Читать книгу Der Tarzan-Effekt - Hanna Molden - Страница 6

Оглавление

2

»Sie ist verrückt geworden.« Viktor flüsterte, als müsse er etwas vertuschen.

»Was heißt verrückt?«, fragte ich laut.

Er bohrte die geballten Hände in die Knie, beugte sich über den Tisch und raunte mir zu: »Sie betrügt mich.«

Dass »Viktor betrügen« dasselbe wie »verrückt sein« bedeuten sollte, fand ich bemerkenswert. Ich sah auf seine Fäuste, die eher Wut als Schmerz signalisierten. Na, gar so verrückt... schoss es mir durch den Kopf, ich verbiss mir das Grinsen und sagte: »Ausgeschlossen! Das wüsste ich!«

Viktor hatte mich angerufen und mich um ein Gespräch gebeten. Er wollte am Telefon nicht sagen, worum es ging. Ich solle ihn um sechzehn Uhr in der Bar des Bristol treffen, um diese Zeit sei dort kein Mensch, den man kenne.

»Ein Geheimnis«, hatte ich gescherzt.

»Wird bald keines mehr sein«, hatte er düster gemurmelt und aufgelegt.

Die Bar war in der Tat menschenleer, nicht einmal ein Kellner war zu erblicken. Viktor saß auf der Kante des Fauteuils, als wäre er auf dem Sprung. Er atmete heftig, sein dichter, neuerdings ergrauender Schnurrbart bebte, er war um Fassung bemüht.

Er sieht stattlicher aus als früher, dachte ich, nicht mehr so dürr, irgendwie bedeutend, in jedem Fall arriviert. Regelmäßige Gesichtszüge, braun gebrannt, kräftige, gerade Nase. Der Schnurrbart verdeckte die etwas dünn geratene Oberlippe. Die kahle Stelle oben am Kopf konnte er verschmerzen, weil das verbleibende Haupthaar dicht und nach wie vor silberblond wucherte. Das Blau der Augen schien ein wenig fahl geworden. Aber sein langer Körper war noch immer gut in Schuss. Den Bauch zog er gewohnheitsmäßig ein, er war trainiert, er hatte stets viel Sport getrieben, wenn auch nicht so extrem wie Martin, mein verstorbener Mann. Jetzt spielte Viktor vor allem Golf.

»Ausgeschlossen«, wiederholte ich, »wenn es so wäre, wüsste ich es.«

»Es ist die Wahrheit«, sagte Viktor mit so viel verletztem Stolz, dass mir klar wurde: es stimmt.

Dass sie mir nichts gesagt hat! — Es tat weh. Ich kannte Gisi besser, als alle anderen Menschen, Viktor mit eingeschlossen, sie kannten. Wir kannten uns im wahren Sinn des Wortes aus dem Sandkasten. Und in Wien steht der gemeinsame Sandkasten oft am Anfang anderer Verbindungen: Schulen, Sommerfrischen, Tanzkurse, erste Bälle, Konzertabonnements ... Es gibt ihn heute noch, diesen Sandkasten, in dem auch Limettchen ihren ersten Kuchen buk. Er befindet sich an einer vergleichsweise unattraktiven Stelle jenes Prachtparks, der für seine Rosenrabatten berühmt ist. Rund um ihn stehen immer noch die altmodischen Gartenbänke von ehedem, die heute nicht bloß von Großmüttern, Müttern und Aupairmädchen, sondern zunehmend auch von jungen Vätern frequentiert werden. Im Chaos meiner in Schuhschachteln abgelegten Fotos muss sich ein schwarz-weißer Schnappschuss befinden, der Gisi und mich in nämlichem Sandkasten zeigt. Unseren feisten Babyspeckbeinchen nach zu schließen dürfte er aus dem Jahr 1950 stammen. Seite an Seite sitzen wir auf dem Brett, beide in Schürzenkleidern, jede mit dem Sandkübel der anderen auf dem Kopf. Offenbar haben wir sie uns im Zuge einer kriegerischen Auseinandersetzung gegenseitig aufgesetzt.

