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Ich hatte es nicht vergessen — wie könnte ich es jemals vergessen — ich hatte bloß nicht mehr daran gedacht.

Herbst 1968. Die Biedermeieridylle der Millers. Ida auf dem grün-weiß gestreiften Sofa, wohlerzogen weinend. Kein Schluchzen, kein stoßartiges Atmen, keine nennenswerte Absonderung von Flüssigkeit aus der Nase, einfach viele, viele stille Tränen in ein weißes Batisttaschentuch. Ich glaube, ich habe nie wieder einen verzweifelten Menschen derart wohlerzogen weinen gesehen.

»Bitte Laura, fahr nach Deutschland, sprich mit ihr, auf dich wird sie hören, vielleicht kommt sie mit dir zurück, du fährst doch Laura? Bitte!«

»Nach Frankfurt?«, fragte ich.

»Aber nein, sie ist in Berlin. Dieser schreckliche Mensch, du weißt schon, dieser Kommunist mit der Brille, der hat sie dazu überredet, an der Freien Universität Berlin zu studieren. Wir haben nicht einmal ihre Adresse.«

Ich fuhr. Ich forschte die Adresse des »halbseidenen« Peter, bei dem ich Gisi vermutete, über Uni-Kontakte aus und fuhr nach Berlin. Dreizehn Stunden lang. Von Wien nach München, von München mit einem »Interzonenzug« über Nürnberg und Leipzig nach Berlin, das meine sozialdemokratische Tante Fridolin mit trauernder Anerkennung in der Stimme als »Insel im roten Meer« bezeichnete. Ich nahm ein Taxi und fuhr nach Berlin Kreuzberg, den Namen der Straße habe ich vergessen. Der Taxifahrer wies mit abfälliger Handbewegung auf das Haus, er grummelte etwas von »Gammlern« und »sollen sich erstmal waschen« und entließ mich in grußloser Verachtung. Das Haus war eine verwahrloste Mietskaserne, grau, der Verputz nur noch andeutungsweise vorhanden, einige Fenster mit Pappe verblendet. Im Hausflur roch es nach ungelüftetem Schülerheim und schlechter Gasthausküche. Ich begegnete einer jungen Frau in Männerhosen und einer übergroßen Windjacke, die um sie flatterte wie ein schlecht verankertes Pfadfinderzelt. Sie wies mich in den zweiten Stock, dort, »ja, doch«, dort wohne »Gies’la.«

Ich fand Gisi in einer kleinen grauen Küche, in der es nach Apfelkompott duftete. Sie stand vor dem Fenster, das auf einen grauen Hinterhof ging, sie trug Jeans und einen Männerpullover und sah aus wie ein Flüchtlingskind. Sie hob ein Einweckglas gegen das Licht und betrachtete den Inhalt. »Hallo Gisi«, sagte ich und war darauf gefasst, dass sie vor Überraschung das Glas fallen lassen würde. »Laura, hallo«, antwortete sie, als hätte sie mich erwartet. »Es war klar, dass sie dich schicken würden. Mach dir keine Hoffnungen, ich komme nicht mit dir zurück.«

Es war falsch gewesen aus der Tatsache, dass ich Gisi bei einer so bürgerlichen Beschäftigung wie dem Einwecken von geschenkten Äpfeln ertappt hatte, auf bourgeoise Lebenshaltung zu schließen. Während der folgenden drei Stunden, die wir einander in der Küche zu Kreuzberg gegenübersaßen, erfuhr ich von ihr, dass die Kommune die einzig sinnvolle Form des Zusammenlebens von zwangfreien, sozial orientierten Menschen sei; dass die Pariser »Nacht der Barrikaden« im vergangenen Mai die Welt verändert habe wie seinerzeit die Französische Revolution; dass Daniel Cohn-Bendit und Rudi Dutschke die wahren Helden des Jahrhunderts seien; und dass allein der SDS eine mögliche politische Fraktion für einen Menschen mit Gewissen darstelle. Sie sprach kaum noch von Peter, der sie hierher gebracht hatte. Eingeschrieben? Habe sie sich noch nicht, sie werde es schon mal tun, demnächst, Gesellschaftswissenschaften, was sonst. Aber im Augenblick laufe so viel anderes. Ich hörte von Demos gegen den Vietnamkrieg und von der bevorstehenden Sozialrevolution und von Freiheit in jeder Form. Freiheit von Unterdrückung, Freiheit von persönlichen Bindungen, Freiheit in der Liebe ...

