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Schicksal

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Sie kamen aus Wallonien. Bassenge war ihre Heimat, ein Dörfchen nördlich von Liège und nahe der Maas in der damaligen belgischen Provinz Limburg gelegen. Im 19. Jahrhundert hiess das: Sie kamen aus einer Gegend, deren Spezialität das Flechten von und der Handel mit Strohhüten war.

In der Region um Liège gab und gibt es noch immer viele Familien Marchal, und eine davon stammte aus Bassenge. Irgendwann heiratete einer von ihnen, der 1816 geborene «fabricant de chapeaux de paille» Michel Marchal, die ebenfalls aus Bassenge stammende, im rheinpreussischen Köln wohnhafte Anna Maria Botty.25 Die Verbindung wird wohl durch Geschäftsbeziehungen zustande gekommen sein, denn auch die Familien Botty fabrizierten und handelten im Rheintal von Aachen bis Köln und auch im Westfälischen mit Strohhüten.26 Die Marchal-Bottys blieben zunächst in Bassenge. Dem Paar wurden vier Kinder geschenkt, drei Töchter, Catherine, Elisabeth und Odile, und 1860 ein Sohn, Mathieu. Mit vier Kindern mag ein Auskommen im ärmlichen Dorf schwer geworden sein. So zog die Familie in die reichere Heimat der Frau nach Köln oder vielleicht auch nach Mülheim, das Köln gegenüber am rechten Rheinufer lag. Dort war gut leben. In der lebenslustigen Stadt wird das Strohhutgeschäft floriert haben. Vielleicht wurde Michel hier auf die Seidenbänder aufmerksam, mit denen die Hüte für modebewusste Damen geschmückt wurden. Hatte er die Chancen einer direkten Zusammenarbeit mit der Seidenbandindustrie erkannt? Vor Ort konnte er die neuesten Bänder leichter und früher finden als die ferne Konkurrenz. Man musste nur rheinauf in die Stadt der Seidenbänder, nach Basel, reisen. Hier stand die Seidenbandindustrie in voller Blüte. Seidenbänder waren damals der Exportschlager.27

So wird Michel, ein unternehmungslustiger Mann, mit der ganzen Familie und seinen Strohhüten wohl Mitte der 1860er-Jahre in die Stadt am Rheinknie gezogen sein. Seinen Sohn schickte er hier in die katholische Schule am Lindenberg und später an die vom gleichen Schulorden, den Marianisten, geführte höhere Internatsschule in Belfort.28 Nach dem Schulabschluss, mit 17 Jahren, trat Mathieu die kaufmännische Lehre bei einem Kolonialwarengeschäft in Basel an.29 Als er, zwanzig Jahre alt geworden, ins belgische Militär hätte eingezogen werden sollen, liess er sich von der Armee am 6. August 1880 das «congé définitif» erteilen.30 Dann tat er sich mit Heinrich Fleck aus Fulda in der Provinz Hessen zusammen, der im Januar 1885 die Aktiven und Passiven der Firma «Pfaff-Müller, Agenturen, Handel in Rohseide und Seidenabfällen» in der Steinenvorstadt 57 in Basel übernommen und die Firma «H. Fleck» gegründet hatte.31 Nach sechs Jahren wurde Mathieu zum Mitinhaber der Firma. Sie wurde 1891 in eine Kollektivgesellschaft, die Firma «Fleck & Marchal», umgewandelt. 1895 erwarb diese die Wallstrasse 11 als Firmensitz. Als Fleck sich altershalber zurückzog, wurde die Kollektivgesellschaft am 17. Oktober 1898 aus dem Handelsregister gelöscht. Mathieu übernahm die Aktiven und Passiven. Die Firma «M. Marchal, Agenturen, Handel in Rohseide und Seidenabfällen» war gegründet.32

Wie mag dieser geschäftige Mathieu seine künftige Frau, eine Kölnerin, kennengelernt haben? Zog es die Marchals immer wieder zurück in ihre wallonisch-rheinländische, katholische Heimat? Etwa um den Kölner Karneval zu besuchen? Oder zu Weihnachtsfesten mit der Verwandtschaft daheim? Wir wissen es nicht. Doch an einem sonnigen Sommertag, am 6. August 1888, trafen sich zwei Familien im Standesamt von Mülheim am Rhein. Der «Kaufmann» Mathieu Marchal, geboren zu Bassenge, vermählte sich mit der «geschäftslosen» Anna Maria Bornheim aus Mülheim am Rhein. Beide waren damals 28 Jahre alt. Zugegen waren die Eltern, einerseits der «Strohhutfabrikant» Michel Marchal und dessen Frau, die «geschäftslose» Anna Maria geborene Botty, beide zu Basel wohnhaft, andererseits der «Rentner» Christian Bornheim und die «geschäftslose» Catharina, geborene Stahl, beide aus Mülheim am Rhein. Das Paar wohnte fortan in Basel an der Leonhardstrasse 25, ab 1898 an der Wallstrasse 11.

