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Der Papierkorb

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Frühjahr 2017

Draussen scheint die Sonne, draussen spielen Kinder. Draussen ist das Leben, und es herrscht Freude am Frühlingserwachen der Natur. Doch hier drin, am Tisch mit den zusammengeklebten Papieren, lässt sich eine Person nicht mehr wegdrängen: Max Saurenhaus. Seine ungeduldig vorwärtsstrebende Handschrift lugt zwischen den zerstreuten Blättern hervor. Unwirsche Streichungen, Neuversuche und wieder Streichungen, bis der Text neu ansetzend weiterläuft. Und am Ende, wenn es denn einmal erreicht wird, zwei schwungvolle Krakel, in denen sich das «Heil Hitler» andeutet. Was war das nur für ein Mensch? Ich lese die Schriftstücke genauer durch.

Die Briefe verraten einiges über seine Persönlichkeit. Von Grossmannssucht scheint er getrieben zu sein, will sich mit «Konsul» angesprochen wissen (11),20 auch wenn das mit der Partei gar nichts zu tun hat. Ein Wichtigtuer, der frustriert politische Phrasen drescht, obwohl oder gerade weil er nichts bewirken kann (4, 12). Nach oben ein Schleimer, der sich beim Landesführer Gustloff einschmeichelt, diesem wegen dessen unglaublicher Arbeitsleistung Bewunderung zollt – nicht ohne auf seine eigenen Erfahrungen in der Parteiarbeit hinzuweisen –, um dann um die Ernennung zum Wirtschaftsberater zu betteln (5). Mit dem Landesgruppenführer vertrauter geworden, spricht er ihn gerne mit «Lieber Kamerad Pg. Gustloff» an und grüsst familiär «von Haus zu Haus» (12). Nach unten ist er rücksichtslos, wenn er etwa ein widerständisches Vorstandsmitglied der Deutschen Kolonie «entfernen» will – wenn auch (wiederum) ohne Erfolg – oder den Ortsgruppenleiter Böhmer bei Gustloff anschwärzt (12). Er ist einer, der sich gerne in Funktionen, die ihm wichtig erscheinen, sehen würde (10, 15) und, wenn er eine innehat, dies nicht genug bekannt machen kann (6, 7, 8). Als «Amtswalter» formuliert er in seinen Verlautbarungen möglichst umständlich und gestelzt, etwa mit dem häufigen einleitenden «Ich gestatte mir» und «Erlauben Sie mir» (2, 7, 8, 10) oder wenn er Berlin etwas luftig, ohne genaue Referenz, «informiert» (20). Effizient scheint er kaum gewesen zu sein. Wie schwer tut er sich doch bei der Formulierung eines Rundschreibens (6–8). Und als er von Gustloff mit der Zusammenstellung der schwarzen Listen, für die er sich anerboten hat, betraut wird, meldet er sich gleich wieder zurück, um Hilfe bittend und umständlich Modalitäten erörternd (9). Und aus einer Frustration heraus kann er sich auch mal zielbewusst betrinken, wie in der Zeit nach Gustloffs Ermordung: «zwei Flaschen Wein», «total besoffen» usw. Ob er auch in Geschäfte mit Raubkunst verwickelt ist? Am 3.April 1936 trägt er eine «Versteigerung Isak von Ostade» in seinen Taschenkalender ein (19). Der Gesamteindruck ist: mehr Auftreten als Handeln, mehr Schein als Sein. Irgendwie trifft die Feststellung des damaligen Botschafters in der Schweiz, Ernst von Weizsäcker, auch für ihn zu: «Das Gros aber aller Ortsgruppen-, Kreis- und sonstigen Leiter in der Partei rekrutierte sich aus Existenzen, die es in ihren Berufen zu nichts gebracht hatten und nun ihre Zeit gekommen glaubten. Wie bei jeder Revolution kamen die Nichtarrivierten, die Schreihälse und die Spitzelnaturen an die Oberfläche.»21