Was ich ihr entgegenzuhalten hatte, berührte sie kaum. Ich sprach vom »Prager Frühling«, von der Euphorie, die er bei uns ausgelöst hatte. Von unserem Entsetzen über den Einmarsch der Sowjettruppen in Prag, das Ausmerzen aller demokratischer Ansätze, das Scheitern eines Sozialismus mit menschlichem Antlitz. Sie zuckte die Achseln und sprach von Studentenrevolten in Mexico City und Tokio und Rom. Und als ich ihre Mutter erwähnte, fiel sie mir schroff ins Wort: »Lass es, Laura, es bringt ja doch nichts, diese Welt liegt hinter mir.«

Ich habe an diesem Nachmittag außer der Küche von Gisis äußeren Lebensumständen nur das ungeputzte Gemeinschaftsklo gesehen. Ich habe nichts über ihr Verhältnis zu Peter, ihre finanziellen Verhältnisse, ihre persönlichen Pläne, ihre Freundschaften erfahren. Dann und wann steckten ein Genosse oder eine Genossin den Kopf zur Tür hinein, holte ein Glas Wasser, kochte Tee. Sie machte mich mit keinem der Leute bekannt. Es war, als schäme sie sich für mich, ein Stück fleischgewordene bürgerliche Vergangenheit in Twinset und Schottenrock. Ich habe sie damals am frühen Abend verlassen, habe in einer schäbigen Pension in der Nähe des Bahnhofs übernachtet und bin am nächsten Morgen nach Hause zurückgekehrt.

Gisis Phase der Abtrünnigkeit von der bürgerlichen Welt ihrer Heimatstadt dauerte zwei Jahre. Trotz unserer unterschiedlichen Lebenseinstellungen wurden wir uns in dieser Zeit nicht fremd, es war bloß so; als säßen wir auf zwei verschiedenen Planeten.

Kurz nach meiner Rückkehr aus Berlin zog Gisi um. Ich wusste nicht mehr, wie ich sie erreichen konnte. Sie brach den Kontakt zu mir jedoch nie völlig ab. Dann und wann erreichte mich eine Nachricht. Eine in Hamburg abgestempelte Postkarte, »Gruß G.« Eine weitere aus Paris mit nichts als Gisis schwungvollem »G«. Und wieder eine aus Berlin, datiert vom 1. 1. 1969: »Niemand führt uns an. Wir sind für uns selbst verantwortlich. Immer deine G.«

1969. Ich stand in meinem einundzwanzigsten Jahr, und das ohne Hochgefühl. Ich studierte lustlos, absolvierte einige unwesentliche Prüfungen und arbeitete zeitweise als Hostess bei Kongressen. Ich fühlte mich ungeliebt, einsam und bedeutungslos. Überall in der Welt veränderte die Jugend die Welt, in Wien, das der Fridolin als »stehendes Wasser« bezeichnete, wurde bestenfalls zaghaft aufgemuckt. Und nicht einmal daran hatte ich teil. Ich war halt nicht wie Gisi; die, ja die hatte sich kopfüber hineingestürzt und war im Epizentrum gelandet. Die Krönung meiner eigenen Zeitzeugenschaft für dieses aufregende Jahr bestand in einer Nacht vor Fridolins Fernsehgerät, als ich mit klopfendem Herzen die Landung des ersten Menschen auf dem Mond verfolgte.

Einige Wochen nach dem Mann-im-Mond-Event erhielt ich einen etwas wirren Brief von Gisi aus den USA. Sie sei mit Freunden in einem Nest namens Woodstock bei einem Popmusikfestival gewesen, ein »Jahrhundertereignis«, sie habe Jimi Hendrix und Joan Baez gehört und Gras geraucht und die Welt in Liebe umarmt. Dem Brief lag ein etwas verwackelter Schnappschuss bei: Gisi in einem langen nachthemdartigen Kleid mit geschlossenen Augen auf einer Wiese liegend; lächelnd als wäre sie betrunken; das Haar länger als sonst, der starken Naturkrause wegen abstehend wie ein Helm, was ihre kleine, dünne Gestalt unproportioniert wirken ließ. Auf die Rückseite hatte sie »Make love not war. Immer deine G.« gekritzelt.

