Читать книгу Mit all meinen Narben - Hanna Wagner - Страница 4

Kapitel 1

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»Scheint so, als käme der hier genau richtig für dich.«

Mary-Ann sah von ihren Notizen auf und seufzte erleichtert, denn ihre Lieblingskollegin Penny hielt ihr einen Becher mit dampfendem Kaffee hin. Sie ließ den neongrünen Textmarker sinken und nahm ihn dankbar entgegen.

»O Gott, danke, das ist meine Rettung. Ich bin seit heute Morgen überhaupt nicht hier weggekommen.«

»Nein? Ist mir gar nicht aufgefallen.« Penny grinste breit, setzte sich auf die Schreibtischkante und schlug ein Bein über das andere. »Fünf Monate, Baby.«

»Bitte?«

»Heute ist es auf den Tag genau fünf Monate her, dass du hier angefangen hast. Zeit, eine erste Bilanz zu ziehen. Also, Schätzchen: Wie lautet das Fazit?«

Mary-Ann nahm einen großen Schluck des leckeren Heißgetränks, schwieg dann einen Moment und betrachtete zufrieden das Büroabteil. Sie spürte, wie ihre Mundwinkel nach oben wanderten, und räusperte sich. »Ich fühle mich wohl hier, was nicht zuletzt an der besten Sekretärin der Welt liegt.«

»Aww, Süße. Das macht mich ganz verlegen.« Übertrieben winkte Penny ab.

»Nein, im Ernst. New York City war immer mein Traum, aber als ich hier angekommen bin, hatte ich keine Ahnung davon, was es bedeutet, in dieser Stadt zu leben. Wenn du mich hier nicht aufgegabelt und von Beginn an unterstützt hättest, würde ich wohl immer noch ziellos in den Straßen umherirren.«

Penny warf die langen blonden Haare mit einem eleganten Schwung über die Schultern. »So viel Lob an einem tristen Montag. Davon könnte sich McMiller mal eine Scheibe abschneiden.«

Mary-Ann lachte. »Im Ernst, danke dafür. Ich liebe diesen Job hier.« Und mit dem Gehalt kam sie für New Yorker Verhältnisse auch gut aus. »Nur ist es manchmal ein wenig eintönig, so allein in dieser Box. Da lobe ich mir deinen perfekt getimeten Auftritt.«

»Vielleicht hat die Einöde ja bald ein Ende.«

»Nur, wenn McMiller nicht weiterhin alle abschreckt, die hier anfangen wollen.«

SMASH@X Industries war ein florierendes IT-Unternehmen, dessen Management großen Wert auf qualifiziertes Personal legte. Deshalb verdonnerte der Abteilungsleiter jeden Bewerber zu einer zweiwöchigen Probearbeit und überprüfte penibel, ob dieser den hohen Anforderungen genügte.

»Ähm … oder dir einen anderen Mitarbeiter vor die Nase setzt.« Plötzlich veränderte sich Pennys Gesichtsausdruck. Sie verheimlichte ihr etwas, da war Mary-Ann sich sicher. »Im Grunde fällt dein Urteil aber gut aus, oder?«, führte sie das Gespräch zurück zu ihrer Ausgangsfrage.

»Die positiven Aspekte überwiegen durchaus: Ich kann inzwischen problemlos den Kaffeeautomaten bedienen, und der Snackautomat zickt auch nicht mehr so rum, wenn ich eine Münze einwerfe.«

»Na, wenn das kein Grund zum Feiern ist. Was hält die netteste Buchhalterin des Planeten davon, mit der weltbesten Sekretärin heute Abend im Great One etwas trinken zu gehen?« Der Club war einer der angesagtesten dieses Viertels und Pennys Stammlokal.