Wichtiger sind andere Einblicke. Es gibt sie, auch wenn die damalige Entwicklung im Allgemeinen bekannt ist. Schon aus dem abschliessenden Bericht der Basler Regierung von 1946 lässt sich entnehmen,22 dass mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933, den Reichstagswahlen am 5. März und mit dem Ermächtigungsgesetz, das in der «berühmten Reichstagssitzung in der Kroll-Oper» am 24. März beschlossen wurde, auch «die Aktivitäten der nationalsozialistischen Elemente innerhalb der deutschen Kolonie Basels sofort starken Auftrieb» bekamen. Doch Details werden nicht angeführt.

Hier aber erfährt man Atmosphärisches: Aus den Blättern des gelben Kuverts weht einem die Stimmung entgegen, die damals unter den Parteigenossen in Basel und in der Schweiz herrschte: Man fühlt sich als Vorkämpfer des Reichs, wie es Hitler verlangt: «Meine Herren, Sie haben eine der wichtigsten Aufgaben übernommen.» Sie stehen «an vorderster Front unserer deutschen Kampfbewegung als Vorposten Deutschlands».23 Eine Aufbruchstimmung herrscht. So etwas wie: «Jetzt sind wir dran!» Noch stehen die Deutschnationalen im Wege und sind nicht «zum Sozialismus» zu bekehren. So ärgerlich erscheint das, dass Gustloff das biblische Gleichnis vom «Kamel und der Öse» bemüht (1). Die Deutsche Kolonie ist unbrauchbar. Saurenhausens Angriff im Vorstand scheitert, weil der Ortsgruppenobmann Böhmer vor den Argumenten des deutschen Konsuls einknickt. Er selbst sei «blamiert», was nicht schlimm sei, denn «in einem halben Jahr ist die NSDAP Ortsgruppe Basel die deutsche Kolonie» (12). Es zeigt sich eine ungestüme Siegesgewissheit, auch den inneren Feinden gegenüber, wie etwa dem Auswärtigen Amt, dessen «Herren noch durchaus capitalistisch verfilzt sind». Aber getrost, nach der im kommenden November stattfindenden «Abstimmung» – gemeint ist wohl jene über den aussenpolitischen Kurs, die mit Reichstagswahlen verknüpft war – wird ja «unser Führer alles in die eigene Hand nehmen» (4). «Länger als vielleicht noch ein halbes Jahr kann der Zustand nicht andauern. Auch die Herren vom Auswärtigen Amt werden wir klein kriegen» (12).

Auch das ungewiss Fliessende des Augenblicks deutet sich an. Die Unklarheiten, die durch die Konkurrenz zwischen Parteiinstitutionen und den staatlichen Instanzen für Verwirrung sorgen, etwa zwischen Auswärtigem Amt und dem Aussenpolitischen Amt der NSDAP. Nicht bei der staatlichen Instanz in Berlin, die in dieser Frage noch immer zuständig ist, macht Saurenhaus seine Demarche zugunsten Gustloffs Konsulat, sondern bei der entsprechenden Institution der NSDAP. Die hat noch keinen Zugang zu den Finanzen und muss ihn vertrösten (2). Und Gustloff verlangt ausdrücklich, dass Aktivitäten der NSDAP, wie die Erstellung schwarzer Listen, vor den amtlichen Vertretungen Deutschlands geheim zu halten sind (B2, B3). Auch Unsicherheiten bei den anzuschreibenden Adressaten und die noch vereinsmässig gestaltete Aussenhandelsorganisation zeigen, wie alles noch im Fluss ist (3, 9, 11, 15). Als Vorposten wähnen sich die Parteigenossen ständig in Gefahr, zumal in Basel, wo sie nicht nur durch die Presse angeprangert werden, sondern in der Bevölkerung auf Widerstand stossen. Diese demonstriert laut vor dem Deutschen Reichsbahnhof, protestiert gegen das Hissen des Hakenkreuzes und stört Reden mit Zwischenrufen. Die eigene Situation erscheint als «heikel», ja «unhaltbar». Die Parteigenossen fühlen sich «auf einem Pulverfass» und versuchen, für die leitenden Funktionsträger Schutz zu finden in amtlichen Anstellungen, also unter den Fittichen des deutschen Staats, den man eigentlich als überholt ansieht (2, B2).

