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Drei Briefe aus Basel

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Die Frage, die sich mir zuallererst stellt, lautet: Ist, was in meinem Quellenfund berichtet wird, überhaupt schon bekannt? Davon wird ja abhängen, ob ich mich weiter damit beschäftige. Ich nehme mir zunächst die drei Durchschlagskopien aus dem dünnen Kuvert vor, deren Originale nach Bern geschickt worden waren. Ihr Inhalt muss also an offizieller Stelle von irgendjemandem zur Kenntnis genommen worden sein. Wie hatte man reagiert? Zeitigten die Briefe Folgen? Weiss man heute noch von dem, was sie berichten? Am besten ist es also, dieses Kapitel aus der Perspektive der damaligen Empfänger zu erzählen.

Oktober 1933

Am 16. Oktober 1933, einem Montag, traf im Bundeshaus in Bern ein kleines Kuvert aus Basel ein, adressiert «an das Eidgenössische Politische Departement, Abteilung Auswärtiges, Bern». Darin lag ein kurzer, maschinengeschriebener Brief, datiert vom 14. Oktober, mit dem Titel «Mitteilung»:

«Die Treibereien der nationalsozialistischen Partei in der Schweiz dürften Ihnen bekannt sein.

Vielleicht ist es dennoch von Nutzen für unser Land, wenn ich Sie von Nachstehendem in Kenntnis setze. Anfangs Oktober war ein Delegierter der deutschen nat. soz. von Basel in Berlin, um mit dem dortigen Aussenpolitischen Amt der N.S.D.A.P die Organisation der Partei in der Schweiz durchzuberaten.

Die Gruppe soll straffer geführt werden und der Propagandatätigkeit in der Schweiz soll eine ganz besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Man will die Schweiz nicht mit Waffen erobern, hofft aber durch Verbreitung der nat. soz.

Ideen nach und nach eine Annäherung an das III. Reich zu erlangen.

Die verschiedenen Angriffe der schw. Presse gegen die nat. soz. Partei in der Schweiz wurden ebenfalls besprochen. Da man eine Ausweisung befürchtet, will man nun dazu übergehen, den hauptsächlichen ‹Führern› amtliche Funktionen zu übertragen, damit sie gegen die Zugriffe der eidg. Behörden geschützt sind und auch die Presse ihre Angriffe einstellt. So soll vorerst der Landesgruppenführer Herr Gustloff in Davos ein Konsulat übertragen bekommen, ‹denn wenn einmal› – so heisst es in dem Bericht – ‹die Schweiz das Exequator an Pg. [Parteigenosse, Anm. d. A.] Gustloff gibt und sie wird es geben, (!) sind weitere Angriffe nicht mehr möglich.›

In Ihrer Hand liegt es, die deutschen Herren in die gebührenden Schranken zu setzen.»

Der Brief war nicht unterschrieben. Konnte ein solch anonymes Schreiben, das zudem keinen Namen preisgab, in Bern überhaupt ernst genommen werden? Immerhin schien der Verfasser Informationen über Interna der NSDAP zu haben, und er berichtete Unbekanntes über Wilhelm Gustloff.

Kenner der Szene wussten damals, dass Wilhelm Gustloff der Sekretär des Physikalisch-Meteorologischen Observatoriums in Davos war. Hierhin hatte es den Schweriner während des Ersten Weltkriegs zum Auskurieren einer Lungenkrankheit verschlagen. Man wusste, dass er ein Nazi geworden war und in Davos nebenher einen NSDAP-Stützpunkt gegründet hatte. Ende 1931 wurde bekannt, dass er zum Landesvertrauensmann der NSDAP in der Schweiz ernannt worden war. 1932 liess sich erkennen, dass er am Aufbau einer NSDAP Landesgruppe Schweiz arbeitete. Zum Zeitpunkt, als der Brief in Bern eintraf, war die innerhalb der NSDAP-Auslandsorganisation selbstständige NSDAP Landesgruppe Schweiz Tatsache, und ihr Führer, der Landesgruppenleiter Gustloff, war bereits durch antidemokratische und antisemitische Äusserungen aufgefallen.4 Dass er offiziell zum Konsul in Davos ernannt werden sollte, davon hatte man aber keine Ahnung. Und: Was hatte eine Basler Ortsgruppe, von der man noch kaum etwas wusste, damit zu tun? Man wird den Brief fürs Erste beiseitegelegt haben.