Diesen Brief habe ich Ida Miller verschwiegen. Ich dachte viel an Gisi, ich wünschte sie mir zurück, sie war der Generator, der meinem Leben fehlte. Und dann wurde alles anders, weil ich Martin Wunder traf.

Eine Nikolausparty, auf die ich nicht gehen wollte, am Ende dennoch ging. Ich war überzeugt, dass ich mundtot in einer Ecke sitzen und bei der ersten sich bietenden Gelegenheit verschwinden würde.

Martin hatte ein kantiges Gesicht, eine gesunde Gesichtsfarbe und warme graue Augen. Sein helles, borstiges Haar trug er kurz geschnitten. Er war groß, sehnig und gelenkig, ein körperbewusster Mensch, der seine Gliedmaßen methodisch einsetzte. Später hat er mir erklärt, das sei typisch für einen Extremsportler. Er kam auf mich zu, als wären wir ewig bekannt und hier verabredet. Eine halbe Stunde später verließen wir das Fest, gingen ins Gasthaus vis-à-vis und erzählten einander bis zur Sperrstunde, was wir sonst niemandem erzählt hätten.

Mit Martin fühlte ich mich zum ersten Mal seit dem Tod meiner Eltern geborgen. Das blieb so, bis er starb. Er war unverklemmt, auch was seinen beruflichen und seinen sportlichen Ehrgeiz betraf. Er studierte Medizin, er lag. gut im Rennen, war mit dem letzten Studienabschnitt praktisch fertig und wollte Sportmediziner werden. Es stand für uns beide außer Frage, dass wir zusammengehörten. Wir waren nicht von Leidenschaft gebeutelt, wir wurden aneinander einfach froh. Wochen, ehe ich mit Martin zum ersten Mal schlief, hat er mich gefragt, ob ich ihn heiraten wolle.

Schon an unserem ersten Abend im Gasthaus hatte ich ihm von Gisi erzählt. Als er sie traf, hatte er das Gefühl, sie längst zu kennen, denn über Gisi sprach ich oft, selbst fern von mir blieb sie ein Teil meines Lebens. Ich denke, Martin beurteilte sie richtig: »Ein waches Mädel, das reflektiert. Das versucht seinen Standort zu bestimmen, das aus der Geborgenheit einer angepassten bürgerlichen Familie kommt und sich Gegenwelten sucht.«

»Und ich? Reflektiere ich nicht?«, fragte ich, weil ich das Gefühl hatte, im Vergleich zu Gisi dumpf und dämlich dazustehen.

Martin war umgänglich, liebenswürdig und klug, aber (rückblickend sei’s gesagt) extrem humorvoll war er nicht. Er nahm alles, mich eingeschlossen, ernst und wirkte zuweilen schulmeisterhaft. An mir sei revolutionäres Gedankengut zwingend vorübergegangen, dozierte er damals, weil ich frühzeitig auf mich allein gestellt gewesen sei und es kein Elternhaus mehr gegeben habe, gegen das ich mich hätte auflehnen können.

Im Übrigen war ich so sehr in mein Leben mit Martin verstrickt, dass ich kaum Sinn für mein Studium, geschweige denn für Jugendrevolten hatte. Martin war zu mir gezogen.

»Kindkindkind, jetzt auch du! Was würde deine arme Mutter sagen! Was ist das für eine Welt, in der wir leben!«, hatte Ida gestöhnt. Auch der Fridolin hatte Bedenken angemeldet, bald darauf jedoch gefunden, etwas Besseres als Martin hätte mir nicht passieren können. Martins Mutter hatte zunächst Wühlarbeit gegen mich betrieben. Martin war ihr Ein und Alles, Martins Vater, auch er Mediziner, war im Krieg in russische Gefangenschaft geraten, hatte etliche Jahre als Arzt in einem Gulag zugebracht und war dort umgekommen. Verständlich, dass die Mutter den Sohn nicht widerstandslos ziehen ließ. Schließlich kapitulierte auch sie.

