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2.2.3.1 Die Abstammungsrechnung und Familienstruktur

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In den meisten Kulturen dieser Erde werden Menschen nicht als Individuen, sondern als Glieder ihrer Verwandtschaftsgruppe gesehen. Die Zugehörigkeit zu dieser Gruppe bestimmt ihre Identität und ihren Status, sichert ihre wirtschaftliche Existenz und legt auch ihre soziale Rolle in der Gesellschaft in sehr engen Grenzen fest. Das gilt in besonderer Weise auch für die Rolle der Frau.

Ihre Stellung wird unter anderem stark beeinflusst von der Abstammungsrechnung, also der Organisation des Verwandtschaftssystems in einer Kultur, nach der die Familienzugehörigkeit des einzelnen Menschen definiert und die Erbfolge festgelegt ist. Es gibt zwei Grundarten, die Abstammung und Familienzugehörigkeit der Mitglieder einer Gesellschaft festzulegen: die patrilineare, bei der dies durch die väterliche Linie geschieht, und die matrilineare, bei der es auf die Linie der Mutter ankommt. Eine strikt patrilineare Abstammungsrechnung hat auf die Stellung der Frau eine doppelte einschränkende Auswirkung: In ihrer eigenen Ursprungsfamilie hat sie keine dauerhafte oder bedeutende Stellung, denn sie muss diese bei ihrer Heirat verlassen. Nützen kann sie ihrer eigenen Familie lediglich durch eine vorteilhafte Heirat. Diese aber bedeutet für sie selbst, dass sie als Fremde in den Familienverband des Ehemannes eintritt. Dort ist sie für ihren Lebensunterhalt und ihre Lebensumstände völlig von ihrem Ehemann und dessen Familie abhängig. Ihre Stellung in diesem Familienverband hängt vor allem davon ab, ob sie der Familie Söhne als „Stammhalter“ gebären kann.74 Der Besitz wird vom Vater auf die Söhne vererbt.

Diese Abstammungsrechnung ist die häufigste in den traditionalen Gesellschaften der Erde (Llobera 2003, 42–43) und kommt vor allem bei Viehzüchtern und in Ackerbauerngesellschaften vor. Die Ethnologin B. Denich beschreibt die Folgen einer extremen Betonung dieser Abstammungsrechnung für Stellung und Leben der Frauen in einigen Viehzüchter- und Ackerbauernkulturen im Balkan. Dort wird durch die betont patrizentrische Ausrichtung der Familienstruktur die Rolle der Frau nur durch ihre völlige Unterordnung unter den Mann, harte Arbeit und das Gebären und Aufziehen von Kindern definiert (Denich 1974, 243). In solchen Gesellschaften wird die Unterordnung der Frau häufig durch bestimmte „ritualisierte Ausdrucksformen der autoritären Haushaltsstruktur“ hervorgehoben (Denich 1974, 253).75

Anders sieht es bei einer strikt matrilinearen Abstammungsrechnung aus, die bei zahlreichen kleineren Gesellschaften dieser Erde vorkommt. Sie findet sich vor allem bei Pflanzern in tropischen Waldgebieten, bei denen der Landbesitz der Pflanzungen und die Hauptarbeit des Nahrungserwerbes in den Händen der Frauen liegt (Kraft 1996, 294). Hier werden Abstammung und Identität der Menschen durch die mütterliche Familie definiert. So verlässt in diesem Fall der Mann seine eigene Ursprungsfamilie und gliedert sich in den Familienverband der Frau ein, wo er nur wenig soziale Bedeutung oder Entscheidungsbefugnis hat. Entscheidungsträger ist hier eher der Bruder der Frau (Käser 1998, 103). Die Kinder eines Ehepaars gehören zur Familie der Mutter, das Erbe geht von der Mutter auf die Töchter über. Eine solche Abstammungsrechnung hebt natürlich die Stellung der Frau, der dann innerhalb der Großfamilie oft eine zentrale Funktion und Rolle zukommt. Dennoch sind auch hier die Repräsentanten und Hauptversorger der Familien die Männer (Kraft 1996, 294).76

Nicht in allen Gesellschaften ist die Abstammungsform strikt festgelegt und betont, in einem Drittel der Gesellschaften weltweit ist sie variabel oder auch bilinear, das heißt alle Kinder werden gleichermaßen als Nachkommen und Erben ihrer beiden Eltern gesehen (Kraft 1996, 294).

Wichtig für die Rolle der Frau in der Praxis des Familienalltags ist es auch, ob die Wohnweise eines jungen Ehepaars patrilokal, also bei den Verwandten des Mannes, matrilokal, bei denen der Frau, oder auch neolokal, an einem neuen Ort ist (Käser 1998, 111; Kraft 1996, 294).77

Auch die Eheform spielt keine unwesentliche Rolle. Interessanterweise ist der Status von Frauen in polygynen Ehen allerdings nicht immer niedriger, sondern manchmal auch höher als in monogamen (Lamphere 1974, 107–108; Käser 1998, 109).

Zusammenfassend kann man erkennen, dass die Konzentration von Eigentum, Wohnort und Abstammungsrechnung in der männlichen Linie eine Struktur schaffen kann, in der die Unterordnung der Frau sehr akzentuiert wird, während eine solche in der weiblichen Linie zu großen Freiräumen für die Frau führen kann, das patriarchalische Grundmuster aber nicht aufhebt (Denich 1974, 259–260).

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