Читать книгу Öffne dein Herz - Hanna Berghoff - Страница 6
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ОглавлениеSchön ist es hier schon.
Als Melanie in den Ort hineinfuhr, fühlte sie sich in der Zeit zurückversetzt. Auch wenn das hier Bayern war, aber es erinnerte sie an ihre Kindheit, wenn sie die Ferien auf dem Bauernhof ihrer Großeltern in Niedersachsen verbracht hatte. Jetzt lebte sie schon so lange in Berlin und verbrachte höchstens die Wochenenden in der Natur, dass es ihr ganz merkwürdig vorkam, an einem Wochentag solche Bilder genießen zu können.
Bunt angestrichene alte Fachwerkhäuser mit spitzen roten Dächern begrüßten sie, manche mit geschwungenen Giebeln, hochaufgerichtete Kirchtürme, Kopfsteinpflaster, ein mittelalterlicher, malerischer Marktplatz. Eine richtige Oase für die Augen.
Die Fahrt hierher war anstrengend gewesen, wie üblich Baustelle an Baustelle, und nach den sechs Stunden, die sie dafür gebraucht hatte, fühlte sie sich erschöpft. Glücklicherweise war es nicht sehr schwierig gewesen, noch von Berlin aus ein Zimmer auf einem Hof in diesem Dorf hier zu buchen. Es war Mitte Juni, und die Sommerferien würden erst in ein paar Wochen beginnen.
Auf der Fahrt hatte es zum Teil geregnet, sogar ein Gewitter war in der Ferne aufgezogen, aber zum Glück hinter Melanie, nicht vor ihr. Hier jedoch herrschte nun schönstes Sommerwetter. Das Thermometer im Auto zeigte fünfundzwanzig Grad Außentemperatur an, am früheren Nachmittag war die Temperatur sogar bis auf achtundzwanzig Grad gestiegen.
Auch wenn die Fahrt anstrengend gewesen war, machte sich deshalb fast so etwas wie Urlaubsstimmung in Melanie breit. Aber sie durfte nicht vergessen, dass sie zum Arbeiten hier war.
Selbst jeder Bauernhof, der Zimmer vermietete, hatte heutzutage eine Webseite, und so hatte Melanie schon die Adresse des Hofs in ihr Navi eingegeben, bevor sie losgefahren war. Für die Autobahn hätte sie das zwar nicht gebraucht, aber jetzt erwies es sich als äußerst praktisch.
Die Navi-Stimme leitete sie durch schmale Gassen auf eine Anhöhe hinauf. Nachdem sie oben angekommen war, eröffnete sich vor ihr der schon auf der Webseite versprochene Panoramablick über das ganze Naabtal mit dem Fluss in der Mitte. Als Wasserliebhaberin hatte Melanie sich vor allem von der Aussicht angezogen gefühlt, dass nicht nur der Fluss, sondern auch die Oberpfälzer Seenplatte hier direkt vor der Haustür lag.
Doch leider war das ja mehr eine theoretische Möglichkeit. Denn sie hatte hier einen Job zu erledigen. Danach musste sie nach Berlin zurück. Freizeitaktivitäten waren höchstens mal für den Abend vorstellbar, wenn sie sonst nichts mehr tun konnte. Dennoch nahm sie sich vor, wenigstens einmal auf einem der vielen Seen in ein Boot zu steigen. Und wenn es nur ein Tretboot war.
»Frau Tieck?« Eine warme Frauenstimme mit bayrischem Akzent sprach sie an, während Melanie noch neben ihrem Wagen stand und sich gar nicht von dem Flusspanorama, das unter ihr lag, lösen konnte.
Sie lächelte und drehte sich zu der Stimme um. »Ja. Frau Brandl?«
Eine stämmige Frau Ende dreißig kam auf sie zu und nickte freundlich. »Grüß Gott und herzlich willkommen.«
Grüß Gott, dachte Melanie. Ja, stimmt, ich bin in Bayern. »Guten Tag«, sagte sie.