Doch drei Wochen später, am 8. November, traf erneut ein Kuvert aus Basel ein, datiert vom 7. November. Es enthielt einen dreiseitigen Brief, überschrieben mit «Mitteilung Nr. 2».

«Am 14. Oktober 1933 ging Ihnen die Meldung zu betr. der eventl. Ernennung des Landesgruppenführers in der Schweiz der NSDAP in Davos. In dieser Angelegenheit antwortet nun das A. P. der N.S.D.A.P in Berlin am 26. Oktober 1933:

‹Was die Übertragung des Konsulats in Davos an Pg. Gustloff anbetrifft, so muss das Aussenpolitische Amt aus finanziellen Gründen auf diese Neueinrichtung verzichten. Pg. Gustloff bleibt aber für diesen Posten vorgemerkt.›

Ferner wird ein eingesandter Artikel der Nationalzeitung Basel vom 30. Sept. 1933 ‹Die Achtung der Grenze› verdankt. Dieser Artikel spricht am Schluss von der Notwendigkeit die deutsche NSDAP auszuweisen.

Die Ortsgruppe Basel erneuert nun ihren Antrag nach Berlin und schreibt, dass es für die hiesigen Pg. eine ausserordentliche Beruhigung wäre, wenn dem Antrag entsprochen würde. Die Lage für die NSDAP in der Schweiz sei sehr heikel und man habe das Gefühl, auf einem Pulverfass zu sitzen. – Was wunder, wenn man sich der unlauteren Machenschaften bewusst ist, von denen die beiliegenden Briefcopien Zeugnis ablegen. Weiter wird betont, dass die Errichtung des Konsulats in Davos ja keine besonderen finanziellen Aufwendungen verursache, da es sich ja lediglich um ein Honorarkonsulat handeln würde. Die Situation der Partei in der Schweiz werde von Tag zu Tag unhaltbarer, besonders für die leitenden Organe. Der Obmann der hiesigen Gruppe beklagt sich über die terrormässigen Zustände, die hier herrschen. Ein weiterer Vorsteher der Partei in Basel missbraucht schon jetzt seine Stellung als Konsul eines kleinen südamerikanischen Staates um von Zugriffen der Behörden geschützt zu sein.

Vom Aussenpolitischen Amt sind nun die Massnahmen zur Förderung des deutschen Exports dem Aussenhandelsverband in Berlin übertragen worden.

Ich werde die Angelegenheit weiter verfolgen und Ihnen berichten. Ich betone, dass ich keiner politischen Partei angehöre und keiner der genannten Personen schaden möchte. Ich finde aber, dass es meine Pflicht ist, die Landesbehörde von diesen Vorgängen zu unterrichten.

Abschrift No. I.

Berlin den 19. Oktober 1933

Aussenhandelsverband Berlin NW 7,

Robert Koch Platz 7 (Handelsvertragsverein)

An die NSDAP Basel, z.Hd. des Herrn X Basel Zeichen J.Nr.Dr.N./Pf.

Sehr geehrte Herren!

Die Tatsache, dass der deutsch-feindliche Boykott in einem grossen Teil des Auslandes noch immer andauert und soweit wir unterrichtet sind, von einem Abflauen wenig zu merken ist, gibt uns Veranlassung, Ihnen die Anregung zu unterbreiten: Gemeinsam mit den amtlichen deutschen Auslandsvertretungen, wenn möglich mit den etwaigen Ortsgruppen der NSDAP und des Bundes der Auslanddeutschen, den deutschen Auslands-Handelskammern, den Vertrauensleuten des Leipziger Messe Amtes und des Deutschen Auslands Instituts Stuttgart folgende Listen aufzustellen:

– Eine Liste solcher Firmen und Vertreter, von denen bekannt ist, dass sie mittelbar oder unmittelbar zum Boykott deutscher Waren auffordern.

– Eine Liste von zuverlässigen und geschäftstüchtigen Vertretern, wenn möglich arischer Abstammung, möglichst nach Branchen geordnet.