Wir sprachen von Heirat, denn nichts sprach dagegen. Wir harmonierten. Wir hatten guten Sex — oder was wir dafür hielten, denn viele Vergleichsmöglichkeiten hatten wir beide nicht. Wir liebten uns auf gesunde Weise, ohne große Varianten. Irgendwann wollten wir Kinder. Vorerst gingen wir auf Wohnungssuche. Und just da kam wieder ein Brief von Gisi. Diesmal aus Frankfurt. Keine revolutionären Parolen, nichts von flowerpower, keine Proklamationen. Nüchtern, ein wenig traurig, schließlich: Sie vermisse mich und würde mich gerne sehen.

Zu diesem Zeitpunkt wusste ich bereits, dass Gisi sich in Frankfurt aufhielt, die gepeinigte Mutter Ida hatte es mich wissen lassen. »Um bei einem gewissen Marcuse zu studieren«, hatte sie spitz bemerkt. »Und weißt du, was? Alles über Eros. Dieser Marcuse dürfte ein Ferkel sein.«

Ich fuhr also nach Frankfurt. Im Zug war mir einerseits bang, andererseits war ich unglaublich hochgestimmt, weil mir plötzlich klar wurde, dass meine gisilose Zeit zu Ende ging.

Sie erwartete mich am Bahnhof. Ich hatte sie zwei Jahre lang nicht gesehen, auf den ersten Blick schien sie unverändert. Aber als wir einander in ihrem trübseligen Untermietzimmer gegenübersaßen, sah ich, wie blass sie war. Die Fingerkuppen ihrer rechten Hand waren gelb vom Rauchen filterloser Zigaretten. Sie rauchte pausenlos, hastig, inhalierte tief. Sie hatte schwarze Ringe unter den Augen. Und die Augen glitzerten nicht mehr, sie waren matt wie rußgeschwärzte Glasscherben. Ihre Stimme klang heiser. »Es geht mir beschissen«, sagte sie ohne Umschweife.

Selbstverständlich war sie nicht bloß in den USA, sondern auch in Mexiko gewesen. Dort hatte sie einen Deutschen getroffen, der behauptete, Assistent von Marcuse zu sein, sie, Gisi müsse unbedingt nach Frankfurt, um Ådorno und Marcuse zu hören, sensationelle Denker, wer sie nicht gehört habe sei nicht fit for the century. In Frankfurt hatte sich bald herausgestellt, dass der angebliche Assistent Marcuse noch nie begegnet war. »Er ist ein aufgeblasener Schwätzer und ein schlechter Liebhaber.« Gisi stand auf und reckte sich, ihr T-Shirt rutschte nach oben, ich sah ihre mageren Rippenbögen. »Er hat mich angebumst«, sagte sie sachlich. »Ich habe abtreiben lassen. Ich habe eine Menge Blut verloren, es hat einen Haufen Geld gekostet, ich bin pleite und ich hasse diese Stadt.«

Ich blieb einen Tag und eine Nacht, wir schliefen zu zweit in dem französischen Bett mit der buckligen Matratze, wir redeten bis wir erschöpft waren, schliefen ein paar Stunden und redeten weiter. Als ich abfuhr, hatte ich sie soweit: Sie würde nach Hause zurückkehren, sobald ich ihren Eltern klargemacht hatte, dass sie nicht bei ihnen leben könne und dass sie finanzielle Unterstützung brauche, um ihr Studium fortsetzen zu können.

Richard Miller spielte zunächst den harten Mann, keinen Finger gedenke er für die Abtrünnige zu rühren, indes, sein »liebes Iderl« hatte ihn im Griff. Es gebe da doch die kleine Wohnung von Richards verblichener Tante. Und eine monatliche Zuwendung sei besser als die schiefe Bahn.

So kehrte Gisi heim. Sie nahm ihr Germanistikstudium wieder auf, ging seltsam fremd, fast erstaunt durch ihre alte Stadt und sagte manchmal: »Ich kann es nicht fassen, dass sich hier gar nichts verändert hat.« Es klang wie Kritik, nicht nur an Wien, auch an mir.