Mary-Ann behielt den nächsten Schluck Kaffee einen Moment lang auf der Zunge. Es war ja okay, in ein Restaurant, eines dieser Szenecafés oder in eine Bar auf einen Drink auszugehen. Aber in einen Club? Laut, stickig, überfüllt mit Menschen, die ihren Feierabend zelebrierten. Das war ganz und gar nicht gut und konnte nur im Desaster für sie enden. Nein, jetzt, wo sie sich einigermaßen eingelebt hatte, konnte sie keinen Zwischenfall riskieren. Dies würde sie doch nur zurückwerfen. »Ehrlich gesagt, sind Clubs nicht so mein Ding.«

»Gehe ich also wieder allein und schaue, ob ich meinen Haken nach dem großen Fisch im Teich auswerfen kann? Der letzte vermeintliche Fang erwies sich als grandioser Reinfall. Aber ich wäre nicht ich, wenn ich aufgeben würde.«

Penny war ständig auf der Suche nach dem Mann fürs Leben. Für Mary-Ann hingegen war es vollkommen unvorstellbar, sich zu verlieben und zu binden. Nicht nach all dem Schmerz, den sie durchlitten hatte.

Penny warf ihren leeren Becher in den Papierkorb. »Treffer! Wenn das kein Omen ist!« Sie klatschte in die Hände und lachte. »Ob ich das noch mal schaffe?« Ohne zu zögern, griff sie sich Mary-Anns gerade eben geleerten Kaffeebecher und versenkte ihn gekonnt.

»In dir schlummert eine Basketballerin, oder?«

»Schön, dass wenigstens du mein Talent erkennst. Leider reichen meine gerade mal 1,70 m nicht für diesen Sport der Giganten. Sonst wäre ich garantiert Profi geworden und hätte einen gestählten, makellosen Body, den der Playboy mit Vorliebe auf seinem Cover abbilden würde.«

»Ich wette, der nähme dich auch so mit Kusshand.« Im Gegensatz zu mir, dachte Mary-Ann. Penny hatte alles, was in Männeraugen eine attraktive Frau ausmachte. Kurven an den richtigen Stellen, eine Wahnsinnstaille und schlanke Beine, die sie mit Vorliebe in engen Röcken mit Stilettos oder Pfennigabsatz-Stiefeln präsentierte. Zudem war sie schlagfertig und sorgte immer für gute Laune. Genau wie sie selbst. Früher einmal jedenfalls.

»Hab’ ich da gerade etwas von Playboy gehört?« Eine volltönende Stimme riss Mary-Ann aus ihren Gedanken, und sie entdeckte Mike Forrester, der frech grinsend seinen Kopf über die Trennwand der Nachbarbox hob, seine Arme darauf ablegte und Penny ein kesses Zwinkern zuwarf.

»Sorry, Mikiboy, von dir war dabei nicht die Rede«, konterte Penny, woraufhin er nur lachte. »Hast du nichts Besseres zu tun, als uns zu belauschen?«

»Wenn du nicht willst, dass man dich hört, musst du eben leiser sprechen oder mit deiner kleinen Freundin woanders Pause machen.« Kleine Freundin? Gott, was bildete sich die Lederjacke eigentlich ein? So etwas Ungehobeltes. Besaß keinen Anstand und wurde dann noch ausfallend.

»Du übertriffst dich ja heute wieder an Charme, Schätzelein.«

»Yes, Baby, dem ist einst sogar schon die ehemalige Personalchefin erlegen, unten in der Tiefgarage.« Er strich sich theatralisch durch die Haare und zupfte sich die Ärmel der Lederjacke zurecht.

»Boah, du Angeber. A: Dein Ruf eilt dir meilenweit voraus und B: stehen Mary und ich nicht auf Spielchen. Außerdem: Was hat dir das heiße Techtelmechtel denn eingebracht? Seit Jahren hockst du hier in der Finanzabteilung auf dem gleichen Posten. Dann war es wohl doch nicht so gut, wie du geglaubt hast«, stichelte Penny.