– Listen von Zeitungen:

a) deutsch-freundlichen

b) deutsch-feindlichen

Vielfach wird es nötig sein, dass deutsche Firmen ihre Vertretungen im Ausland wechseln und sie in die Hände zuverlässiger deutscher Herren legen. Es wäre daher sehr wertvoll, wenn wir für die in Frage kommenden Länder über solche Listen verfügen. Selbstverständlich sind wir uns bewusst, dass die Aufmachung solcher Listen geraume Zeit beanspruchen wird und wohl auch nur in gewissem Umfange möglich sein dürfte. Aber auch dann, wenn die Listen zunächst nur wenig Adressen enthalten sollten und eine Ergänzung erst später von Zeit zu Zeit stattfindet, würden sie für uns von unschätzbarem Wert sein. Durch eine Mitarbeit würden Sie sowohl unserem Verband wie dem deutschen Aussenhandel überhaupt einen grossen Dienst erweisen.

Wir wenden uns noch an die angeführten Stellen und bitten sie um ihre Mitarbeit. Um ihre dortigen Adressen festzustellen, empfiehlt es sich, dass Sie sich mit der dortigen Auslandsvertretung in Verbindung zu setzen. Wir geben diese Anregung auch den übrigen Stellen.

Mit vorzüglicher Hochachtung die Geschäftsführung, gez. Niezsche

Darauf frägt die hiesige Ortsgruppe den Landesgruppenführer Herr Gustloff in Davos an, ob er damit einverstanden sei, dass man dieser Anregung Folge geben [soll] und bittet gleichzeitig eines ihrer Mitglieder zum Wirtschaftsberater der N.S.D.A.P. Landesgruppe Schweiz zu ernennen. Dieser Bitte wird entsprochen und der Kassenwart der hiesigen Ortsgruppe zum Wirtschaftsberater der N.S.D.A.P. Landesgruppe Schweiz ernannt.

Am 27. Okt. 1933 schreibt Herr Gustloff wörtlich: ‹Bitten möchte ich Sie, dem Gesuch der Aussenhandelsvertretung zu entsprechen, allerdings würde ich raten, dem Verband zu schreiben, dass Ihre Auskünfte gegenüber den Amtsstellen in der Schweiz (Konsulate etc.) streng geheim zu halten sind, da diese nicht als verlässig bezeichnet werden können.›

Von Basel aus wird nun an den Aussenhandelsverband in Berlin was folgt geschrieben: (Anfangs November 1933)

‹Wir kommen zurück auf Ihr gesch. Schreiben vom 19. v. M. Ohne Zweifel ist unbedingt eine Gegenmassnahme gegen die gegen Deutschland gerichtete Boykottbewegung dringend erforderlich.

Es wird von gewissen Kreisen geheim aber sehr stark gegen Deutschland gearbeitet und zwar ist in der letzten Zeit eher eine Verschärfung festzustellen als ein Abflauen des Boykotts.

Wir sind gerne bereit, die von Ihnen angeregte Arbeit durchzuführen. Auf Wunsch des Landesgruppenführers in der Schweiz der N.S.D.A.P. müssen wir aber zur Bedingung machen, dass den amtlichen deutschen Stellen im Ausland (deutsche Konsulate, Gesandtschaften usw.) das von uns zur Verfügung gestellte Material nicht zur Kenntnis gebracht wird. Der Landesgruppenführer der Schweiz hat diese Anregung nach reiflicher Überlegung getroffen. Wir haben auch mit einem Konsulat in der Schweiz die denkbar schlechtesten Erfahrungen gemacht. Wir würden überhaupt empfehlen, die Sache vertraulich zu behandeln, da es nicht im deutschen Interesse liegt, dass Ihre Schritte an der Öffentlichkeit bekannt werden.›

Ein anderer Brief aus Basel sagt: ‹Gerade in den letzten Tagen haben wir festgestellt, dass die Vertretung einer grossen deutschen Firma in einer ausgesprochen deutschfeindlichen Hand liegt.›

In einem weiteren Schreiben werden die übrigen Ortsgruppen in der Schweiz und Kreisleiter zur Mitarbeit aufgefordert.»

Das war nun dicke Post. Kaum anzunehmen, dass diese Information einfach zur Seite gelegt wurde. Die Nachricht von den erbetenen Listen war neu und musste beunruhigend gewesen sein. Es stellten sich Fragen: Der Absender hatte offenbar direkten Zugang zur Korrespondenz der NSDAP. Wer konnte das wohl sein? Wiederum verhielt er sich geheimnisvoll, nannte keine Namen. Aber er legte Fährten aus, schrieb von einem Kassenwart der Ortsgruppe Basel, von einem Wirtschaftsberater der NSDAP, von dessen Existenz zu diesem Zeitpunkt noch niemand Kenntnis hatte. Er erwähnte einen Konsul, verbarg aber das Land, das dieser vertrat, in einer Umschreibung. Warum nur? War dem Ganzen überhaupt zu trauen, oder handelte es sich um eine Desinformation?

