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Оглавление4: Vom Aufnahmelager bis zur eigenen Mietwohnung
Am nächsten Morgen ging meine Reise in ein Aufnahmelager in Zirndorf bei Nürnberg weiter. Dort war ich mit vielen Menschen aus verschiedenen Ländern zusammengewürfelt worden. Die meisten schienen sehr verunsichert, alle sprachen schlechtes Deutsch. Auch meine Sprachkenntnisse waren quasi bei Null – ich nutzte Hände und Füße und versuchte geduldig und flexibel zu bleiben, auch dem Essen gegenüber, das ich sehr gewöhnungsbedürftig fand. Wir kochten im Flüchtlingsheim anfangs heimische Gerichte und gewöhnten uns erst nach und nach an das deutsche Essen. Inzwischen möchte ich das hiesige Essen nicht mehr missen. Besonders die schwäbischen Spätzle mit Wienerle und Linsen haben es mir angetan. Ich bin halt doch ein echter Schwabe geworden.
Mein Zimmer teilte ich mit mehreren Personen. Es gab Regeln, wie Pünktlichkeit und Ordnung. Nachmittags ging ich manchmal spazieren. Ich hatte inzwischen einige Eziden kennengelernt. Wir trafen uns gelegentlich im Park und tranken ein Bier zusammen. Da machte ich eine interessante Feststellung: Einige Menschen waren sehr nett zu mir, von anderen fühlte ich mich irgendwie diskriminiert. Ich war der Behinderte, mit mir wollten sie nicht zusammen gesehen werden. Das machte mich traurig! Doch es regte sich auch Widerstand in mir! Nein, ich wollte mich nicht wieder von Ablehnung und Diskriminierung beeindrucken lassen, nie wieder! Was ich in der Heimat erlitten hatte und dass ich nicht mal Hilfe vom eigenen Staat bekam, das sollte mich nie wieder niederdrücken. Ich dachte: „Das ist mir wurscht. Ich werde hier in Deutschland nette Menschen kennenlernen und auch Arbeit finden!“
Also sprach ich auch bei meinen Anrufen zu Hause nur von meinen positiven Erlebnissen. Meine Mutter und meine Schwestern freuten sich. „Wie gefällt dir Deutschland?“ „Sehr gut. Nur bin ich momentan noch ein bisschen wie stumm und taub, weil ich die deutsche Sprache noch nicht kann. Aber die werde ich schon noch lernen und dann werde ich mir damit meine neue Zukunft aufbauen!“
Soviel stand fest: Egal wie schwer diese Sprache sein würde, ich würde niemals aufgeben. Deutschland, seine Sprache und die Menschen hier – das war jetzt meine Heimat, meine Zukunft.
Einmal stellte ich bei einem Arztbesuch in Zirndorf in Bayern fest, dass auf dem Krankenschein mein Geburtsdatum nicht stimmte. Ich ging zur Ausstellungsbehörde und meldete das. „Entschuldigen Sie, da steht 1975, aber ich bin 1985 geboren. Ich bin doch nicht zehn Jahre älter!“ Die Dame verwies auf den Polizisten aus München, der meine Ankunft in Deutschland als erster aufgenommen hatte. Der Fehler von dieser Aufnahme war noch nicht korrigiert worden. Das gab eine große und komplizierte ‚Verwaltungsschleife‘, doch mit viel Unterstützung erhielt ich nach einigen langen Wochen mein korrektes Geburtsdatum zurück. Puh, Glück gehabt!
Nach ungefähr zwei Monaten bekam ich einen Termin wegen meines Asylantrags. Ich wollte gerne nach Stuttgart ziehen, weil dort meine Cousine wohnte. Sie könnte mir sicher gut helfen, auch mit Übersetzungen. Ich brauchte ja weiter medizinische Unterstützung und auch Hilfe bei Verwaltungsangelegenheiten. Es gab so viel zu lesen und zu schreiben, Anträge und Formulare auszufüllen. Da sagt man wohl: typisch Deutsch. Und dann war da erneut die deutsche Bürokratie. Stuttgart befindet sich in einem anderen Bundesland als Zirndorf, das in Bayern liegt. Stuttgart aber liegt in Baden-Württemberg, also war ein Umzug nicht erlaubt. Das Asylrecht besagt, dass man an das Bundesland gebunden ist, in dem man registriert wurde. Und das war bei mir Bayern. Ich durfte also nur in Bayern umziehen, ich durfte nicht in das Bundesland ziehen, in dem meine Cousine wohnte. (*) Das war hart für mich und meine Integration. Verletzt an Körper und Seele, entwurzelt aus der Heimat und so fern von der Familie – da wäre Verbindung und Nähe zu meiner Cousine wertvoll gewesen!