»Wir haben schon auf Sie gewartet«, begrüßte Frau Brandl sie freudig und streckte ihr die Hand entgegen. »Haben Sie Gepäck? Dann kann mein Mann es Ihnen hineintragen.«
Melanie schüttelte die Hand und öffnete dann ihren Kofferraum. »Nur diese Reisetasche«, sagte sie und nahm die Tasche heraus. »Die braucht niemand für mich zu tragen.« Sie lachte. »Das schaffe ich noch allein.«
»Dann zeige ich Ihnen gleich Ihr Zimmer.« Frau Brandl streckte einen Arm in Richtung des alten Bauernhauses aus. »Die Pension ist im Herrenhaus.«
Das war also einmal ein ganzer Bauernhof. Nachdenklich stocherte Melanie mit einem halbverkohlten Stock in der Asche herum. Überall lagen kleinere oder größere Haufen davon, unterbrochen von halb oder ganz verkohlten Balken und Brettern, manchmal einzeln, manchmal zu regelrechten Scheiterhaufen aufgeschichtet.
An einer Stelle hatte sich wohl während des Brandes der Balkon vom Haus gelöst, war auf den Boden gefallen, wobei der Großteil des Feuers aufgehört hatte zu lodern, während das Haus dahinter fast vollständig abgebrannt war. So sah der Balkon nun aus, als hätte ihn jemand dort auf dem Hof vergessen, und er müsste noch irgendwo an einem anderen Haus angebracht werden, weil er fast vollständig intakt war.
Scheunen, Haus und Nebengebäude schienen zum größten Teil aus Holz bestanden zu haben. Es war kaum mehr etwas davon übrig. Selbst die Mauerreste schienen kurz vor dem Zusammenbrechen zu sein. Neben Asche und verkohlten Holzresten gab es jedoch auch noch schlackenartige Rückstände, von denen Melanie nicht wusste, was sie zuvor dargestellt haben konnten. Das würde wahrscheinlich die Feuerwehr wissen, die sie erst einmal dazu befragen musste.
Hinter einem der hügelartigen Scheiterhaufen knackte es, als hätte jemand auf einen Ast getreten. Aber eigentlich knackte es hier überall. Obwohl die Feuerwehr offensichtlich sorgfältig gelöscht hatte, rauchte es unter manchen Schutthaufen, als würde darunter immer noch ein Feuer schwelen.
Plötzlich schien sich einer dieser Schutthaufen in Bewegung zu setzen. Wahrscheinlich war es nur ein Schatten, den sie da nur aus dem Augenwinkel gesehen hatte, dachte Melanie kurz darauf, weil sich sonst nichts weiter tat. Vielleicht ein Vogel, der kurz die Strahlen der Sonne unterbrochen hatte, um dann seinen Weg in eine andere Richtung fortzusetzen.
Für die Vögel, die vielleicht täglich hier vorbeigekommen waren, irgendwo einen Platz hatten, an dem sie sich ausruhten, einen Balken an einer Scheune oder so etwas, war das hier jetzt sicherlich auch ein Schock. Zumindest aber mussten sie sich einen neuen Platz suchen. Vielleicht hatte dieser Vogel hier nur die Lage gecheckt.
Dann jedoch sah sie, dass es kein Vogel gewesen war, denn eine Gestalt schälte sich aus dem Schatten einer noch halb stehengebliebenen Mauer heraus. Die Gestalt einer Frau.
Es sah aus, als wäre es eine junge Frau, ein paar Jahre jünger als Melanie, vielleicht Anfang zwanzig, und sie hatte ziemlich lange Haare, die sie an der Seite zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden hatte, sodass sie ihr über die Schulter nach vorn fielen. Das glänzende Mittelbraun hob sich von einer eierschalenfarbenen Bluse ab, die sie zu einem locker glockig fallenden, ins Orange gehenden leichten Sommerrock mit einer Art hellerem Pünktchenmuster trug, der so lang war, dass er ihre Knie bedeckte. Dazu passend trug sie Schuhe, die zwar recht bequem aussahen, aber trotzdem einen kleinen Absatz hatten. Hinten waren sie offen und wurden nur durch eine schmale Schlinge über der Ferse verankert.