Noch war man in der Posteingangsstelle des Eidgenössischen Politischen Departements am Rätseln, als schon wieder ein Umschlag aus Basel eintraf. Er enthielt einen zweiseitigen Brief, datiert vom 8. November, und war wiederum anonym. Merkwürdigerweise beinhaltete er das Gleiche wie das bereits vorliegende Schreiben. Allerdings wurde hier alles bloss resümierend berichtet. Ausser dem Rundschreiben des Berliner Aussenhandelsverbandes wurde nichts mehr wörtlich zitiert und auch die Datierung der verschiedenen Korrespondenzen weggelassen. Der Brief schloss mit den Worten:

«Ich werde Sie weiter unterrichtet halten, falls ich neuerdings Nachrichten erfahre, die von Interesse sind. Sie können versichert sein, dass meine Mitteilungen den Tatsachen entsprechen. Wenn die Behörden einmal einschreiten müssen, werden sie sich sofort von der Richtigkeit meiner Meldungen überzeugen. Es sei noch erwähnt, dass ein Hauptbeteiligter der N.S.D.A.P. als Konsul eines ganz unbedeutenden überseeischen Staates sich der Exterritorialität rühmt. Ich vermute, dass das belastende Material dort in Sicherheit gebracht wird. Endlich bitte ich Sie noch, die Meldung als vertraulich zu behandeln. Seien Sie überzeugt, dass es einzig die Pflicht meinem Vaterlande gegenüber ist, die mich zu diesem Schritte veranlasst.»5

Aus dem Kuvert fiel noch ein kleines, von Hand beschriebenes Blatt: «Bitte bei Befragungen diesen Brief vorlegen zur Wahrung der Vertraulichkeit.»

Das alles wird die zuständigen Bundesbeamten ziemlich irritiert haben. Warum nur machte der Anonymus auch hier keine Personen namhaft? Wenn er doch dem Vaterland helfen wollte, hätte er Namen nennen müssen. Immerhin waren einige Hinweise vorhanden, denen man folgen konnte. Aber das machte am besten die Polizei vor Ort. Eine Bundespolizei, die man damit hätte beauftragen können, gab es damals noch nicht.6 Man wird in diesem Stadium ohne weitere Abklärung gewiss darauf verzichtet haben, bereits die Bundesanwaltschaft einzuschalten. Die Mitteilungen werden im besten Fall wieder auf die Reise geschickt worden sein, zurück nach Basel ins Polizeidepartement.

In Basel sah man sich aber mit ganz anderen Problemen konfrontiert.7 Hier hatte man es mit Schikanen und Übergriffen deutscher Beamter an der Riehener Grenze und beim Hörnli zu tun, mit Entführungen, mit dem Hissen von Hakenkreuzfahnen am Badischen Bahnhof und anderswo und vor allem mit der Saalschlacht anlässlich des Sommerfests der politisch neutralen Deutschen Kolonie an der Mustermesse am 1. Juli 1933.