»Mein Tag wird kommen, und dann werde ich erhobenen Hauptes aus dieser Etage verschwinden und den langersehnten Führungsposten erobern.« Mike rollte mit den Augen und verschwand wieder aus dem Sichtfeld.

»Grauenvoller Typ«, flüsterte Mary-Ann Penny zu.Überhaupt, wie konnte er das tun? Mit einer Vorgesetzten? Hatte er vorgehabt, sich hochzuschlafen, oder brauchte er nur etwas zum Prahlen? Wo doch Beziehungen am Arbeitsplatz bei SMASH@X Industries zwar nicht verboten, aber auch nicht gern gesehen wurden. Andererseits … zählte ein One-Night-Stand als Beziehung? Wohl kaum. Mit einem Kollegen etwas anzufangen, käme für sie keinesfalls in Frage. Und mit einem Möchtegern-Biker-Weiberhelden wie diesem Mike Forrester schon gar nicht. Gedankenverloren drehte sie an dem Ring an ihrer linken Hand.

»Penny!«, durchdrang die Stimme ihres Chefs die geschäftige Stille des Großraumbüros der 42. Etage, sodass die beiden Frauen zusammenzuckten. Die Sekretärin erhob sich und sah über die Trennwand hinweg in die Richtung, aus der der Ruf kam. »In mein Büro!«

»Bin sofort da!«, antwortete sie und legte Mary-Ann eine Hand auf die Schulter. »Schade. Aber die Pflicht ruft. Und wie du hörst, hat der Boss heute wieder besonders gute Laune.«

»Dann lass ihn nicht warten. Danke für den Kaffee.«

Penny warf ihr im Gehen einen Luftkuss zu. Welch ein Glück, sie kennengelernt zu haben. Von der ersten Minute an hatten sie sich bestens verstanden.

Bis zum Feierabend war die Sekretärin von SMASH@X Industries nicht noch einmal zu ihr gekommen, sondern schien in McMillers Büro hängen geblieben zu sein. Zeit, nach Hause zu gehen. Auf den schwarz glänzenden Fliesen des Büroflurs klapperten die Absätze von Mary-Anns Stiefeletten. Die silbernen Türen des Fahrstuhls öffneten sich. Wie immer um diese Zeit waren die meisten Mitarbeiter schon gegangen, und sie musste nicht fürchten, in eine überfüllte, enge Kabine einsteigen zu müssen. Ihrem Schicksal unausweichlich ausgeliefert, was ihr Herz zum Rasen brachte und furchtbare Erinnerungen in ihr hervorrief. Sie trat ein, grüßte den unbekannten Mitfahrer und lehnte sich an die Metallwand. Mit beiden Händen hielt sie den Griff ihrer ledernen Handtasche und beobachtete die Anzeigetafel.

Was für ein Tag! Abwechselnd hob sie die Achseln und wiegte ihren Kopf, um ihre Muskeln zu lockern. Selbst jetzt, auf dem Heimweg, ratterten die Zahlen der Rechnungen und Quittungen, die sich auf ihrem Schreibtisch stapelten, durch ihre Gedanken. Sie legte sich den Henkel ihrer Tasche über eine Schulter und rieb sich die Schläfen, in deren Adern es schmerzhaft pulsierte. Im grellen Licht des Aufzugs, der sich surrend abwärts bewegte, säuselte weihnachtliche Swingmusik, die der Unbekannte neben ihr rhythmisch mit dem Fuß begleitete. Für einen Moment schloss sie die Augen. Ein sanfter Ruck, verbunden mit dem Ping der Etagenansage, verkündete die Ankunft im Erdgeschoss. Die Türen glitten auf, und sie betrat das festlich geschmückte Foyer, in dem am Morgen ein meterhoher Baum mit roten und dunkelgrünen Kugeln sowie goldenen Schleifen aufgestellt worden war. Sein Glanz entlockte den ein- und ausgehenden Mitarbeitern ein Staunen. Alle schienen das Fest mit Vorfreude zu erwarten, nur sie kam nicht in Stimmung.