1894 wurde «Sieur Marchal (M.)» vom belgischen König Leopold II. zum Konsul in Basel ernannt «avec juridiction sur les cantons de Bâle, de Schaffouse, d’Argovie et de Soleur».33 Mathieu Marchal war nun eine geachtete Persönlichkeit, aber, der katholischen Diaspora angehörend, wird die belgische Familie kaum in das Basler Gesellschaftsleben integriert gewesen sein.

1901 wurde Paul geboren, der später die Firma weiterführen sollte. Bis dahin war es noch ein weiter Weg; aber Paul sollte zielbewusst auf diese Aufgabe vorbereitet werden. Man schickte ihn zur Ausbildung in den französischen Sprachraum nach Fribourg ins katholische Internat St-Michel. Mathieu wird sich trotzdem um den Fortbestand des Geschäfts gesorgt haben. Ein Lichtblick wird es für ihn gewesen sein, als seine älteste Tochter Katharina Anna Maria am 6. September 1912 den 28-jährigen Kaufmann Auguste Georg Ferdinand Wein heiratete, einen in Basel geborenen, an der Wallstrasse 18 wohnhaften Franzosen aus Paris. Die Eheankündigung erfolgte international, im 2ème Arrondissement von Paris und in Bassenge. Den beiden musste einerseits vom französischen Konsul in Basel, andererseits von der Gesandtschaft des Königreichs Belgien in Bern ein Ehefähigkeitszeugnis ausgestellt werden.34 Der lebensfreudige Schwiegersohn sollte zu gegebener Zeit die Geschäftsführung übernehmen. Paul muss «Gusti», wie er in der Familie genannt wurde, bewundert haben. Am 14. Juli 1913 reiste Gusti mit dem zwölfjährigen Jungen nach Belfort, um dort das grosse Defilee auf dem Champs de Mars zu verfolgen, an dem auch Gustis Regiment teilnahm. Paul war begeistert.35


Der Firmengründer und belgische Konsul Mathieu Marchal mit seiner Gattin Anna Maria.

Ein Jahr später befand sich der Junge wieder in der Nähe von Belfort, in Mélisey, und erlebte hautnah den Ausbruch des Ersten Weltkriegs. In der Nacht zogen unerwartet Truppen vorbei, und er und sein Vater, der geschäftlich bei der dortigen Seidenspinnerei weilte, mussten überstürzt nach Hause zurückreisen – auf Umwegen, denn die Grenze zum deutschen Elsass war bereits unpassierbar. In Basel herrschte wegen des Kriegsausbruchs grosse Aufregung, und der Junge war mittendrin. Belgien war von den deutschen Armeen überfallen worden. Viele Belgier verbrachten ihre Ferien in der Schweiz und wussten nun nicht mehr weiter. Paul sah, wie sein Vater, der Konsul Marchal, zu allen Tages- und oft auch Nachtzeiten in der Grenzstadt von Hilfesuchenden bestürmt wurde. Er musste Rat geben, Ausweise ausstellen, oft finanziell weiterhelfen und für Unterkünfte und Nahrung für die Gestrandeten sorgen. Paul half, wo er konnte, und war stolz, wenn er mit dem Magaziner des Geschäfts Kriegsvorräte einkaufen und einen Leiterwagen voller Esswaren und Petroleumkanister nach Hause karren konnte.36 Dann rückte Gusti nach Belfort zu seinem Regiment ein. Dies alles vermittelte dem 13-Jährigen das Gefühl, einen erschütternd grossen Augenblick der Geschichte zu erleben. Er kaufte sich ein wächsernes Oktavheft und schrieb auf die erste Seite in grosser Schrift den Titel: «Der Europäische Krieg vom 1.August 1914 –… Von Paul Marchal». Schon im März brauchte er ein weiteres Heft: «Heft 2. Inhalt vom 8. März 1915 – ». Mit kleiner Schrift in eng beschriebenen Zeilen notierte er Tag für Tag die Kampfhandlungen, wie er sie aus Zeitungen und wohl auch von seinem gut unterrichteten Vater erfahren hatte – und hielt das durch bis zum 16. Oktober 1915. Merkwürdiger Junge! Eigenbrötlerisch am Verlauf von Offensiven, Gegenoffensiven und Schlachten zu Land und zur See interessiert. Im November 1916 traf die Nachricht ein, dass Gusti bei der Monastir-Offensive der Alliierten gefallen war.