Schon unsere Mütter waren Freundinnen gewesen. Auch sie konnten auf einen gemeinsamen Sandkasten zurückblicken. Sie entstammten derselben gehobenen Wiener Kaste. Gisis Mutter Ida hatte standesgemäß geheiratet, das Adelsprädikat ihres Ehemannes Richard von Miller stammte von 1918, er war von Geburt an dazu bestimmt, in dritter Generation die Notariatskanzlei seines Vaters zu übernehmen. Meine Mutter Eva hingegen hatte sich artfremd verhalten. Sie hatte sich zum äußersten Befremden ihres Vaters, eines hohen Beamten, der auf eine lange Reihe von Beamtenahnen zurückblicken konnte, in einen gesellschaftlichen Niemand mit sozialdemokratischem Hintergrund verliebt. Der Niemand hieß Anton und wurde mein Vater.

Meine Eltern heirateten im düsteren Nachkriegsjahr 1947. Ihre Ehe war glücklich. Als ich alt genug war zu begreifen, wie glücklich sie war, bezeichnete ich sie als Turteltaubennest. Gisis Eltern hatten 1946 geheiratet, 1947 war ihr Sohn Otto zur Welt gekommen, 1948, ziemlich gleichzeitig mit mir, wurde Tochter Gisela geboren. Sie heiße nach einem alten Schiff, hänselten sie die Kinder auf dem Lande, denn der Salzkammergutsee, an dem Millers ein Ferienhaus besaßen, wurde von einem antiquierten Raddampfer namens »Gisela« befahren. Gisi ärgerte sich grün, obwohl die Kinder so falsch nicht lagen. Der Dampfer trug den Namen der Erzherzogin Gisela und Gisis Vater, eingefleischter Monarchist, hatte seinen Sohn nach dem letzten Kronprinzen der Habsburger und seine Tochter nach der ältesten Tochter Kaiser Franz Josefs und Kaiserin Elisabeths benannt. Er rief sie »Gisella«, weil auch Seine Majestät seine Tochter so zu rufen pflegte. »Gisi« ist meine Erfindung gewesen.

Gisi und ich besuchten dieselbe Volksschule, dann wurden wir getrennt. Gisi trat ins erzkatholische Sacre Cœur ein, meine Eltern steckten mich in ein als »rot« verschrieenes öffentliches Gymnasium. Mein Vater hatte die früh begonnene Laufbahn des politischen Funktionärs an den Nagel gehängt und war Unternehmer geworden. Farben und Lacke. Das Land war damals im Aufbau begriffen, das Geschäft ging gut. Wir gewohnten eine scheußliche Villa in einer guten Gegend. Seine gesellschaftspolitischen Ideale hatte mein Vater auf dem Altar der freien Marktwirtschaft geopfert, aber seine Wurzeln verleugnete er nicht. Nie hätte er sein einziges Kind von Nonnen erziehen lassen ... Die verschiedenen Schulen konnten freilich an Gisis und meiner Freundschaft nichts ändern, wir galten als unzertrennlich. Ich verbrachte jede freie Minute bei Millers. Meine Eltern hatten nichts dagegen. Sie arbeiteten gemeinsam in der Firma meines Vaters, außerdem beteten sie sich an und waren dermaßen aufeinander konzentriert, dass ich mich in ihrer Gesellschaft oft überflüssig fühlte.

Gisis Mutter war eine fröhliche, warmherzige Frau. Sie gab mir das Gefühl, stets willkommen zu sein. Mit der Zeit nahm ich in der Familie den Status eines dritten Kindes an. In den Sommerferien fuhr ich für gewöhnlich drei Wochen lang mit meinen Eltern an irgendeinen fashionablen Strand. Danach durfte ich mit in das knarrende, feuchte, wunderbare, am bewussten See gelegene Millersche Ferienhaus. In einer dämmrigen Bootshütte bekam ich meinen ersten Kuss. Von Otto. Er war dreizehn und im Stimmbruch, ich war zwölf und trug noch Zöpfe. Der Kuss hieß nichts, er war nass und unappetitlich; er begeisterte vor allem Gisi, die durch ein Astloch zugesehen hatte und jubilierte, weil sie in mir ihre zukünftige Schwägerin sah. Otto wurde später Soziologe. Heute ist er Universitätsprofessor in Kanada. Mit einer Französin verheiratet, hat vier Kinder, schreibt an seine alten Eltern selten, an seine Schwester gar nicht und kommt so gut wie nie nach Hause.