Martin und ich hatten die große Innenstadtwohnung gefunden, in der ich auch nach seinem Tod noch so viele Jahre blieb. Damals machte Martin sein praktisches Jahr im Krankenhaus, er verdiente wenig, also ging ich ans Eingemachte. Ich verbrauchte so ziemlich alles, was mir von den Eltern geblieben war, für die Gründung unseres Hausstandes. Wir heirateten 1971. Von da an ließ ich mein Studium schleifen, obwohl mir nur wenige Prüfungen zum Abschluss fehlten.

Ich wurde häuslich, ich putzte und kochte und bügelte Martins Arztkittel und seine Hemden. Wir hatten oft Freunde zu Gast, ich komponierte Menüs und kreierte Tischdekorationen. All das machte mich glücklich, auch, dass Meta, Martins Mutter, zutraulich geworden war. Sie kam oft bei uns vorbei. Ich war, selbst mutterlos, frei von Idiosynkrasie gegen Schwiegermütter, wir kamen gut aus, wir lachten viel und Meta sprach oft von einem Enkelkind.

Es kam ungeplant. Als wir noch nicht verheiratet gewesen waren, hatte Martin es zu einer Art Meisterschaft im coitus interruptus gebracht. Als Ehemann machte er es sich leichter, er verpasste mir die Pille, die ich immer wieder mal vergaß. Auf diese Weise entstand unsere Tochter Lisa Meta Wunder. Lisa nach meiner Großmutter, Meta nach meiner Schwiegermutter. Daraus wurde Limettchen, weil Gisi fand, als Taufpatin des Kindes habe auch sie das Recht auf Namensgebung.

Als Limettchen geboren wurde, war Gisi bereits mit Viktor Urbanski verheiratet. Sie hatten sich bei uns getroffen. Ich schwöre heute noch jeden Eid, dass ich nichts im Sinn hatte, als ich die beiden zu einem diner à quatre einlud.

Es geschah auf dem Höhepunkt meiner Hausfrauenphase. Damals stellte ich Tischgesellschaften zusammen und kaufte sündteure Kochbücher und machte Sitzordnungen wie Ida von Miller. Nach Limettchens Geburt ließ ich schlagartig nach, seit ich verwitwet bin, passe ich total. Als berufstätige Frau bin ich längst dazu übergegangen, Tiefgekühltes in die Pfanne zu hauen und in der Küche zu decken, wenn jemand sich gar nicht abwimmeln lässt und zum Essen bleibt.

Damals freilich besaß ich noch Ehrgeiz, zum Beispiel den, Viktor Urbanski mit meinen Fähigkeiten zu blenden. Urbanski arbeitete auf derselben Station wie Martin. Fünf Jahre älter als mein Mann, war er bereits Assistenzarzt auf dem Weg nach oben. Die beiden hatten sich über ihre Leidenschaft für den Extremsport gefunden: gemeinsame Gletschertouren, Klettern, der ganze »Harte-Männer-Kram«. Als ich Martin sagte, dass ich Gisi für Urbanski zum Essen bitten wolle, grinste er.

»Du kuppelst.«

»Tu ich nicht. Gisi ist bloß der einzige wirklich attraktive und amüsante Single, den ich kenne.«

Zu diesem Zeitpunkt war Gisi mit ihrem Studium fast fertig. Sie lebte ziemlich einsam in der Wohnung der toten Tante und schwankte zwischen Heiterkeit und Gedankenabwesenheit.

An dem bewussten Abend war sie hinreißend. Apart anzusehen, sprühend, eine glänzende Erzählerin. Anders als Töchter aus gutem Hause für gewöhnlich sind. Von ihren Wanderjahren, von Flowerpower und Hippieleben sprach sie grade so viel, dass Viktor einen Anflug von Exotik, einen Hauch von Erotik und einen Schimmer von Wagemut erhaschte. Er fuhr komplett darauf ab. Am Ende des Abends war er Gisi verfallen.

Eine Zeit des wilden Werbens begann. Gisi zögerte, schließlich gab sie nach.

»Ganz verstehe ich sie nicht«, sagte ich am Abend nach der Urbanski-Hochzeit.

