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3: Raus aus der Sackgasse – Mit Hoffnung im Gepäck

Immer quälender wurde meine Gegenwart. Ein behinderter Ezide im Irak – statt Respekt und Anerkennung vom Staat gab es nur Diskriminierung und Verachtung. Mein Herz blutete, mein Lebensmut litt. Wäre ich besser doch gestorben? Gab es denn überhaupt eine lebenswerte Zukunft für mich? Meine Sorgen waren die Sorgen aller. Gab es einen Ausweg, einen Weg, den wir ganz alleine schaffen würden? Weitergehen konnte es so jedenfalls nicht. Ich konnte nicht für den Rest meines Lebens nur auf Kosten der Familie, ohne Arbeit und ohne eigenes Einkommen zu Hause bleiben.

Gut ein Jahr nach dem Anschlag in Mosul kam es zu einer weiteren Katastrophe (*): In den ezidischen Städten Siba Sheikh Khedir (und ähnliche Schreibweisen; arabisch: Al-Jazirah) und Tel Azer (Til Ezer und verschiedene weitere Schreibweisen; arabisch: Al-Qahtaniyah) wurden zwei Lastwagen voller Sprengstoff durch jihadistische Selbstmordattentäter (Al Qaida) in die Luft gejagt. Wieder gab es Tote, über 2000 wurden geschätzt, und zahllose Verletzte in einer zerstörten Heimat. Chaos herrschte, Verzweiflung griff um sich – und doch gab es Hoffnung:

In Deutschland war schon vor Jahren von offizieller Seite her Zuflucht angeboten worden; hier bekamen Eziden als Verfolgte Asyl. Hier gab es eine Chance auf Zuflucht vor Terror und Mord. Schutz für uns, für mein Volk - also auch für mich! Ich würde in Deutschland Schutz, Anerkennung und vielleicht eine lebenswerte Zukunft bekommen!

Ich sprach mit meiner Familie. Meine Mutter und einige Geschwister hatten auch schon an meine Emigration gedacht. In die vage Hoffnung hatte sich bereits Angst gemischt: Wie sollte ich ohne die Hilfe der Familie zurechtkommen – ohne dass sie für mich kochten, wuschen …

Wir wälzten die Gedanken hin und her, immer wieder. Eine meiner Cousinen machte uns Mut. Sie lebte schon seit über zehn Jahren in Deutschland und meinte: „Hier wärest du sicher, Hady. Hier gibt es Anerkennung und gute Ärzte. Ob es aber Arbeit für dich gibt, Arbeit mit nur einem Arm, das weiß ich nicht, Hady.“ Wir berieten uns. Am Ende stand fest: Ich brauchte ein Visum für Deutschland! Nun stellte ich den Antrag auf ganz legale Weise, so, wie es die Regierung vorschrieb. Doch wieder musste ich einen seelischen Schlag einstecken: abgelehnt! Herr Hady Jako bekommt kein Visum. Selbstverständlich, diese Regierung will mich quälen; es gab für mich kein würdiges Leben im Irak, aber auch keine Hoffnung auf Ausreise! Legal war eine Ausreise nicht möglich.

Wir waren sprachlos und ratlos. Welche Möglichkeiten hatte ich jetzt noch? Eine illegale Ausreise, eine Flucht mit Hilfe von Schleppern, war das die einzige Chance? So etwas ist gefährlich, das wussten wir. Viele Menschen waren auf der Flucht schon umgekommen: Verhungert, verdurstet, erschossen, ertrunken, erwischt, eingesperrt und dann zurückgeschickt.

Und doch, wir wollten es versuchen. Im Irak befand ich mich ohne Hoffnung auf eine Zukunft in einer Sackgasse. Also suchten wir im Geheimen nach einer Möglichkeit des Entkommens. Mein Bruder war es, der eine Möglichkeit fand: Illegal und gefährlich – außerdem teuer! 12.000 US-Dollar Schlepperkosten plus 400-500 USD für Verpflegung mussten gezahlt werden. Dieses Geld mussten wir zunächst einmal zusammenkratzen. Wir verkauften Schafe, liehen uns Geld bei Freunden, kratzten unser Erspartes zusammen und reduzierten unsere Ausgaben. Es dauerte ein ganzes Jahr, bis wir das nötige Geld gesammelt hatten!