Als Teenager hörten Gisi und ich dieselben Schnulzen, fanden dieselben Bücher toll, schwärmten für dieselben Schauspieler und verliebten uns gleichzeitig rasend in ein und denselben Mann. Unsere Eltern hatten uns für die Weihnachtsferien in einen Privatschikurs für Wiener Mittelschülerinnen eingeschrieben. St. Anton am Arlberg, Pension, Schikurs, Schilehrer, alles inbegriffen ... Unser Schilehrer hieß Josef, wir nannten ihn Joe. Er war fünfundzwanzig und sah aus wie der Mann auf dem Piz-Buin-Plakat, war athletisch gebaut und fuhr erwartungsgemäß Schi wie ein Gott. Mit nachsichtigem Lächeln half er jeder, die gestürzt war, auf die Beine. Wenn man besonders gut war, pfiff er wie ein Bussard. Wir waren fünfzehn Mädchen, alle fuhren ganz passabel Schi, jede versuchte, die anderen auszustechen, denn alle waren in Joe verliebt. Als ich einmal am Schlepplift hängen blieb und bös stürzte, raste Joe heran, um mich aus meiner nicht ungefährlichen Lage zu retten. Er grummelte ein »Hoppla« und hob mich auf, als wäre ich eine Feder, er hielt mich ein paar Sekunden fest an sich gedrückt, ehe er »geht’s wieda« fragte und mich losließ. Ich stand da wie vom Donner gerührt und war überzeugt: von Supermann Joe aufgerichtet zu werden, dieses Gefühl von Triumph, Spannung und leiser Lust war durch nichts zu überbieten.

Joes wegen traten Gisi und ich zum ersten Mal in Konkurrenz. Übergangslos. Heftig. Bildlich gesprochen wünschten wir einander den Untergang. Jeder Pickel der anderen wurde insgeheim bejubelt, jede Gunstbezeigung Joes genau registriert. Zweimal war Joe mit Gisi im Sessellift gefahren. »Mahlzeit«, hatte er mittags in unsere Richtung gewünscht, wem hatte es gegolten, ihr oder mir? Gisi ließ sich Joe praktisch vor die Schispitzen fallen, um von ihm aufgehoben zu werden. Aber mir drosch er mit den Worten: »Gut warst, Dirndl«, auf die Schulter.

Dann kam die Nacht, die unseren Hoffnungen ein Ende setzte. Roswitha, eine der Teilnehmerinnen des Schikurses, süße siebzehn, war zwar die schlechteste Schifahrerin der Gruppe, aber sie hatte einen Superbusen. Sie wurde von der Dienst habenden Begleitperson ertappt, als sie sich im Morgengrauen ins Haus schlich. Aus Letzterem war sie in der Nacht durch das Fenster verschwunden, um Joe zu treffen. Das Fenster hatte sie offen stehen lassen, aber eine rachsüchtige Konkurrentin hatte es geschlossen. Damals waren die Regeln noch hart, Roswitha wurde postwendend nach Hause geschickt. Eigenartigerweise solidarisierte diese Begebenheit Gisi und mich gegen Joe. Wir ließen das zweckbezogene Stürzen sein, fuhren in alter Eintracht nur noch mitsammen Lift und nannten Joe fortan Josef.

Die niederschmetternde Gewissheit, äußerlich unzulänglich zu sein, die uns das Leben zwischen dem elften und dem sechzehnten Jahr oft vermiest hatte, verkehrte sich allmählich ins Gegenteil. Gisi hatte, als sie fünfzehn war, ihre heutige Größe erreicht, das heißt sie blieb klein, aber sie war perfekt proportioniert. Schmale Gelenke, zierliche Fesseln, wenig Fleisch am rechten Fleck. Eine Minivenus mit dunklem Haar und sehr hellem, fleckenlosem Teint, der auch in wolkenlosen Sommern kein bisschen bräunte. Kleiner, auffallend roter Mund. Relativ breite Stirn, kleines, spitz zulaufendes Kinn, weshalb ihr Vater sie zuweilen »Katzengesicht« nannte. Das Tollste an Gisis Gesicht waren und sind ihre Augen: zwei schwarze Knöpfe unter hochgewölbten Brauen. Rund, kohlrabenschwarz und unglaublich glitzernd. An mir war als Teenager nicht viel dran. Ich war schon damals einen Kopf größer als Gisi. Endlose dürre Beine, kaum Busen, langer Hals und dünne Arme. Aber meine Familie war überzeugt, ich würde schließlich auf meine Mutter herauskommen. Das ließ mich hoffen.