Und so spärlich sie sind, die Texte erzählen mir doch Geschichten. Geschichten, die bislang unbekannt waren. Als Reaktion auf den Boykott deutscher Produkte wird bereits 1933 an schwarzen Listen gearbeitet und auf eine Ablösung gegnerischer Geschäftsvertreter durch Arier hingewirkt. Auch die Zeitungen sind im Visier. Man will in Berlin wissen, welche deutschfeindlich sind. Innerhalb der eben gegründeten NSDAP Ortsgruppe Basel ist eine gewisse Rivalität spürbar. Der Ortsgruppenobmann scheint nicht gerade über einen diktatorischen Habitus verfügt zu haben. Ihr Kassenwart hatte bereits das Einziehen der Mitgliederbeiträge formalisiert und scheint einen guten Draht zum Landesgruppenleiter Gustloff gefunden zu haben. Auch die Einstellung gewisser Katholiken scheint durch.

Der nach Bern schreibende «Anonymus» war offensichtlich gut dokumentiert.

Aber was ist von diesen Papieren zu halten? Viele sind zu zahlreichen Schnipseln zerrissen und nachträglich wieder zusammengeklebt worden. Auf anderen finden sich Abschriften mit Bleistift in einer anderen, sehr disziplinierten, feinen und senkrechten Schrift. Die meisten Texte sind Entwürfe. Man muss sich daran erinnern, dass im Zeitalter der Schreibmaschine Korrekturen sehr umständlich waren. Heute lässt sich ein Text am Computer laufend korrigieren und nachher beliebig ausdrucken. Damals musste man, sollten mehrere Exemplare angefertigt werden, Kopien mit eingelegten Kohlen- und Durchschlagpapieren machen. Im Falle einer Korrektur mussten alle Durchschläge bearbeitet werden, und das Original nahm erst noch Schaden, denn man konnte nichts löschen. Besser neu beginnen! Daher schrieb man den Text zunächst von Hand und formulierte den Brief ganz aus, wobei man Korrekturen einfach vornehmen konnte. Das fertige Elaborat ging dann zur Schreibkraft, und das Konzert der klappernden Schreibmaschine konnte beginnen. So verfuhr man aber auch, wenn man die Reinschrift nachher selbst tippte. War die Arbeit getan, konnte der Entwurf getrost im Papierkorb landen, meist zusammengeknüllt oder, wenn der Inhalt vertraulicher war, eben zerrissen. Normalerweise.


Das Formular des Kassenwarts Max Saurenhaus zur Anmahnung ausstehender Mitgliederbeiträge.

Hier aber sind die Fetzen sorgfältig wieder herausgefischt und fein säuberlich zusammengeklebt worden. Anderes wurde bloss abgeschrieben.

So ist es dazu gekommen, dass es ein Papierkorb ist, der all diese Geschichten erzählt hat. Sein Inhalt ist das Einzige, was von der NSDAP Ortsgruppe Basel noch erhalten geblieben ist.

Dieser Papierkorb stand im Kontor eines Fernhandelsgeschäfts, und zwar einer Familienfirma, der «M. Marchal AG». Um zu verstehen, warum und wie er zur Rolle eines Geschichtenerzählers gekommen ist, warum also die Papiere wieder aus ihm geborgen und schliesslich in zwei gelben Kuverts auf die ungewisse Reise der Dinge durch die Zeit geschickt wurden, braucht es neue Geschichten, andere Geschichten, eine Familien- und eine Firmengeschichte.

Gustloff im Papierkorb

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