Dann wurde alles konkret organisiert und es hieß zu warten, warten auf den Anruf des Schleppers. Mich zerriss es innerlich: Einerseits hüpfte mein Herz vor Freude auf ein neues Leben, ein Leben in Sicherheit und Würde mit staatlicher Anerkennung, medizinischer Unterstützung und Hoffnung auf Arbeit. Andererseits drückten mich Angst und Sorge nieder: Meine Mutter, meine Geschwister, Freunde und Nachbarn – würde ich sie jemals wiedersehen? Würde es jemals Frieden unter den Religionen und Völkern geben? Würde es jemals Reisefreiheit und eine Wiedervereinigung geben? …

Dann kam der Anruf des Vermittlers meiner illegalen Ausreise. Wir weinten und beteten. Mein Herz war schwer, sehr schwer. „Bitte, weint nicht, ich muss gehen.

Ich reise in ein Land, in dem es Hoffnung gibt!“ Tiefe Gefühle umspülten uns. Letzte, lange Umarmungen verschmolzen unsere Abschiedsschmerzen miteinander zu unsterblicher Treue. „Komm gut an, mein Sohn - Gott segne deinen Weg!“

Schweigend fuhr mein Bruder mich bis zur türkischen Grenze. Dort übergab er mich dem Schlepper. Jetzt sprach er doch - letzte Worte für mich: „Sei stark Hady. Ich vertraue darauf, dass du auf dich aufpassen kannst. Und ich vertraue auf Gott, dass er dich beschützen wird!“ Das war alles, dann verschwand er im Dickicht. Der Schlepper zeigte auf einen Lastwagen; ich kletterte in den Laderaum, dann wurde es dunkel.

Das war am 27. März 2009, auf den Tag genau drei Jahre nach dem Bombenanschlag, der mein Leben so radikal durcheinandergewirbelt und verändert hatte. Meine quälend anstrengende Reise nach Deutschland begann: versteckt, illegal, todesmutig. Fünf Personen plus Schlepper waren wir.

Einmal wurden wir in einem LKW transportiert, ein anderes Mal in einem PKW, einmal mussten wir unter einem LKW liegen und warten, ein anderes Mal wurden wir in einem Hinterzimmer eingesperrt. Wo das alles geschah, das weiß ich nicht. In unregelmäßigen Abständen wurde uns Wasser oder ein Brot gereicht. Bezahlt wurde ein Vielfaches der Normalpreise. Wir durften ein Versteck niemals verlassen und wir durften auch auf keinen Fall miteinander sprechen. Nur warten mussten wir, warten auf den nächsten Wegabschnitt, auf die nächste Rast. Manchmal dauerte es sehr lange bis zur nächsten Pause, so lange, dass die Atemluft knapp wurde. Die Lebensgefahr fuhr ständig mit: Einmal lagen wir 17 Stunden unter einem LKW zwischen den rasenden Reifen versteckt! Die Anweisung hatte gelautet: NICHT herauskriechen, auch nicht bei Fahrtunterbrechung, denn das könnten Polizeikontrollen sein.

Im Kopf hatten wir Berichte über schreckliche Unfälle, erstickte Flüchtlinge, verhungert, verdurstet. Im Herzen tobte der Mut der Verzweiflung, eine Mischung aus Todesangst und dem Willen, durchzuhalten. So erregt wir innerlich waren, so regungslos verhielten wir uns äußerlich: Stundenlang verharrten wir in einer Position, manchmal gab es keine Möglichkeit, sich zu drehen. Schmerzliche Schockstarre überkam uns, nicht einmal Tränen liefen. Aber die Notdurft, die lief schließlich doch. Meine Wunden schmerzten unerträglich, das Gesicht und der Bauch fühlten sich roh und blutig an. War das vielleicht doch die Reise in den Tod? In dieser Ungewissheit war er auf jeden Fall allgegenwärtig. Es war eine Elendsreise, doch ein Gedanke gab uns Mut: Raus! Raus dem Irak! Wir mussten durchhalten, und dann würde ein Leben in Frieden und Freiheit beginnen.