»Ich schon«, meinte Martin, »Viktor ist der Rückfahrschein in ihre alte Welt.«

Damals ließen Gisi und ich das Studium endgültig sein. Gisi war bald »Frau Dozent«, denn Viktor machte schnell Karriere. Sie half ihm in seiner Privatpraxis und führte, wie die endlich stolze Ida Millerin zu sagen pflegte, »ein Haus«. Die Leichtigkeit, mit der sich Gisis Metamorphose vom einstigen Hippie zur stockbürgerlichen Ehefrau vollzog, hätte mich nachdenklich stimmen müssen. Aber ich kam damals wenig zum Nachdenken. Ich war plötzlich hauptberuflich Mutter. Ich hatte mir das nicht so zeitaufwändig vorgestellt. Limettchen, mein Entzücken, es kroch und lief und riss, was es konnte, zu Boden, es schiss viel zu lange in seine Windeln und sprach früh: »Ich bin Limchen«, sagte es. Ich würde zu Ende studieren, sobald Limettchen zur Schule ging, ja ...

Dann erkrankte Martins Mutter. Sie starb zwei Jahre lang an Krebs. Ich pflegte sie, so gut ich konnte, nicht nur aus Pflichtgefühl, ich mochte sie. »So viel Liebe, so viel Liebe«, sagte sie immer wieder. »Was Besseres als eine Waise zur Schwiegertochter konnte mir nicht passieren.« Sie starb ein Jahr vor ihrem Sohn.

Limettchens erstes Schuljahr. Osterferien, sehr spät im Jahr. Martin wollte unbedingt auf den Ortler. Das Kind und ich sollten mit ihm nach Sulden kommen, im Tal bleiben und »Hangerl rutschen«, während er dem »König der Berge« zu Leibe rücken würde. In der Nacht vor seiner großen Tour haben wir uns geliebt. Sehr leise, sehr vorsichtig, weil Limchen auf einem Diwan im selben Zimmer schlief. »Du wirst k. o. sein, wenn du so weiter machst«, habe ich geflüstert. Seine Stimme war dicht an meinem Ohr, »mm-mm« hat er gemurmelt, »das ist gut für die Kondition.« Es war schön, ich war unglaublich glücklich, der Mond schien in das Zirbelholzzimmer.

Am Abend darauf war ich Witwe. Ein Schneebrett war abgegangen und hatte Martin und den Bergführer in eine Gletscherspalte gefegt. Der Bergführer konnte sich aus eigener Kraft retten. Martins Leiche wurde drei Tage später geborgen und ins Tal gebracht. Als man mich fragte, ob man den Sarg öffnen solle, damit ich meinen Mann noch einmal sehen könne, lehnte ich ab.

»Armes Zwetschkerl, jetzt hast du nur mehr deine Mama«, sagte der Fridolin nach dem Begräbnis zu Limettchen. Seither nennt mich meine Tochter, wenn wir allein sind »Einzige«... Ich blieb in der alten Wohnung, weil mir zu jedem Entschluss die Kraft fehlte.

»Kinder kosten Geld, du wirst dir Arbeit suchen müssen«, seufzte der Fridolin.

»Sie hat Recht. Such dir einen Job«, drängte Gisi. »Du brauchst nicht nur Geld, du brauchst Inhalte. Limettchen wird rasch größer, bis dahin kann ich sie dir abnehmen, wenn es nötig ist, ich tu es gerne, ich habe eh nichts Gescheites zu tun.«

Es war Viktor, der auf die Idee mit dem Schreiben verfiel. Er ließ seine Beziehungen spielen, ich bekam zunächst einen Job als freie Mitarbeiterin bei einem Wochenmagazin. Zur »festen Freien« stemmte ich mich selbst empor. Dann hat Viktor den Herausgeber an der Hüfte operiert, vier Wochen später war ich Redakteurin.

Als Martin starb, war ich dreiunddreißig Jahre alt. Drei Jahre nach seinem Tod hatte ich die erste Affäre und das eigentlich nur, weil Gisi mich dazu gedrängt hatte. Ständig war sie mir in den Ohren gelegen: »Es ist ungesund, ohne Sex zu leben, du wirst vertrocknen ... Herrgott, Laura, du musst doch das Bedürfnis nach einem Mann haben, du bist doch nicht frigid, oder?«

Nein, ich bin nicht frigide, so viel wusste ich bereits damals. Ich ertrug es nach Martins Tod bloß nicht, von einem anderen Mann berührt zu werden.

