdienstleistungen ausweist;
– ein ganzes Bündel von notariell beglaubigten Kaufverträgen und Erbschaften, Verkäufen und Hypotheken aus alten Zeiten, alle auf Bassenge in Belgien bezogen und – ich schaue genauer hin – tatsächlich bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts zurückreichend;
– Urkunden der belgischen Könige Leopold I. und Albert I., die 1894 einen «Sieur» zum Konsul in Basel ernennen und später, 1918, seine «démission honorable» akzeptieren. Oh, da wurde der Konsul noch zum «chevalier de l’Ordre de Léopold» ernannt;
– der Menüvorschlag für ein Hochzeitsbankett im Basler Casino von 1912;
– eine Heiratsurkunde von 1888 aus Mülheim am Rhein, die auch das Alter und die Eltern der Frischvermählten angibt;
– ein aus dem Basler Volksblatt ausgeschnittener Nachruf von 1931;
– ein 1880 von der belgischen Armee erteilter «congé définitif», eine definitive Beurlaubung;
– ein Geburtsschein aus Basel, ausgestellt 1921, versehen mit einem kleinen Stempel des Zivilstandsamts mit dem Datum einer Einbürgerung;
– eine Urkunde, 1894 ausgestellt von der Ambassade de Belgique in Bern, die bestätigt, dass ein Ehepaar und seine drei Töchter sich als in der Schweiz residierende Belgier haben registrieren lassen;
– ein grosses Wachsheft aus den 1920er- und 1930er-Jahren, das tabellarische Aufzeichnungen über Geschäftsvorgänge mit diversen Seidenabfällen enthält;
– eine Todesanzeige von 1931;
– ein kleines Wachsheft mit kaum lesbaren Kriegsaufzeichnungen von 1914/15;
– ein autobiografischer Lebenslauf, bei der Trauerfeier vorzulesen;
– eine hübsche Broschüre mit dem Titel «Das kleine Buch der Nähseide»;
– einige Briefe.
Ja, und da finden sich noch drei weitere gelbe Kuverts mit maschinengeschriebenen Erinnerungsberichten über den «Quatorze Juillet 1913 in Belfort», über den «Kriegsausbruch 1914», über einen «Tag im Hitler-Deutschland 1938», alle datiert vom April 1986, Februar, Mai 1987.24
Wahrlich, ein etwas disparates Puzzle! Aber ich kann mir fürs Nötigste im Basler Staatsarchiv helfen lassen. Ein Archiv ist eine schöne Sache: Für die Dinge auf der Reise durch die Zeit stellt es die Luxusklasse dar. Hier sind sie sicher. Hier ruhen sie, geordnet und sorgfältig verwahrt seit Jahrhunderten. Hier steht die Zeit still, und es ist gerade umgekehrt: Wer ins Archiv geht, kann sich selbst auf die spannendsten Zeitreisen begeben, Jahrzehnte, Jahrhunderte zurück. Alles ist registriert und auffindbar, und, wenn man nicht weiterweiss, sind da hilfreiche Geister. Für die Familiengeschichte stehen die Akten des «Civilstands» im Alten Hauptarchiv zur Verfügung. Hier lassen sich Eheschlüsse und Geburten über entsprechende Repertoires in den Ehe- und Geburtenregistern finden. Es sind mächtige und schwere Folianten, aber man findet alles, punktgenau. Unglaublich, dieses Gedächtnis eines Staats.