Meine Mutter war eine schöne Frau mit samtigem, dunklem Teint, gelb-grünen Moosaugen und einem großen, weichen Mund. Ihr Haar war brünett, im Sommer bekam es helle Strähnen. Sie bewegte sich nie schnell, im Gegenteil, fast träge, wie eine eben erwachte Katze. Man hätte annehmen können sie sei faul, tatsächlich war sie ungemein ruhig. Als ich mit den Jahren Fleisch ansetzte, wurde ich meiner Mutter wirklich ähnlich. Nicht so schön, so sinnlich, nie ganz so katzenartig. Meine Art, mich zu bewegen, macht eher einen beschaulichen Eindruck. Der erste Chefredakteur in meiner Laufbahn pflegte vor Redaktionssitzungen durch die Räume zu plärren: »Tempo, Wunder, Tempo! Die Sitzung ist heute, nicht morgen!«

Als Limettchen etwa dreizehn war, begann sie Gisi und mich mit Fragen nach unserem Teenagersexlife zu löchern: »Wo habt ihr’s gemacht? Was, gar nicht? Wieso keine Pille? Bescheuert!« Limettchens Generation legte eine Umweglosigkeit in Sachen Sex an den Tag, die Gisi und mich verdatterte und uns bar jeder Romantik schien. Gisi hatte ihren ersten Freund, als sie siebzehn war. Problematisch genug, weil Mutter Ida unter der zwanghaften Vorstellung litt, dass ihre schulpflichtige Tochter von dem forschen Jurastudenten, mit dem sie »ging«, geschwängert werden würde. Gisi beteuerte zwar, sie schlafe nicht mit dem Jüngling, sie turtle bloß mit ihm, aber Ida nahm ihr das nicht ab und legte den lovebirds Stein um Stein in den Weg. Es gab ständig Krach im Hause Miller. Ich hatte zu dieser Zeit bloß, was meine Mutter »Verehrer« nannte. Mal ging ich mit diesem, mal mit jenem zum Eislaufen, ins Konzert, ins Kino und am Wochenende auf Partys bei Freunden. Ich schmuste, aber eher gelassen. Der fundamentalen Erfahrung stand meine Trägheit im Wege. Ich wartete auf das Umwerfende, Mitreißende, Unwiderstehliche. Und tat es schließlich mit einer Niete. Es wurde ein Flop.

Im späten Frühling 1966 waren wir mit der Schule fertig. Gisis Maturareise ging nach Rom, Papstbesuch eingeschlossen, die meine nach Griechenland. Athen, Epidaurus, Korinth. Auf den Stufen der Akropolis quasselte mich ein gut aussehender, braun gebrannter Wiener an. Er stieg mir nach, kaufte Blumen, ließ nicht locker. Er stellte sich vor und fragte nach meinem Namen. Nach meiner Rückkehr aus Griechenland ging ich einige Male mit ihm aus. Er redete pausenlos auf mich ein, als wollte er mir etwas verkaufen. Nichts an ihm war umwerfend. Weshalb ich mich ausgerechnet von ihm entjungfern ließ, weiß ich bis heute nicht. Wie gesagt, es war ein Flop.

Für den Sommer hatten meine Eltern mich zu einer Amerikareise eingeladen. Ich fand es toll, aber im Grunde wäre ich lieber bei Gisi und den Millers im Ferienhaus am See gewesen. Wenn ich geahnt hätte, dass meine Mutter und mein Vater ein Jahr später tot sein würden, hätte ich jede Minute mit ihnen ausgekostet. Dass ich es nicht getan hatte, verschafft mir bis heute Schuldgefühle, sie kommen in den seltsamsten, ungelegensten Augenblicken wie Sodbrennen hoch.

Im Herbst 1966 schrieben Gisi und ich uns an der Universität für Germanistik ein. Der Gedanke, nicht dasselbe zu studieren, war uns nie gekommen. Wir hatten es herrlich. Wir saßen im Uni-Café und rauchten filterlose Zigaretten und fühlten uns als die intellektuelle Zukunft der Nation. Wir betrauerten Andre Breton, schwärmten für die Beatles, besuchten Kellertheater und liebten Filme von Ingmar Bergman und François Truffaut. Ja, wir hatten es herrlich. Und plötzlich riss das großartige Lebensgefühl wie ein Film.