So kamen wir tatsächlich an: dreckig, stinkend und am Ende unserer Kräfte. Meine vier Mitreisenden und ich kletterten aus dem Laderaum des letzten LKW – und im selben Moment waren sie weg. Weg, untergetaucht! Ich sah sie nie wieder. Auch der Lastwagen verschwand. Ich stand alleine an der Straße. Wo war ich? War das Deutschland? In welcher Stadt war ich? „Allemagne?“, fragte ich einen Passanten. Inzwischen weiß ich, dass er mir gute Informationen gab, aber damals konnte ich nichts verstehen. Von einem Araber erfuhr ich schließlich, dass ich in Deutschland war, in der Stadt München. Ich wollte meinen Bruder anrufen und meiner Familie mitteilen, dass ich lebe – doch sein Handy wollte der Mann mir nicht geben. „Geh zur Polizei, dort wird dir weitergeholfen.“ Ich verlief mich trotz seiner Wegbeschreibung und der U-Bahn-Karte. Ich irrte in dieser großen Stadt herum, dreckig, stinkend und hungrig. In einer Pizzeria kaufte ich von dem Rest Geld, der mir geblieben war, etwas zum Essen (geblieben waren 40 € von ca. 450 € Verpflegungsgeld). Ich aß und trank und schöpfte neue Kraft.

Ein Mann aus Afrika brachte mich zu einer Telefonzelle und ich konnte meinen Bruder erreichen. ENDLICH! Mein Anruf brachte ihm Erlösung, das Warten und Bangen hatte ein Ende. Ich spürte seine Gefühle so deutlich, als stünde er neben mir, als würde ich innig von der ganzen Familie gedrückt!

Da wurde mir etwas leichter ums Herz und ich suchte weiter nach einer Registrierungsstelle für Flüchtlinge in München. Ein Polizist schickte mich weg, er verstand ja nicht, was ich wollte. Sicher dachte er, ich bin ein Verrückter, so dreckig und stinkend wie ich war.

Und wieder sprach ich zu einem anderen Polizisten: „I am Iraki, I am new here, I have no papers. And I will not go back! I will stay here with you.“ Der Polizist telefonierte, es dauerte eine Viertelstunde, dann durfte ich mit ihm im Auto zur Polizeistation fahren. Dort wurde ein Dolmetscher für mich bestellt, doch ich war längst auf meinem Stuhl eingeschlafen. Die Strapazen der Flucht krochen mir aus den Knochen. Später erfuhr ich, dass drei Stunden vergangen waren, als mich ein arabischer Gruß weckte. „Salam Aleikum!“ Ich blickte verwirrt in freundliche, dunkle Augen. Der Mann war Ägypter und half mir, meine Geschichte zu erzählen: Wer ich bin, wann und wo ich geboren wurde: Mein Alter glaubte er mir nicht: „24? Du siehst eher aus wie 124!“ Das wollte er später noch kontrollieren. Jetzt sollte ich erst einmal erzählen, woher ich gekommen war und warum ich in Deutschland bleiben wollte.

Der Polizist und der Dolmetscher waren nette Menschen, und sie folgten meinen Erzählungen. Ganz still wurden sie, nur ab und zu stellten sie eine Frage. „Die ezidische Minderheit hat im Irak keine Rechte. Schauen sie, was sie mit mir und so vielen anderen gemacht haben. Es gibt keine Hilfe, keine Hoffnung auf ein würdiges Leben für mein Volk!“. Da hatten sie keine Fragen mehr und keine Kommentare zu meiner illegalen Einreise. Was war einem Eziden ohne Visum auch anderes übrig geblieben!? Ob ich die 12.000 Dollar an meinen Bruder zurückzahlen müsse? Nein, beteuerte ich, das hatte er von Anfang an nicht gewollt. Ich spürte das Mitgefühl dieser beiden Männer. Ich durfte duschen, bekam eine warme Mahlzeit und ein Nachtlager. Am nächsten Morgen erhielt ich vorläufige Papiere. Ich wurde zusammen mit einigen anderen Geflüchteten in ein Aufnahmelager gebracht.

Dort erhielt ich am nächsten Abend Besuch: Es war Mashal, ein Verwandter, der schon seit längerer Zeit in Deutschland lebte. Er brachte mir ein Handy, Kleidung und etwas Geld. Er war von meinem Bruder im Irak informiert worden und war sofort gekommen. Wir schauten einander an und fielen uns in tiefer Verbundenheit in die Arme. Ein Vertrauter in der neuen Heimat war für mich da, das bedeutete Unterstützung, Hoffnung. Unbeschreiblich fühlte sich das an – ja, jetzt war ich angekommen, jetzt war ich hier, in sehnsuchtsvoller Erwartung meines neuen Lebens und gleichzeitig mit sehnsüchtigen Gedanken an meine Lieben in Ghobal. Mit aufgewühltem Herz legte ich mich in dieser ersten Nacht in Deutschland schlafen. Diese erste Nacht in meiner neuen Heimat bescherte mir wilde, schöne alte und unbekannte neue Träume.

Explosion und dann?

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