Читать книгу Der Tarzan-Effekt - Hanna Molden - Страница 7
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»Sie ist verrückt geworden«, wiederholte Viktor und ließ sich in den Fauteuil zurücksinken, als hätte ihn diese Erkenntnis erschöpft.
Ich sagte nichts. Ich war zu sehr mit meiner eigenen Verstörtheit beschäftigt, um mir ein Wort des Mitgefühls für Viktor abzuringen. Verrat, dachte ich, sie hat mich verraten. Hintergangen. Betrogen. Viktor sah mich erwartungsvoll an. »Also, was sagst du?«
»Bestell mir einen Whisky«, sagte ich.
Er stand auf, suchte den Kellner und bestellte zwei Bourbon on the rocks.
»Wer ist der Mann«, fragte ich.
»Ein Tierfänger.«
»Was fängt er, Ratten?«
Viktor, der meine Bemerkung offenbar geschmacklos fand, sah mich strafend an. »Er ist Großwildjäger. Und ...«, sagte er langsam, ließ die Silben quasi von den Lippen tropfen, um die Bedeutung seiner Worte zu steigern, »er ist zehn Jahre jünger als sie.«
Ich schnappte nach Luft. »Du machst Witze.«
Meine Reaktion tat ihm wohl. Er schloss die Augen, ließ den Kopf theatralisch in den Nacken sinken und eine Weile auf der Lehne seines Stuhles ruhen, ehe er seufzte: »Ich wünschte, es wäre so.«
Wenn mir am Morgen jemand gesagt hätte, dass ich am Abend mein Gisibild grundlegend revidiert haben würde, hätte ich ihm ins Gesicht gelacht. Nun war es schon am Nachmittag so weit.
Viktor hatte mir den Sachverhalt aus seiner Sicht geschildert. Es fiel mir schwer, ihm zu glauben, aber ich glaubte ihm, er hatte nie viel Phantasie besessen, er hätte das alles nicht erfinden können: Gisi hatte sich in den vergangenen Monaten öfter als sonst im Kitzbüheler Ferienhaus der Urbanskis aufgehalten. Schifahren war nie ihre Leidenschaft gewesen, immer wieder hatte sie Viktor in den Ohren gelegen, im Winter endlich einmal in die Karibik oder auf die Seychellen zu fahren wie andere vernünftige Menschen auch. Aber plötzlich schien sie an Kitzbühel Gefallen zu finden und sie blieb, wenn Viktor an die Klinik nach Wien zurückmusste, unter allerlei Vorwänden dort. Das Haus müsse renoviert werden, sie müsse mit Baumeister und Handwerkern verhandeln ... Nichts war Viktor verdächtig vorgekommen. Er hatte es sogar als angenehm empfunden, allein in der Stadt zu sein, ohne die ewige Leier: »Was machst du heute, Viktor«, »schon wieder Golf, Viktor«, »warum nicht ins Theater, Viktor?« Ostern hatten sie noch durchaus vergnügt zu zweit im Haus verbracht. Viktor hatte Schitouren unternommen und war abends faul daheim geblieben, während Gisi ausging.
»Allein?«, wollte ich wissen. Der Kellner hatte uns einen zweiten Bourbon gebracht, Viktor drehte das Glas zwischen seinen Chirurgenfingern, als wäre es ein medizinisches Präparat. »Was heißt allein? Du weißt ja wie das ist, typisch Kitz, jeder kennt jeden ...«
»Und?«
»Nach den Feiertagen ist Gisi unter irgendeinem Vorwand wieder auf dem Land geblieben. Hausputz, glaube ich, nein, jetzt weiß ich es wieder, sie sagte: >Vielleicht kommt Laura auf ein paar Tage heraus, sie hat es mir schon lange versprochen.‹«
Schlange! Benützt mich ohne mein Wissen als Paravent für ihre Bettgeschichten! Ich bemühte mich um eine sachliche Tonlage, obwohl ich innerlich kochte. »Was war dann?«
Viktor strich mit dem Zeigefinger der rechten Hand wiederholt über seinen Schnurrbart, zweimal links, einmal rechts, ein Zeichen, dass er nervös war. Das Folgende auszusprechen war ihm sichtlich peinlich: »Ich war in München, ich hielt einen Vortrag, als dieser unerwartete Schneefall einsetzte, vorige Woche, weißt du noch ... Ich wollte die Gelegenheit nützen und noch einen Tag Schi fahren. Ich setzte mich spätabends ins Auto und fuhr von München nach Kitz. Gisi rief ich erst gar nicht an.« Er machte eine Pause und sah zu Boden, als schämte er sich. »Als ich ankam, war das Haus dunkel«, fuhr er schließlich fort. »Ich schloss auf, betrat die Halle und rief laut nach Gisi. Ich wollte nicht, dass sie glaubt, es wäre ein Einbrecher, ich wollte nicht, dass sie erschrickt, verstehst du, Laura?«
Ich verstand.