Im Jänner 1967 erkrankte meine Mutter. An sich lapidar, eine Blinddarmentzündung, leider verkannt. Durchbruch, Bauchfellentzündung, Exit. Ich war wie vor den Kopf gestoßen, ich erfasste gar nicht recht, dass ich sie verloren hatte, ich starrte gebannt und hilflos auf meinen Vater, der wie von Sinnen war. Er aß nichts, weinte, sprach nichts, trank. Nach zwei Monaten schien er sich gefasst zu haben. Er wurde plötzlich sehr aktiv und führte ständig Verhandlungen, er hatte sich entschlossen, die Firma zu verkaufen. Er sagte, ohne meine Mutter mache ihm die Arbeit keine Freude. Er verkaufte im Mai und legte den Erlös an. Im Juli fuhr er mit seinem Wagen auf der Autobahn, prallte gegen einen Brückenpfeiler und war sofort tot. Keine Bremsspur, ergab die Untersuchung. Selbstmord, wurde gemunkelt. Ich hielt krampfhaft an der Unfalltheorie fest. Die Vorstellung, dass es meinem Vater nicht dafür gestanden hatte, mit mir, für mich zu leben, wäre mir unerträglich gewesen.

Mit neunzehn war ich eine Vollwaise ohne Verwandte. Nein, nicht ganz, es gab da die Kusine meines Vaters, den Fridolin, der eigentlich Friederike hieß und von Beruf Sozialarbeiterin war. Fridolin und ihr Mann Karl, Vorstand einer Sparkasse, waren damals meine Stützen. Sie halfen mir, das Haus der Eltern zu verkaufen und legten das Geld für mich an. Der Verkauf der Firma hatte kein Vermögen gebracht. »Du musst dir vorerst keine Sorgen machen, aber sieh zu, dass du fertig studierst, man weiß nie was kommt«, predigte der Fridolin.

Meine veränderten Lebensumstände hatten Gisi und mich nicht entfremdet, nur voneinander entfernt. Ich hatte eine winzige Wohnung in der Nähe der Uni gemietet und lernte für mich zu sorgen. Gisi wollte Spaß und Tollerei, sie war gesellig und stets von einer Traube von Menschen umgeben. Sie nahm das Leben und das Studium leicht. Ich verkroch mich, obwohl ich mich vor dem Alleinsein fürchtete; ich war für mich verantwortlich, empfand das als Last und litt an Zukunftsangst. Ich studierte pflichtbewusst, aber lustlos. Sollte ich nicht lieber einen Job annehmen? »Fertig machen«, drängten Fridolin und Karl.

Ich war zu sehr mit mir selbst beschäftigt, um zu erkennen, in welche Richtung sich Gisi entwickelte. Am Ende unseres vierten Semesters sah mein Weltbild nicht wesentlich anders aus, als am Beginn des Studiums, Gisi hingegen erschien völlig umgekrempelt. Sie war gegen den Wohlstand und gegen die Klasse, aus der sie kam. Sie war für psychedelic music und für die Hippie-Bewegung und für einen Mann mit Nickelbrille und schulterlangem Haar, mit dem sie zur Verzweiflung der Eltern Miller zeitweise den Tisch und ständig das Bett teilte. Der Mann hieß Peter, sein Idol war Rudi Dutschke, er quasselte viel und fiebrig und bezeichnete sich als linksradikalen Literaten. Richard und Ida Miller nannten ihn einen halbseidenen Menschen.

Eines Tages im Herbst 1968 rief mich Ida Müller an. Sie müsse dringend mit mir reden, nur ich könne jetzt noch helfen ... Sie klang gebrochen. Ich raste in die Millersche Wohnung. Der Salon mit sehr viel Biedermeier, den Familienporträts, dem stets blank geputzten Tafelsilber hatte sich seit meiner Kinderzeit nicht verändert. Nur Ida war ein wenig runder und grauer geworden. Wortlos hielt sie mir eine Zeitungsseite entgegen. Es war der Bericht über die Frankfurter Buchmesse: Linksradikale Ausschreitungen, Demos, Erstürmung von Ständen. Sprechchöre. Spruchbänder. »Klaut beim Klassenfeind! «, »Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment.« Der Spruch gefiel mir, ich musste grinsen.

»Sieh dir das Foto an«, jammerte Ida.

Eine Rotte junger Revolutionäre. Mitten unter ihnen Gisi, deutlich zu erkennen, sie trug ein Transparent und schrie etwas.

Ida Miller begann leise vor sich hin zu weinen. »Laura«, schniefte sie, »ich fürchte, Gisi ist verrückt geworden.«

Der Tarzan-Effekt

Подняться наверх