Es hatte etwas Trachtenmäßiges, war aber keine Tracht. Wohl eher die abgewandelte Tracht fürs Büro. Die große, braune Tasche, die an ihrer geraden Schulter hing, als wäre sie dafür gemacht, war genau das, was Sekretärinnen immer in ihrer Schreibtischschublade verstauten, wenn sie morgens zur Arbeit kamen.
Melanie war eher der Rucksacktyp. Sie hatte Frauenhandtaschen noch nie etwas abgewinnen können. Auch trug sie ihre Haare lieber kurz. Das fand sie praktischer. Ihrer nördlichen Herkunft entsprechend war sie blond, und sie zog Hosen Röcken vor.
Nachdem die Frau noch auf den Boden geblickt hatte, als sie hinter den Mauerresten hervorgekommen war, als würde sie etwas suchen, blickte sie nun auf und sah Melanie später, als Melanie sie entdeckt hatte. Anscheinend überrascht blieb sie stehen.
Melanie betrachtete sie weniger überrascht als interessiert. Sie mochte sich ja hinter einem langen Rock und einer nicht sehr offenherzigen Bluse verstecken, aber es war auf den ersten Blick zu erkennen, dass diese Frau attraktiv war. Obwohl es fast ein wenig so aussah, als wäre sie sich dessen gar nicht bewusst oder wollte es soweit wie möglich verbergen. Sie war nur sehr zurückhaltend geschminkt, und ganz sicher sollte ihr Outfit zwar luftig für die sommerlichen Temperaturen, aber nicht sexy sein.
Da die Frau keine Anstalten dazu machte, ging Melanie auf sie zu. »Guten Tag«, sagte sie, als sie bis auf zwei Meter an sie heran war. »Gehören Sie hier zum Hof?«
Es schien fast, als hätte sie die Frau mit ihrer harmlosen Frage erschreckt. Sie zuckte ein wenig zusammen. »Nein«, sagte sie dann. »Ich wollte nur einmal sehen, wie es jetzt hier aussieht nach dem Brand.«
»Also reine Neugier?«, fragte Melanie.
Kurz beobachteten sie aufmerksame hellbraune Augen. »Könnte man so sagen«, erwiderte die Frau dann. Wieder ließ sie sich Zeit, Melanie genau zu mustern, bevor sie weitersprach. »Sie sind nicht von hier«, stellte sie fast etwas grüblerisch fest.
Melanie lächelte leicht. »Das stimmt. Entschuldigung. Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Melanie Tieck.« Sie streckte die Hand aus, um die ihr noch unbekannte Frau zu begrüßen. »Ich soll für die Versicherung untersuchen, was genau mit diesem Hof hier«, mit der anderen Hand machte sie eine allumfassende Bewegung, »passiert ist.«
»Oh«, sagte die andere, nahm Melanies Hand, drückte sie kurz, nur ganz sanft, und ließ sie wieder los. »Jana Neugebauer.«
»Warum haben Sie Oh gesagt?«, fragte Melanie und hob die Augenbrauen. »Finden Sie es überraschend, dass die Versicherung etwas über den Brand wissen will?«
»Nein, das ist sicher nicht überraschend.« Auf einmal schlich sich auch in Jana Neugebauers Mundwinkel ein leises Lächeln. »Aber Sie sind eindeutig nicht aus Bayern, und ich hätte wohl eher gedacht, dass in so einem Fall jemand hier aus der Gegend kommt.«
»Kennen sich denn alle hier?« Melanie schmunzelte. »Dass ein Fremder gleich so auffällt?«
Jana lachte leise. »Sie kommen bestimmt aus der Großstadt. Sonst würden Sie das nicht fragen.«
»Berlin.« Melanie nickte. »Da wäre es schwierig, jeden zu kennen.«
»Berlin«, wiederholte Jana, wie manche Leute wahrscheinlich das Wort Wunderland ausgesprochen hätten.
»Waren Sie schon einmal in Berlin?«, fragte Melanie.
»In Berlin? Ich?« Jana sah aus, als hätte Melanie ihr die Frage gestellt, ob sie schon einmal zum Mond geflogen wäre. »Nein.« Sie schüttelte den Kopf.