»Zuerst war es vollkommen still. Dann hörte ich Rascheln und Flüstern und dann fiel eine Tür zu. >Ich komme, Viktor‹, rief Gisi. Sie kam die Treppe runter, sie trug ihren Bademantel, war barfuß, das Haar ganz wuschelig, sie schien mir etwas zittrig.« Wieder machte er eine Pause. Er beugte sich vornüber und sah konzentriert zu Boden, als müsste er sich den Augenblick exakt in Erinnerung rufen. Dann gab er mit belegter Stimme den Rest zum Besten. »Sie hat sich vor mir aufgepflanzt — du weißt ja, wie sie es macht, die kleine Person, wenn sie will, dass man ihr zuhört. ›Viktor‹, sagt sie, >ich bin nicht allein, ein Mann ist bei mir.‹ Dann hat sie hinaufgerufen, einfach so, als wäre das ganz selbstverständlich: ›Ben? Komm bitte runter, Ben!‹«
In diesem Augenblick hatte ich vergessen, dass es in der Geschichte um meine beste Freundin ging. Die Situation fasziniert mich dermaßen, dass ich mich weit vorbeugte und sensationslüstern fragte: »Weiter, was war dann?«
Viktor schluckte. »Er kam nicht. Gisi rief noch einmal nach ihm. Ich habe zu ihr gesagt, >sieh nach, vielleicht hat er sich unterm Bett versteckt‹, und sie hat mich angefahren und gesagt, ›sei nicht geschmacklos, Viktor‹. Das musst du dir bildlich vorstellen, Laura, sie hat die Stirn, mir zu sagen, ich sei geschmacklos, während ihr Liebhaber in unserem Bett liegt.«
»Lag er tatsächlich?«
»Nein.«
»Wo war er dann?«
»Er ist aus dem Fenster gestiegen und hat sich an der Dachrinne heruntergelassen und ist durch den Garten abgehauen.«
Die Bar hatte sich gefüllt, der Klavierspieler hatte seinen Dienst angetreten, er hatte am Flügel Platz genommen und zu klimpern begonnen. Viktor und ich hatten einen dritten Bourbon intus und waren betrunken. Den Versuch eines stadtbekannten Gerüchteverbreiters, sich uns mit einem schleimigen »Hallo Urbanski, alter Freund, oho Frau Wunder, guten Abend!« zu nähern, hatte Viktor erfolgreich abgeschmettert. Mein Wissensstand in Bezug auf Gisis Seitensprung erweiterte sich laufend.
Der Liebhaber war fünfunddreißig und Holländer, Beruf white hunter. Zwei Drittel des Jahres brachte er in Namibia zu, wo er eine Lodge betrieb und Safaris veranstaltete. Zu seinen Kunden zählte ein stinkreicher hanseatischer Händler, der ein aufwändiges Domizil in Kitzbühel sein Eigen nannte. In ebendieses hatte er den Safarimann Ben auf unbegrenzte Zeit eingeladen. Meine Frage nach Bens Äußerem hatte Viktor nicht beantworten können. Er sei ihm zwar einmal begegnet, zusammen mit Gisi übrigens, auf einem monströsen Kitzbüheler Silvesterfest, habe aber das Aussehen und die Existenz des Kerls umgehend vergessen. Und nach dem Auffliegen der Affäre habe er ihn erst recht nicht zu Gesicht bekommen. Möglich, dass der Buschmensch im Umgang mit Großwild Mut an den Tag lege, aber vor gehörnten Ehemännern ergreife er die Flucht.