Schicksal.

Es war ein schwerer Schlag und hatte Folgen auch für Paul: Der Vater konnte nun nicht mehr eine längere Ausbildungszeit für ihn vorsehen. Paul musste sich so bald wie möglich ins Geschäft einarbeiten. Als das Ende des Kriegs absehbar wurde, suchte sich sein Vater zudem von seinen diplomatischen Pflichten zu entlasten, um sich ganz aufs Geschäft konzentrieren zu können. Am 10. September 1918 akzeptierte der belgische König Albert I. die «démission honorable» seines Konsuls.37 Paul wurde am 18. Mai 1918 Bürger von Basel.38 Er wollte nicht mehr abseitsstehen, sondern ebenfalls Militärdienst leisten, in der Kavallerie, für die Schweiz.

Diese Jugenderlebnisse prägten Paul fürs ganze Leben. Deutschland stand er immer misstrauisch, ja zeitweilig feindselig gegenüber. Noch in hohem Alter konnte er sein negatives Urteil im Grunde nicht revidieren. Zeitlebens stand er auf der Seite Frankreichs, Belgiens natürlich und der Alliierten. Allerdings nahm er immer das Rheinland aus. Die Familie hielt nämlich die Kontakte zu den Verwandten in Mülheim und Köln stets aufrecht. Für Paul blieben die Weihnachtstage in Mülheim und das «Kölle Alaaf!» unvergessliche Kindheitserinnerungen, und das Kölsch war das Idiom seiner Mutter.

Nach dem Krieg muss die alte Heimat wieder näher gerückt sein. Die Familie besass ja noch immer Besitzrechte in Bassenge, von denen sie sich erst 1937 trennen sollte.39 Es wird wieder zu gegenseitigen Besuchen gekommen sein – und hierbei wird die zweitälteste Schwester ihren künftigen Ehemann kennengelernt haben. Am 31. Mai 1920 beurkundete das Standesamt Basel die Eheschliessung zwischen dem 31-jährigen «Kaufmann (Colonialwaren en gros)» Maximilian Joseph Saurenhaus, «preussischem Staatsangehörigen, geboren und wohnhaft in Mülheim, Stadt Köln am Rhein», und der 29-jährigen «berufslosen» Anna Christine Ernestine Marchal von Bassenge, wohnhaft an der Wallstrasse 11 in Basel. Im Alltag nannte man sie Max und Erna. Max’ Vater, der «Kaufmann» Wilhelm Saurenhaus, war damals bereits verstorben. Die Mutter, Anna Catharina Alexandrine geborene Botty, lebte noch in Mülheim. Trauzeugen waren die Kaufleute Mathieu Marchal und Pascal Botty, der ebenfalls in Basel wohnte. Wieder, wie ganz am Anfang dieser Geschichte, erscheinen die beiden Kaufmannsfamilien Marchal und Botty. Zugleich zeigt sich, wie wenig integriert die Familie des belgischen Honorarkonsuls in der Basler Gesellschaft war, auch wenn sie noch so sehr am Leben der Stadt teilgenommen haben mochte. Trauzeugen waren keine Basler Freunde. Man bewegte sich unter seinesgleichen, im Milieu der in Basel niedergelassenen ausländischen Kaufleute. Und fast will es scheinen, als wäre diese Ehe zwischen Max und Erna arrangiert gewesen. Von nun an war Erna Saurenhaus-Marchal aus Bassenge deutsche Staatsangehörige.

Man mag schon etwas erstaunt darüber sein, dass nach all den schmerzhaften Erfahrungen des Kriegs ein Deutscher in den Familienkreis aufgenommen wurde. Aber die entfernte Verwandtschaft, das gemeinsam Rheinländische und das Berufsmilieu überwogen offensichtlich gegenüber den nationalen Ressentiments. An einem der ersten Junitage des Jahres 1920, nach der kirchlichen Trauung, wird man, wie 1912 bei der Hochzeit von Gusti und Maria,40 gewiss ein grosses Hochzeitsfest im Basler Casino gefeiert haben. Das Essen war reichlich, man tanzte und lachte. Niemand konnte wissen, was die Zukunft bringen würde.

Schicksal.

Und wenn man die Anfänge im Grenzland zwischen Belgien, Holland und dem preussischen Rheinland und später den Einbezug von Paris mitbedenkt: europäisches Schicksal.

Gustloff im Papierkorb

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