»Fänden Sie das so ungewöhnlich?« Unvermutet bemerkte Melanie, wie Janas Parfüm, ihr ganz eigener Duft, den der Brandstelle überlagerte, weil der Wind genau in Melanies Richtung wehte. Es war ein sehr reizvoller Duft, sehr sanft und unaufdringlich auf der einen Seite, auf der anderen jedoch ungeheuer anziehend, fast berauschend. »Wenn Sie schon einmal in Berlin gewesen wären?« Sie wäre gern einen Schritt zurückgetreten, um diesem Rauschgefühl zu entkommen, aber andererseits war genau das das Letzte, was sie tun wollte. Also blieb sie stehen.
»Oh ja.« Jana lachte wieder auf diese leise und doch so eindringliche Art. »Das wäre sehr ungewöhnlich. Ich habe mein ganzes Leben hier verbracht, bin hier geboren, aufgewachsen und zur Schule gegangen. Nach der vierten Klasse hätte ich aufs Gymnasium gehen sollen. Aber das ging dann nicht, weil es hier keins gab und ich dafür hätte in die nächstgrößere Stadt fahren müssen. Ein sehr weiter Weg jeden Tag. Deshalb wurde dann nichts daraus.«
»Es gibt hier kein Gymnasium?« Als ob eins gleich um die Ecke sein müsste, reckte Melanie etwas den Hals, um über die Brandstelle hinauszusehen.
»Jetzt gibt es eins«, sagte Jana. »Aber damals, als ich in dem Alter war, gab es keins.«
»Ich stamme auch nicht aus Berlin.« Melanie lächelte. »Arbeite jetzt nur schon einige Jahre dort. Ursprünglich bin ich aus Göttingen.« Auf einmal musste sie sehr schmunzeln. »Wo es allerdings mehr als ein Gymnasium gab.«
»Das war bestimmt sehr schön.« Nun lächelte Jana auch.
Melanie musste fast wegschauen, so einnehmend, so freundlich und sanft war dieses Lächeln.
»Schöner jedenfalls als das hier jetzt«, erwiderte sie etwas brüsk, um sich von dem Zauber, den Jana auf sie auszustrahlen schien, zu lösen. Endlich konnte sie sich ein paar Schritte entfernen und tat so, als müsste sie mit dem Stock, mit dem sie zuvor schon in der Asche herumgestochert hatte, noch irgend-etwas untersuchen, starrte auf den Boden, um nicht Jana ansehen zu müssen. »Wenn Sie hier aufgewachsen sind, kennen Sie die Besitzer?«
»Ich bin nicht genau hier aufgewachsen«, korrigierte Jana sie zurückhaltend. »Unsere sogenannte Stadt besteht aus sechzig Ortsteilen. Jeder sozusagen ein eigenes kleines Dorf. Das hier ist so ziemlich am anderen Ende von dem Dorf, in dem ich aufgewachsen bin. Und früher hat sich alles fast nur innerhalb des Dorfes abgespielt. Die Nachbardörfer waren schon so etwas wie . . .«, sie lachte leicht, »Ausland.«
»Da dachte ich jetzt, alle kennen sich hier . . .«, bemerkte Melanie etwas unzufrieden. »Und jeder wüsste, was hier vorgefallen ist.«
»Ich nicht.« Jana schüttelte den Kopf. »Ich sehe diesen Hof heute zum ersten Mal.«
»Dann sind Sie also wirklich nur aus Neugier hier?« Als ob sie Janas Anwesenheit gar nicht interessieren würde, entfernte Melanie sich mit weiterhin zu Boden gesenktem Blick noch ein paar Schritte von ihr.
»Wenn Sie früher gekommen wären, hätten Sie wahrscheinlich mindestens die Hälfte der sechzig Dörfer hier antreffen können«, entgegnete Jana offensichtlich belustigt. »Ich bin spät dran, weil ich so lange arbeiten musste. Hier brennt nicht jeden Tag ein ganzer Bauernhof ab. Das ist schon ein besonderes Ereignis.«
»Was Sie nicht sagen.« Endlich war Melanie weit genug entfernt von Jana, um den Blick wieder heben zu können, ohne von diesen faszinierenden Haselnussaugen in ihren Bann gezogen zu werden.