Der Italiener, den Gisi mir zuschanzte, war elegant, rücksichtsvoll und zwölf Jahre älter als ich. Er kam alle zwei Monate aus geschäftlichen Gründen von Mailand nach Wien. In Anspielung auf meine endlich beendete sexuelle Enthaltsamkeit nannte Gisi ihn den Blockadebrecher. Es war kein Wirbelsturm, eher eine Art Pflichtübung auf dem Weg zurück ins Leben. Die Sache schlief mit der Zeit ein.

Gisi ließ nicht locker. »Du hast Bindungsängste«, hielt sie mir vor. »Weil du erst deine Eltern und dann Martin verloren hast, fürchtest du dich davor, wieder jemanden zu verlieren. Darum gehst du immer nur mit Männern aus, bei denen du dir sicher bist, dass du nicht schwach wirst.«

Wahrscheinlich hatte sie Recht. Dazu kam, dass ich Sex nicht so wichtig nahm, wie Gisi das tat.

»Laura, nicht wieder eine jahrelange Liebespause«, drängte sie. »Warte nicht auf das Absolute, lebe drauf los. Es muss keiner für’s Turteltaubennest sein, wichtig ist, dass er gut vögeln kann.«

Ich war da anderer Auffassung. Eigenhändig gelangte ich wesentlich sicherer und müheloser zum Orgasmus als beim Rumgeturne zu zweien. Zumindest traf das restlos auf mein Verhältnis mit einem geschiedenen Rechtsanwalt zu, in das ich nach jahrelanger Abstinenz geschlittert war. Eine biedere Angelegenheit, die sich zunehmend von der unbefriedigenden Bettgeschichte weg zu einer lauen Freundschaft mit Konzert- und Heurigenbesuchen hin entwickelte und die zum Zeitpunkt von Gisis wildem Liebesabenteuer mit Ben dem Buschmann grade noch bestand.

In diesem Zusammenhang gewinnt eine Begebenheit, die mir, als sie sich zutrug, belanglos erschien, eigene Bedeutung. Zwei, drei Wochen vor dem denkwürdigen Nachmittag, an dem Viktor mich von Gisis Liebschaft mit Ben in Kenntnis gesetzt hatte, war sie kurz in Wien gewesen. Sie hatte mich angerufen, ob ich Zeit für sie hätte, nur rasch auf einen Espresso in der City...

Ein saukalter Nachmittag, eisiger Ostwind. Mit gesenkten Köpfen liefen wir durch die Stadt, als Gisi plötzlich vor der Auslage eines Wäschegeschäftes einen Haken schlug. »Ha«, machte sie und deutete auf ein sensationelles Nichts von einem seidenen Hemdchen, »das muss ich haben.«

Wir betraten das Geschäft, Gisi probierte und kaufte und wollte mich zu etwas ähnlich Bedenkenlosem überreden. Meine Nase lief, ich war antriebslos, ich sah nicht einmal richtig hin.

»Ich brauche das nicht«, sagte ich trübe. »Für wen sollte ich mich im Bett aufputzen, für den Jurisprudenzler?«

Gisis Augen hatten geglitzert, als sie mich musterte und mir ohne Wärme an den Kopf warf, ich sei selber schuld an meinem lauen Dasein: »Dich bestimmt nur dein Kopf, selten dein Herz und dein Unterleib nie. Aber in Wahrheit zählen nur Herz und Unterleib, alles andere kannst du vergessen.«

Dann hat sie sich vorgebeugt und mir wie eine antike Tragödin zugezischt: »Denn, Lauraliebchen, wir beide haben nicht mehr alle Zeit der Welt. Wenn wir die Chance kriegen, müssen wir sie mit beiden Händen ergreifen. Erregung und Abenteuer, nur das ist Leben.«

Ja, das hatte sie gesagt. Hätte ich bei unserem Kitzbüheler Gespräch daran gedacht, wäre mir schon damals klar geworden, dass Gisi auf ihren Tarzan nicht verzichten, sondern mit ihm das Weite suchen würde.

Der Tarzan-Effekt

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