Stattdessen war ich weiterhin auf mich alleine gestellt. Fünfzig Tage später wurde ich nach Neu-Ulm in das Asylheim an der Eckstraße verlegt. Diesmal belastete mich der Umzug sehr. Wieder war alles komplett neu und fremd: das Bürgerbüro, die Ärzte, die Menschen. Wieder waren keine Helfer für Übersetzungen und Deutschunterricht für mich da. Wie konnte ich sagen, was ich brauchte, was für meine Behinderungen notwendig war – ich hatte ja nicht nur den linken Arm verloren, sondern ich brauchte auch regelmäßige Nachsorge für mein krankes Auge und Ohr, vielleicht würde ich ein Hörgerät benötigen! Doch niemand hatte Zeit und Geduld mit mir. Die Menschen sagten, es täte ihnen leid, aber sie könnten mich nicht verstehen und mir daher auch nicht helfen. Das Deutsch-Lernen wurde also immer dringender!
Ich begann so gut ich konnte zu recherchieren und erfuhr, dass man erst mit der offiziellen Anerkennung des Asylantrags einen Deutschkurs besuchen darf. Na, bravo! Aber ich brauchte die Sprache jetzt, ich musste doch mit dem Arzt reden, die Formulare bearbeiten und bei den Ämtern vorsprechen. Es musste also ein Dolmetscher her, solange ich keinen Deutschkurs bekam. Aber woher sollte ich den nehmen?
In meiner tiefen Sorge schickte mir der Zufall Hilfe: Salah, ein Iraker; wir waren uns eher zufällig begegnet. Der Frisör aus Nasria hatte bei unserer Begegnung angeboten, dass ich mich melden dürfe, wenn ich mir die Haare schneiden lassen wollte oder Hilfe brauchte. Und die brauchte ich jetzt. „Das mache ich gerne für dich, ruf mich einfach an, wenn du Termine hast. Dann komme ich und übersetze für dich.“
So ein Segen! Salah war da, als ich ihn brauchte. Ich war tief gerührt und dankbar. Er nahm sich Zeit, manchmal sehr viel Zeit. Dann überließ er den Frisörsalon seinen Angestellten und kam mit mir zum Arzt und manchmal auch in die Krankenhaus-Ambulanz. Die Ärzte in Deutschland hatten viel gesehen, was sie bei mir noch verbessern konnten. Ich bekam ein Hörgerät, eine Brille, und als mein kaputtes Auge sich buchstäblich in Tränen auflöste, bekam ich ein Glas-Auge. Damit war nun endlich der ewige Augenschmerz weg, die Sehfähigkeit dieses Auges war ja eh schon verloren gewesen. Auch eine Prothese für meinen Arm sollte gebaut werden – dazu später mehr.
Jetzt begleitete mich Salah erst einmal überall hin, wo ich sprachliche Unterstützung brauchte. Ich teilte ihm mein Bedauern darüber mit, dass er wegen mir immer wieder stundenlang den Salon verließ, aber das wollte er nicht hören. „Amr – Khidma. Befiehl – ich diene!“ So sagen wir zu Familie und Freunden, und so wollte er es. „Ich helfe dir gerne, wenn ich kann.“ Sogar den Ärzten im Krankenhaus sagte er das, und er würde auch beim Bezahlen helfen. Mir wird ganz warm, wenn ich daran zurückdenke. So ist es bis heute: Das Haareschneiden ‚darf‘ ich nicht bezahlen! Ungefähr vier Monate später waren meine Sprachkenntnisse endlich gut genug, so dass ich mehr und mehr Termine selbstständig erledigen konnte. Aber zum Haareschneiden gehe ich immer noch zu Salah, und ich freue mich jedes Mal, wenn ich ihn wiedersehe!