Jana zuckte die Schultern. »So ist das eben auf dem Dorf. Es mag ja Fernsehen und Internet geben, aber die interessantesten Ereignisse finden immer noch in der näheren Umgebung statt. Beim Nachbarn vor der Haustür. Oder hinter zugezogenen Gardinen«, fügte sie mit einem offenbar mühsam unterdrückten Zucken ihrer Mundwinkel hinzu.
»Hab ich schon gehört«, nickte Melanie. »Extreme soziale Kontrolle. Das ist der Grund, warum Leute vom Dorf in die Großstadt ziehen.«
»Nicht der einzige«, sagte Jana. »Aber ja, das kann schon etwas lästig sein.«
»Deshalb wundert es mich umso mehr«, nun ging Melanie wieder auf Jana zu. Mal sehen, wie weit sie herankommen konnte, ohne dass der Zauber dieser Dorfschönheit auf sie wirkte, »dass niemand etwas von dem Brand hier mitbekommen hat. Dass er nicht früher gelöscht wurde. Gibt es hier keine Feuerwehr?«
»Oh doch. Natürlich. Die Freiwillige Feuerwehr ist der Stolz der Gemeinde. Sie putzen jeden Samstag das knallrote Feuerwehrauto.« Jana lächelte auf eine Art, die nur schwer vermuten ließ, was sie dachte.
»Sie putzen, aber benutzen es nicht?«, fragte Melanie erstaunt. Auf dem Dorf war alles möglich. Da kannte sie sich einfach zu wenig aus.
Jana lachte. »So war das nicht gemeint. Soviel ich gehört habe, sind sie bei diesem Brand einfach zu spät gekommen. Er muss sich sehr schnell ausgebreitet haben.«
»Scheint so«, sagte Melanie und blickte sich noch einmal auf dem schwarzen Schlachtfeld um.
Ob die Freiwillige Dorffeuerwehr mir da wirklich weiterhelfen kann? dachte sie. Die haben das hier doch wahrscheinlich noch nicht mal richtig untersucht. Vielleicht haben sie gar nicht die technischen Möglichkeiten dazu.
Leider war sie selbst auch keine Spezialistin auf dem Gebiet der Ursachenerforschung von Bränden. Das hieß, sie musste einen externen Gutachter hinzuziehen, um festzustellen, was tatsächlich hier geschehen war. Das konnte dauern.
Sie seufzte innerlich. Eigentlich hatte sie ihren Aufenthalt in dieser Gegend nicht so ausdehnen wollen. Wäre es näher an Berlin gewesen, hätte sie morgen eventuell schon wieder in ihrem eigenen Bett schlafen können. Aber momentan sah es nicht so aus, als ob sie sich darauf freuen konnte.
Jana hustete. »Ich glaube, ich habe genug gesehen«, sagte sie etwas undeutlich, leicht krächzend. »Ich wollte sowieso nur –« Sie brach erneut hustend ab.
Deine Neugier befriedigen? setzte Melanie in Gedanken fort. Damit du beim nächsten Dorfklatsch etwas zu erzählen hast?
»Ich kann hier auch nichts mehr tun.« Sie nickte. »Und heute«, sie blickte auf ihre Uhr, »werde ich wohl auch niemanden mehr erreichen. Also kann ich nur noch in mein Hotel gehen.« Sie zuckte die Schultern. »Ab wann ist die Dorf- . . . ich meine, die Freiwillige Feuerwehr morgen früh ansprechbar?« Fragend blickte sie Jana an.
»Sie halten mich anscheinend für die Auskunftsstelle vom Dienst.« Jana lachte mit immer noch etwas rauer Stimme. »Aber das kann ich Ihnen wirklich nicht sagen.«
»Warum sollten Sie auch?« Melanie wollte tief durchatmen, aber schon bei dem Versuch merkte sie, warum Jana gehustet hatte, deshalb kürzte sie ihren Atemzug auf einen normalen ab. »Sie sind ja nicht bei der Feuerwehr.«
»Nein, bin ich nicht«, bestätigte Jana. Gleichzeitig legte sie leicht den Kopf schief. »Sie wohnen bei Gerbingers? Weil Sie sagten: Hotel.«
»Bei einer Familie Brandl«, erwiderte Melanie erstaunt.