Die Bevölkerung war aufgewühlt. Beim Badischen Bahnhof gab es bereits stürmische Gegendemonstrationen. Die Polizei musste eingreifen. Die Basler Zeitungen, am aggressivsten die Arbeiterzeitung, aber auch die Basler Nachrichten und die Nationalzeitung, schossen aus allen Rohren gegen die Umtriebe und Rechtsverletzungen der «Nazis». Am Sommerfest nun trat erstmals ein «NSDAP Ortsgruppenführer» auf und missbrauchte die ihm zugestandenen Grussworte zu einer agitatorischen Hetzrede. Dieser «Obmann der NSDAP Ortsgruppe Basel» war von der Polizei schon am 26. Mai bei der Gründung der «Deutschen Studentenschaft» im Braunen Mutz identifiziert worden, als «Ernst Böhmer-Silberbauer, geb. 13.6.1894, preussischer Staatsangehöriger, Kontrolleur bei der Mitropa-Schlaf- und Speisewagengesellschaft». Seine Rede löste spöttische Zwischenrufe aus, und als nachher unprogrammgemäss das «Horst-Wessel-Lied», die Parteihymne der NSDAP, angestimmt wurde, blieben viele sitzen. Nun erschienen, so die Arbeiterzeitung, ungefähr fünfzig Schläger, schrien: «Aufstehen und mitsingen!», schlugen auf einige Leute ein und jagten sie aus dem Saal. Auf einen Journalisten der Nationalzeitung sei besonders eingedroschen worden. Als die Polizei sich nachträglich ein Bild zu verschaffen suchte, erhielt sie widersprüchliche Angaben. Der beim Sommerfest anwesende Leiter der Deutschen Kolonie, Prof. Erwin Ruh, schrieb am 6. Juli, dass «von Gleichschaltung» der Deutschen Kolonie keine Rede sein könne und dass es sich bei der NSDAP Ortsgruppe Basel um eine «kleine Gruppe von Reichsdeutschen» handle, «die nicht einmal 1% der deutschen Kolonie ausmachen». Der Journalist der Arbeiterzeitung, Wilhelm Auffenmann, beharrte darauf, dass er «ca. 50 NSDAP-Schläger» gesehen habe. Der im Saal anwesende Detektiv Hofer hatte nur einen kleinen Zwischenfall aufgrund einer Verwechslung bemerkt, der mit einer korrekten Entschuldigung abgeschlossen worden sei. Das eben erst gegründete Wochenblatt der NSDAP Schweiz, Der Reichsdeutsche, berichtete am 7. Juli, «über 100 Mitglieder und Freunde der Bewegung» seien anwesend gewesen und hätten Hitler hochleben lassen.8 Das Polizeidepartement konnte die NSDAP Ortsgruppe Basel schlicht nicht beurteilen, umso weniger, als diese ansonsten nicht in Erscheinung trat, so erhitzt und aufgewühlt die Atmosphäre in Basel damals auch war. Sollte da die Polizei wirklich die Schnitzeljagd aufnehmen, die ein mysteriöser Anonymus ausgelegt hatte? Und wäre das überhaupt möglich gewesen? Die gesetzlichen Grundlagen wurden erst 1935 mit dem eidgenössischen «Spitzelgesetz» geschaffen. Eine «Politische Abteilung», die gerade für solche Fälle zuständig wäre, wurde im Basler Polizeidepartement gar erst 1938 eingerichtet.9


Hakenkreuz über Basel: die umstrittene Fahne am Turm des Badischen Bahnhofs.

Als der Regierungsrat 1946 seinen abschliessenden «Bericht über die Abwehr staatsfeindlicher Umtriebe in den Vorkriegs- und Kriegsjahren sowie die Säuberungsaktion nach Kriegsschluss» vorlegte, behandelte er das Jahr 1933 nur kursorisch. Die Machtergreifung Hitlers am 30. Januar 1933 habe den nationalsozialistischen Elementen sofort starken Auftrieb gegeben. Die NSDAP Ortsgruppe, für die schon im Jahr zuvor der Boden bereitet worden sei, sei gegründet und vom Ortsgruppenleiter geradezu diktatorisch geführt worden. Sie habe regelmässig Sitzungen in einem Saal des Deutschen Reichsbahnhofs abgehalten. Über die Mitgliederzahl könne man erst ab 1936 Aussagen machen. Die Deutsche Kolonie sei dann 1938 gleichgeschaltet worden. Die Bevölkerung habe 1933 vor allem auf die Hakenkreuzfahne reagiert, die am Badischen Bahnhof, am Bahnhof der Wiesentalbahn und am Konsulat als offizielle Reichsflagge gehisst worden sei. Erst 1935 hätten kantonale Interventionen dazu geführt, dass die Hakenkreuzflagge bei festlichen Gelegenheiten nur mehr am deutschen Konsulat gehisst worden sei. Von weiteren Umtrieben der NSDAP Ortsgruppe im Jahr 1933 wusste wohl auch der Regierungsrat nichts, und er erwähnte sie auch nicht.10

*

Warum bin ich dazu gekommen, die Wirkung der Briefe so zu beschreiben, wie ich es getan habe? Ich habe schon unter der Hand die Literatur konsultiert. Das Fazit: Niemand weiss etwas von diesen Umtrieben der NSDAP im Jahr 1933. Punkt. Aber ich habe doch nützliche Informationen erhalten, und diese sollen hier kurz vorgestellt werden:

Die Literatur über die NSDAP in der Schweiz hat in letzter Zeit etwas zugenommen. Der jüngste, 2016 erschienene Beitrag von Peter Bollier, der die «Geschichte einer existentiellen Herausforderung für Davos, Graubünden und die Schweiz»11 darstellen will, ist vor allem auf den Landesleiter Gustloff ausgerichtet. Eine Ortsgruppe Basel wird nicht thematisiert und kommt nur beiläufig vor. Doch bietet Bollier einige interessante Aufschlüsse zur Organisation der NSDAP in der Schweiz. Sie erfassen allerdings das Jahr 1933 kaum: Gustloff habe erstmals 1934 begonnen, sich um das seit 1932 vakante Konsulat in Davos zu bemühen. Er habe damals nämlich regelmässige Einkünfte gesucht, nachdem er seine Stelle am Physikalisch-Meteorologischen Observatorium habe aufgeben müssen. Die NSDAP Ortsgruppen hätten monatlich Tätigkeitsberichte und Abrechnungen an Gustloff schicken müssen, und einmal jährlich seien die Parteikader verpflichtet gewesen, an einer Amtswaltertagung teilzunehmen. Das Aussenhandelsamt der NSDAP Ausland Organisation habe seit seiner Gründung Informationen über die schweizerische Wirtschaft gesammelt. Hierzu sei die Landesgruppenleitung in der Schweiz konsultiert worden. Die Ortsgruppen Basel und Zürich hätten sogar über Wirtschaftsberater verfügt, welche «an prominenter Stelle (z. Bsp. als Leiter der deutschen Handelskammer)» die Nachrichtenbedürfnisse der Zentrale zu befriedigen gehabt hätten. Diese Auskünfte hätten nicht nur Wirtschaftlichem gegolten, sondern auch die politische Einstellung, die Haltung gegenüber dem Boykott und private Daten der Führungskräfte beinhaltet. Allerdings scheint dann 1934 nur die Deutsche Arbeitsfront (DAF) in dieser Beziehung tätig gewesen zu sein. 1935 habe die NSDAP Schweiz 5000 Mitglieder gezählt, was drei Prozent der in der Schweiz wohnhaften Deutschen ausmache. Deren Zahl habe dann abgenommen, und zwar auf Druck der Parteileitung. Schliesslich bietet Bollier aufgrund einer Zusammenstellung vom 1. Januar 1935 einen Überblick über die Organisationsstruktur: Aus Basel kamen zwei Leitungsmitglieder, nämlich der «Landesgruppenverwalter der Deutschen Arbeiterfront G. Schrader» und der «Kreisleiter Nordwestschweiz E. Geiger». Wirtschaftsberater für die Schweiz kommen keine vor. Allerdings wechseln diese Zusammenstellungen innert kurzer Zeit häufig.12 Aus älteren Darstellungen lässt sich entnehmen, dass es vor allem in der Ostschweiz schon 1933 Gleichschaltungsbemühungen gegeben habe, während die Deutsche Kolonie in Basel bis 1935 sich erfolgreich habe wehren können.13 Parteigenossen in der Schweiz sei ein «direkter dienstlicher Verkehr mit Parteiinstanzen in Deutschland untersagt gewesen», er habe sich über einen Dienstweg, nämlich «über den Ortsgruppen- und Landesgruppenleiter», abwickeln müssen.14

Zur Situation in Basel gibt es zwei Beiträge: Martin Meier bietet im Katalog zur Ausstellung des Historischen Museums über das «Réduit Basel» von 1989 den ersten Überblick über «die NS-Organisationen in Basel». Die NSDAP Ortsgruppe Basel sei offiziell in den ersten Monaten des Jahres 1933 gegründet worden und am Sommerfest der Deutschen Kolonie erstmals in Erscheinung getreten. Im Oktober 1933 habe ein Kameradschaftstreffen stattgefunden. Nach dem Bericht im Reichsdeutschen habe es der «Festigung des Verbundenheitsgefühls aller Parteigenossen im Sinne der grossen Ideen unseres Führers» gegolten und sei ein voller Erfolg gewesen. Nach dem Schlussbericht des Bundesrats von 1946 hätten der NSDAP in Basel wegen der erschwerten Aufnahmebedingungen nur etwa 160 Mitglieder angehört. Über sonstige Aktivitäten der Ortsgruppe und ihre Organisation erfährt man nichts.15 Die neueste Arbeit, jene von Kai Arne Bühler über die Machtübernahme der NSDAP in Deutschland im Spiegel der Basler Presse 1933/34, bietet einen wertvollen Einblick in die damalige Stimmung und die Einschätzungen der Lage, weist aber darauf hin, «dass die Geschichte der NS-Organisationen in Basel insgesamt nur wenig aufgearbeitet ist und hier noch ein Nachholbedarf besteht».16 Aber finden sich überhaupt noch Unterlagen, etwa Sitzungsprotokolle, Abrechnungen, Mitgliederverzeichnisse und Korrespondenzen, mit denen eine Geschichte der NSDAP Ortsgruppe Basel geschrieben werden könnte?