»Also, was sagst du dazu?«, fragte Viktor weinerlich.
»Scheiße«, fasste ich zusammen. »Und wie soll’s weitergehen? «
Viktor war von der manischen Stimmung des Erzählers in die depressive des Ratlosen gerutscht. »Ich habe keine Ahnung«, gab er zu. Gisi und er hätten in der Nacht der Entdeckung eine im Hinblick auf die Umstände erstaunlich zivilisierte Unterredung geführt. Gisi habe sich geweigert, den Kerl in die Wüste zu schicken und mit Viktor nach Wien zurückzukehren. Er, Viktor, sei am darauf folgenden Morgen abgereist. Seit nunmehr vier Tagen führe er ergebnislose Telefongespräche mit seiner Frau. Gisi sei restlos uneinsichtig, er wisse nicht mehr weiter.
Es war neunzehn Uhr geworden, ich war hungrig und nahm an, Viktor würde mich zum Abendessen führen. Nichts dergleichen. »Laura«, beschwor er mich mit schwerer Zunge, »ich weiß nicht mehr weiter, du musst mir helfen. Sprich mit ihr. Ruf sie an, nein, noch besser, du fährst zu ihr nach Kitz, am besten gleich! Was heißt, du kannst nicht? Mach es möglich! Wir sind doch Freunde!«
Was dann folgte, ist mir sehr genau in Erinnerung geblieben. Ungeachtet der drei Bourbons hat Viktor mich nach Hause chauffiert. Er hat mich nicht nach oben gebracht, ist nicht einmal ausgestiegen, um mich zum Haustor zu begleiten, ist hinter dem Lenkrad sitzen geblieben und hat mir durch das geöffnete Wagenfenster nachgebrüllt: »Laura! Ruf gleich in Kitz an! Jetzt gleich, ja?« Dann hat er Gas gegeben und ist mit quietschenden Reifen um die Ecke gebogen.
Auf dem Vorzimmerspiegel klebte eine Nachricht meiner Tochter: »Hallo, Einzige! Bin im Seminar und bleibe über Nacht bei Michi. Bis morgen, dein Limchen.« Michi war einer ihrer Kommilitonen, ein höflicher, strebsamer, sauber gewaschener junger Mensch, mit dem sie angeblich kein Verhältnis hatte, bei dem sie aber gelegentlich schlief. Außer seiner Sauberkeit fand auch ich nichts an Michi, das ihn in meinen Augen als Liebhaber für meine Tochter empfohlen hätte.
Ich war nicht gerne allein in dieser viel zu großen, mit wehmütigen Erinnerungen verknüpften Wohnung. Etliche dunkle Nebenräume, vier hohe, straßenseitig gelegene Räume in einer repräsentativen, unpraktischen Flucht. Am Ende der letzteren lag mein Schlafzimmer. Um in es zu gelangen, musste ich durch das Zimmer von Limettchen, eine unbefriedigende Lösung für uns beide, nun, da sie erwachsen war. Mit ein Grund, weshalb sie ihre Fühler nach einer WG ausgestreckt hatte. Wenn sie fortging, würde mein Herz bluten, aber an ihrer Stelle würde ich ebenso handeln.
Wenn ich allein zu Hause war, benützte ich weder den Salon noch das Speisezimmer, sondern verzog mich in mein Schlafzimmer, das Limettchen »Frau Wunders Höhle« nannte. Was ich zu meinem Behagen brauchte, hatte ich hineingeschleppt. Das breite Bett mit der verschossenen indischen Decke und den vielen bunten Kissen. Die Bücherstellage aus meiner Studienzeit mit meinen Lieblingsbüchern. Einen Tisch aus hellem Holz, der so groß war, dass neben meinem PC die ungelesenen Ausgaben der Zeit, Zeitungsausschnitte, unbezahlte Rechnungen und die Fotos von Martin und Limettchen, von den Eltern und von Gisi darauf Platz hatten. In einer Ecke stand ein Thonet-Kleiderständer, an dem meine Handtaschen und meine beiden Hüte (einer für den Winter, einer für den Sommer) hingen. In einer anderen Ecke befand sich ein schmaler, hoher Standspiegel, der aus dem Ankleidezimmer meiner Mutter stammte. In diesen Spiegel pflegte ich täglich zu sehen, eher flüchtig, weil meistens in Eile, die gewisse Inaugenscheinnahme, ehe man das Haus verlässt. An dem bewussten Abend rückte ich eine Stehlampe an den Spiegel, stellte mich dicht davor und begann mich eingehend zu mustern. Warum? Schwer zu sagen. Aus keinem vernünftigen Grund, vielleicht war es der Alkohol, der dem Unterbewussten Oberwasser verschaffte.