»Ach so.« Jana wandte sich in die Richtung, aus der sie gekommen war. »Das ist ein Landgasthof, kein Hotel.« Sie schmunzelte. »Hotels gibt es bei uns hier nämlich eigentlich gar nicht. Deshalb hatte ich mich gewundert.«
Melanies Auto stand in der entgegengesetzten Richtung, deshalb wäre es komisch gewesen, wenn sie Jana jetzt gefolgt wäre. Warum hatte sie also das Bedürfnis dazu?
»Ich hätte es wissen müssen«, erwiderte sie leicht entschuldigend. »Ich bin nämlich eigentlich gern auf dem Land in der Natur. Und oft. Jedes Wochenende, wenn ich kann. Ich habe eine Schaluppe in Waren-Müritz liegen.«
Statt in die andere Richtung zu gehen, wie sie es anscheinend vorgehabt hatte, drehte Jana sich um und kam auf Melanie zu. »Tatsächlich? So hätte ich Sie gar nicht eingeschätzt. Ich dachte, Sie wären eine richtige Großstadtpflanze.«
»Wahrscheinlich bin ich das auch«, gab Melanie fast etwas verlegen zu. »Mittlerweile. Wenn man schon so lange in Berlin lebt wie ich, bleibt man davon nicht unberührt. Auch wenn Göttingen eine viel kleinere Stadt ist.«
»Sie haben ein eigenes Schiff?« Das schien Jana zu interessieren. Ziemlich nah vor Melanie blieb sie stehen und blickte sie fragend an.
»Eine Schaluppe. Das ist mehr ein Boot. Ein ziemlich kleines Boot«, berichtigte Melanie Janas Vermutung.
»Aber kein Ruderboot.« Janas Lächeln war so hinreißend, dass Melanie sich ärgerte, dass sie nicht gleich zu ihrem Wagen gegangen war.
»Nein, kein Ruderboot«, bestätigte sie. »Es hat eine Kabine. Und ein Segel. Für Notfälle und Flauten sogar einen Motor.«
»Eine richtige Jacht«, stellte Jana immer noch hinreißend lächelnd fest.
Wie komme ich da jetzt wieder raus? Melanie brach fast der Schweiß aus. »Das nicht«, sagte sie. »Aber für eine Person reicht’s.«
»Nur für eine Person? Sie sind immer allein, wenn Sie da in Waren-Müritz segeln?« Es klang wie eine ganz harmlose Frage, aber es war alles andere als das.
Das wurde Melanie jedoch erst bewusst, nachdem sie zuerst einmal gestutzt hatte. Janas leicht fragend geöffnete Augen schauten sie immer noch an, und selbst wenn sie das gewollt hätte, hätte Melanie die Antwort auf die Frage nicht verweigern können. Sie war fast wie in Hypnose. »Meistens«, sagte sie.
Die Antwort schien Jana für den Moment zu genügen, aber ihr Lächeln beendete sie nicht. Es war, als wollte sie ausprobieren, wie lange Melanie es aushielt. Oder wie so ein Wett-Starren, bei dem der verloren hatte, der zuerst wegschaute.
»Ich denke . . .«, Melanie zog sich ein paar Schritte zurück, ohne den Blick von Jana zu lösen, »ich sollte jetzt wirklich in mein Hotel . . . ähm . . . in meinen Landgasthof . . .«
»Zenzi Brandl ist meine Cousine«, sagte Jana. »Grüßen Sie sie von mir.«
»Ihre . . . Cousine . . .«, wiederholte Melanie etwas überfordert.