*

Ein Archiv der Ortsgruppe Basel existiert, wenn es ein solches überhaupt je gab, heute natürlich nicht mehr. Als der Krieg zu Ende war, hat sich der Spuk vollständig verflüchtigt. Aber gibt es vielleicht Spuren im Basler Staatsarchiv?

Der Gang ins Archiv beginnt immer im Internet. Dort lassen sich mit einem speziellen Suchprogramm im Archivkatalog die Bestände durchforsten. Findet sich etwas Nützliches, lässt es sich elektronisch bestellen. Ich gebe also «NSDAP» in die Volltextsuche ein. Sofort werden alle Bestände aufgelistet, in denen dieses Kürzel vorkommt. Viele sind es nicht, und vor allem: Es gibt keine eigenen Bestände der Ortsgruppe. Lediglich das Gästebuch des Deutschen Heims aus den Jahren 1941 bis 1944 ist noch vorhanden und Materialien, die bei der polizeilichen Schliessung 1945 konfisziert worden waren.17 Für das Jahr 1933 findet sich in den Einlieferungen des Polizeidepartements unter der Rubrik «Nationalsozialismus» eine Ablage «Allgemeine Akten» für die Jahre 1932–1947.18 Die bestelle ich, soweit sie die Jahre 1933 und 1934 betreffen. Hier finden sich zahlreiche Zeitungsausschnitte von Berichten über Vorkommnisse in der Stadt, etwa über das Sommerfest, über Demonstrationen und Flugblattaktionen, es finden sich Flugblätter, Verhörprotokolle, Berichte von Detektiven, Korrespondenzen und Berichterstattungen des Departementsvorstehers Ludwig sowie Bekanntmachungen des deutschen Konsuls Foerster. Man erhält einen lebendigen Einblick in die bedrückenden Geschehnisse jener Jahre. Meine kurze Darstellung der Situation in Basel hat sich auf dieses Material gestützt. Auch einige Anzeigen von privater Seite lassen sich finden. Am ehesten hier wären wohl auch die «Mitteilungen» des Anonymus zu erwarten gewesen. Sie sind nicht vorhanden. Und irgendwelche Schriftstücke der NSDAP Ortsgruppe sucht man vergebens. Aber vielleicht findet sich etwas im Schweizerischen Bundesarchiv in Bern? Ich führe in dessen Archivkatalog die gleiche Internetrecherche durch: Für die Ortsgruppe Basel findet sich tatsächlich ein Bestand, aber erst über die Jahre 1940 bis 1947.19 Das Jahr 1933 kommt in keinem für meine Frage relevanten Archivbestand vor. Trotzdem: Ich fahre an einem regnerischen Tag nach Bern. Das Aktenmaterial ist wirklich reichhaltig. Aber wiederum handelt es sich um Polizeiberichte, Verhöre, Zeugenaussagen, Anklagen mit Belegmaterial. Akten der NSDAP Ortsgruppe selbst lassen sich nicht finden. Eigentlich erstaunlich, dass dieses reichhaltige Quellenmaterial im Basler Staatsarchiv und im Schweizerischen Bundesarchiv noch niemand verwertet hat!

Es gibt schlicht keine Quellen mehr, die Aufschlüsse über die NSDAP Ortsgruppe Basel, ihre Organisation und ihr Innenleben geben könnten. Für mich aber ist jetzt klar: Es gibt kein Zurück mehr. Ich muss die Schriftstücke publizieren. Sie berichten ja so genau von jenen Geschehnissen im Jahr 1933, über die heute niemand mehr Bescheid weiss. Und das heisst, ich muss auch herausfinden, unter welchen Umständen die Briefe geschrieben wurden und in die Hände meines Vaters gelangt sind.

Gustloff im Papierkorb

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