Für die Firmengeschichte habe ich praktisch nichts auf meinem Tisch, das sich verwenden lässt, ein dickes Wachsheft, einen Brief mit Geschäftsanweisungen. Aber es gibt Abhilfe. Es gibt das Schweizerische Handelsregister. Ein erstaunlicher Zeuge geordneten Staatslebens. Bei der Gründung der Schweizeri schen Eidgenossenschaft 1848 hatte man auch an die Wirtschaft gedacht. Und da die Schweizer nun mal fabelhaft ordnungsliebend sind, legten sie gesetzlich fest, dass sich jede Handelsfirma bei ihrer Gründung in das Schweizerische Handelsregister eintragen müsse. Ebenso, wenn Änderungen, sei es bei Statuten und Rechtsform oder beim Kapital, vorgenommen oder Vollmachten erteilt wurden. Kaum zu glauben: Seit Mitte des 19. Jahrhunderts werden Firmen, wo immer sie gegründet werden, was immer sie Rechtsrelevantes tun, in ein Register eingetragen. Das heisst auch, dass dieses Register riesig ist und man schon genau wissen muss, was man suchen will. Aber gemach, im Staatsarchiv finden sich Hilfsmittel. Zunächst das Ragionenbuch: ein nach Kantonen gegliedertes Nachschlagewerk, in dem Jahr für Jahr alle Handelsfirmen mit ihrem aktuellen Status alphabetisch verzeichnet werden, so lange, bis sie im Handelsregister gelöscht worden sind. Dort wird immer auch das Datum der letzten Änderungen angegeben. Hat man das Gesuchte gefunden, kann man unter dem entsprechenden Datum im Basler Kantonsblatt nachschlagen und hat schon mal das Wesentliche in der Hand. Wenn man es ganz genau wissen will: Das Kantonsblatt gibt immer auch das genaue Datum und die Seite an, wo das Rechtsgeschäft im Handelsregister eingetragen wurde. Auf diese Weise kann ich die Entwicklung der Firma grob verfolgen. Mehr brauche ich nicht. Aber nötigenfalls kenne ich den Weg.
Denn es ist etwas Merkwürdiges um meine Geschichten. Ich werde eine Familiengeschichte erzählen, aber ich bin kein Genealoge, will das gar nicht sein. Ich werde eine Firmengeschichte erzählen, aber ich bin kein Wirtschaftshistoriker, will es gar nicht sein.
Ich werde diese Geschichten nur so weit erzählen, als sie die Geschehnisse erklären und nachvollziehbar machen.
Ich weiss aus der Familientradition, wo sie hinführen werden, aber wie es sich genau zugetragen hat, muss ich mir ausdenken. Und natürlich: Ich habe Erinnerungen, mit denen das, was aus den Quellen nicht ersichtlich ist, zum Leben erweckt werden kann. Zum Beispiel die Geschichte mit dem kleinen Koffer und der Parteiuniform, auch wenn sie sich nicht genau so abgespielt haben mag, wie ich sie einbauen werde; über sie konnten wir in der Familie dann später oft lachen. Vom gemeinsamen Zusammenkleben der zerrissenen Briefe haben Vater und Mutter wiederholt erzählt. Vaters Arbeitsweise bei der Qualitätsprüfung der Seidenabfälle im Büro habe ich als kleiner Junge manchmal beobachten können und war fasziniert vom weissen Glanz der Seide, wenn er langsam einen Strang auseinanderzupfte. Die Kokons und ihre Geschichte – dargestellt in einem Schaukasten im Hausflur – haben mich oft träumen lassen. Wie die Ware mit Schnüren in grosse, merkwürdig riechende Ballen aus grobem Sacktuch eingenäht war, konnte ich damals bei Besuchen mit Vater im Zollfreilager sehen. Dass es am Ende sicherlich auch die Frage «Kunstseide oder nicht» war, die 1938 zur Trennung der Geschäftspartner führte, daran konnte sich mein älterer Bruder erinnern – und die Dokumente, die mir später aus Berlin zugesendet werden würden, sollten dies bestätigen. Von den Geldtransporten in die Gundeldingerstrasse haben mir Schwester und Bruder erzählt. Vaters «Das Rheinland ist nicht Deutschland», wenn man ihn wegen seiner nicht nur belgischen Abstammung hänselte, oder seine Freude am Kölner Karneval und Rosenmontag, den er am Fernsehen verfolgte, haben wir in der Familie oft erlebt. Den von ihm geliebten Spaziergang am Bachgraben, der in der Geschichte vorkommen wird, habe ich als kleiner Junge viele Male mitgemacht und mich dabei nie an den Ortsnamen «Blotzheim» erinnern können, obwohl er mich jedes Mal danach fragte.
Wo die Erinnerungen gar zu spärlich sind, kann ich überlegen, wie es gewesen sein könnte, ich kann meine historische Fantasie einsetzen, um diese möglichen Geschichten plausibel in die Zeitumstände einzubetten. Ich kann auch verschiedene Vermutungen anstellen und es dabei bewenden lassen. Und wo ich gar nichts von den Handlungen wissen kann und nur die Ergebnisse dieser Handlungen kenne, lasse ich für einmal der einfühlenden Fantasie freien Lauf.
Wir werden sehen …