»Eine von mehreren in der Gemeinde«, erklärte Jana. »Wie Sie sich vielleicht vorstellen können, sind einige von uns hier auf dem Dorf miteinander verwandt.«
»Ja . . . ähm . . . ja. Das kann ich mir vorstellen.« Seit wann stotterst du so herum? Melanie hatte das Gefühl, sie wäre in eine völlig fremde Welt eingetreten, in der sie wie verloren war.
Sie hatte dieses Gefühl nicht gehabt, bis Jana aufgetaucht war. Aber vor allem in den letzten paar Minuten hatte sie es ganz entschieden.
»Sie wissen, wo es ist?«, fragte Jana jetzt zweifelnd. »Oder soll ich es Ihnen zeigen?«
Oh ja, bitte! »Nein, danke«, sagte Melanie. »Ich war schon dort. Ich weiß, wo es ist.«
»Na dann . . .« Jana lächelte wieder, aber diesmal schien sie nichts damit bewirken zu wollen. »Ich muss dann hier zurück.« Sie wies leicht mit dem Arm auf die Richtung, aus der sie gekommen war.
»Und ich in die.« Melanie wies in die andere Richtung. Sie lachte leicht. »Also trennen sich unsere Wege wohl hier.«
»Ja.« Obwohl sie zuvor schon auf dem Weg zu ihrem Wagen gewesen war, schien Jana jetzt zu zögern. »Also dann . . .«, bemerkte sie noch einmal.
»Auf Wiedersehen«, sagte Melanie. »Ich nehme an, in diesem Dorf hier«, sie hüstelte, »Entschuldigung: Stadt werden wir uns wahrscheinlich das eine oder andere Mal ganz ungewollt über den Weg laufen, ohne dass wir uns verabreden müssen.« Sie konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.
»Damit können Sie rechnen.« Auch Jana lachte. »Ich muss manchmal sogar bei der Feuerwehr vorbei.« Mit einem mutwilligen Zwinkern warf sie noch einmal einen Blick auf Melanie, drehte sich dann um und ging so davon, als ob sie in jeder Lage geradeaus laufen könnte, auch mit nicht allzu festen Absatzschuhen und auf diesem sehr unwegsamen Untergrund hier.
Melanie blickte ihr hinterher. Janas schwingender Rock hatte etwas Aufmunterndes. Oder vielleicht Aufforderndes? Lag das an diesem Orangeton? Der wirkte sehr lebensbejahend und winkte Melanie beinah lockend zu, Jana zu folgen.
Ach, das bildest du dir doch alles nur ein! Verärgert über sich selbst riss Melanie ihren Blick von dem sich immer mehr entfernenden orangenen Fleck los und drehte sich ruckartig um.
Bei weitem nicht so elegant und geschmeidig wie Jana stapfte sie zu ihrem Wagen zurück.
Was war das nur mit dieser Frau? Selbst jetzt hätte sie sich gern noch einmal umgedreht und ihr hinterhergeschaut. Obwohl sie mittlerweile wahrscheinlich längst hinter den heruntergebrannten schwarzen Mauern verschwunden war.
Von so etwas durfte sie sich einfach nicht ablenken lassen, solange sie hier war. Sie hatte in diesem . . . Dorf einen Job zu erledigen, weiter nichts. Dann würde sie wieder nach Berlin zurückfahren und das alles hier vergessen.
Wenn der Papierkram erst einmal erledigt war. In Berlin warteten wahrscheinlich schon wieder die nächsten Fälle auf sie, die sie zu untersuchen hatte.
Statt sie nur zu öffnen, riss sie ihre Wagentür mit einer Gewalt auf, die gar nicht nötig gewesen wäre. Worüber sie sich erneut ärgerte. Demolierte sie jetzt sogar noch ihren Wagen nur wegen dieser . . . Dorfschönheit? Konnte sie ihr dafür eine Rechnung schicken?
Endlich konnte sie sich nicht mehr zurückhalten und blickte noch einmal in die entgegengesetzte Richtung, als sie sich in ihr Auto hineinsetzte. Zu ihrer Entschuldigung konnte sie immer anführen, dass sie sich dazu nun einmal umdrehen musste. Anders ging es gar nicht.
Aber von Jana war – wie sie schon vermutet hatte – nichts mehr zu sehen.