Erst die Augen: hübsch, ungewöhnliche Farbe, dichte dunkle Wimpern. Verführerisch? Eher skeptisch. Obwohl die Fältchen zu den Schläfen hin ganz fröhlich wirken. Mund: irgendwie aufregend, doch, ja, und die Zähne hervorragend in Schuss. Hals: lang, immer noch schlank, aber selbst aufs Äußerste gestreckt erste Jahresringe zu erkennen. Hände: schlank, glatt, keine Altersflecken... Ich raffte meinen Rock und betrachtete meine Beine. Der Anblick machte mich rundum froh. Und die Taille? Das darf doch nicht wahr sein! Gestern noch war sie schmal und beweglich ...
Ich warf mich auf mein Bett und starrte auf die Zimmerdecke. War ich sexy?
Fünfunddreißig Jahre ... Gisis weißer Jäger war fünfunddreißig, zehn Jahre jünger als sie und ich. Wie fand er sie? Wie würde er mich finden? Ich wälzte mich auf den Bauch, bohrte den Kopf in die Kissen und sabberte in die indische Baumwolle: »Auf dich würde er nicht fliegen Laura, du hast kein Sexappeal... Ein Jammer, weil der Wildschütz sicher toll ist... Neunzehn Jahre jünger als Viktor! Und wahrscheinlich potenter und raffinierter als alles, was unsereins trifft.«
Gisi. An diesem Abend beneidete ich sie um ihre Bedenkenlosigkeit. Meine eigenen sexuellen Aktivitäten waren stets wohl überlegt, nur kein Risiko eingehen, hieß mein Grundsatz. Nichts an meinen spärlichen Affären war je verrucht gewesen.
»Du betreibst den Beischlaf, als hätte ihn dir der Arzt verordnet«, hatte Gisi mir vor ein paar Jahren an den Kopf geworfen. Da war viel Wahres dran gewesen. Obwohl ich ihre Vorhaltungen damals hoheitsvoll abgeschmettert hatte. Niemals würde ich die Kontrolle über mich derart verlieren, mich vom Sex völlig beherrschen lassen wie die arme Martha ...
»Was heißt arme Martha«, hatte Gisi erwidert, »ich sage dir Laura, manchmal wünsche ich mir ein Abenteuer wie das ihre. Am Rand einer Klippe stehen, springen und statt fallen fliegen.«
Ich hatte damals abfällig gelacht und Gisi hatte mich der Heuchelei bezichtigt.
»Laura Wunder, wenn du ehrlich bist, wartest auch du im Stillen auf eine Klippe«, hatte sie mir ins Gesicht gesagt und hinzugefügt: »Deine Schwierigkeit ist bloß, dass du eines Tages oben stehen wirst und nicht wagen wirst zu springen. Wenn es doch einmal soweit kommen sollte, denk an mich: lass dich einfach fallen.«
Es war zehn Uhr nachts, als ich meine gefallene Freundin in Kitzbühel anrief, um ihr ins Gewissen zu reden. Irgendjemand, vermutlich Gisi, hob ab, gab keine Antwort und hängte ein. Ich versuchte es drei weitere Male, die Leitung wurde so rasch unterbrochen, dass ich nicht einmal mein »Ich bin’s! Laura!« anbringen konnte. Um Mitternacht fauchte sie wütend ins Telefon: »Lass mich endlich schlafen, Viktor.«
Das verschaffte mir die Chance, »Hallo Gisi« zu sagen. Schweigen. Ich hörte sie atmen.
Plötzlich kicherte sie vor sich hin: »Ich wusste, dass du anrufen würdest. Wir brauchen ein Indaba. Wann kommst du?«