Mit eiligen Schritten lief sie durch die gläserne Drehtür hinaus, vorbei an der Security, von der sie sich winkend verabschiedete. Frische Luft und Kälte schlugen ihr entgegen und brannten auf ihrem Gesicht. Durchatmen. Normalerweise nahm sie die Subway, um vom Büro zu ihrer Wohnung zu gelangen. Heute aber sehnte sie sich nach Bewegung, weshalb sie beschloss, die Strecke zu Fuß zurückzulegen. Sie gliederte sich in den Strom der Fußgänger ein, der sich durch die Straßen Manhattans schlängelte. Diese Lebendigkeit, das Hupen der Taxis, das sich wie ein Kanon erhob, die beeindruckende Tiefe der Häuserschluchten, all das zauberte ein Lächeln in ihr Gesicht. Mehr als sonst erleuchteten Millionen bunte Lichter die Schaufenster, Wohnhäuser, sogar die vorüberfahrenden Autos, und verbannten die nahende Dunkelheit. New York fieberte dem Fest entgegen. An jeder Ecke warben als Santa Claus verkleidete PR-Mitarbeiter der großen Ladenketten mit Sonderangeboten, um Käufer in die Geschäfte zu locken. Die halbe Stadt schien Schnäppchen zu jagen.

Es war das erste Weihnachten, das Mary-Ann in diesem Trubel verbrachte und nicht in ihrem beschaulichen Dörfchen wie die letzten dreißig Jahre. Vor dem Schaufenster eines Spielwarenladens hielt sie einen Moment lang inne. Durch eine glitzernde Schneelandschaft zog eine Eisenbahn gemütlich ihre Kreise. Geschenke türmten sich zu hohen Stapeln auf. Die Teddybären und Puppen trugen Weihnachtsmützen und hielten Zuckerstangen in den Händen und Pfoten. Mary-Anns Lächeln wurde breiter. Ein kleines Mädchen trat mit leuchtenden Augen neben sie. Es zog seine Mutter dicht an die Scheibe heran, um dann mit dem Zeigefinger auf all die Spielsachen zu deuten, die es sich von Santa Claus in diesem Jahr wünschte. Die Worte der hellen, aufgeweckten Kinderstimme versetzten Mary-Ann einen heftigen Stich im Herzen. Die Freude wich dem Schmerz, der ihr die Luft zum Atmen nahm. Immer wieder dieser Schmerz. Wann würde sie an diesen schummrigen Dezemberabenden mehr als diese kurzen Augenblicke in weihnachtlicher Vorfreude verbringen?

Nein. Jetzt nur nicht von den traurigen Erinnerungen übermannen lassen. Nicht hier in aller Öffentlichkeit, vor all den Leuten, die sie im Vorbeigehen beinahe mitrissen. Sie wandte sich ab und drückte sich mit dem Rücken an die Hauswand. Bloß nicht losheulen. Mary-Ann biss sich auf die Lippen, schloss für ein paar Sekunden die Augen und zählte ihre tiefen Atemzüge, um die Tränen niederzuringen. Unbewusst suchte ihr linker Daumen nach dem Ehering am Ringfinger der Hand, berührte ihn sanft. Vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen, den Heimweg zu Fuß zurückzulegen.

Der Wind frischte auf, blies durch ihre braunen Locken und löste eine Haarsträhne aus ihrem Dutt. Sie schlug den wollenen Kragen ihres grauen Walkmantels hoch und zog ihre Fleecehandschuhe an. In der feuchten Luft lag der Duft von Schnee. Mit geschlossenen Augen sog sie ihn ein. Wann würde die Stadt mit einer weißen Schicht wie aus Puderzucker bedeckt werden? Sie schaute zum Himmel hinauf, suchte sehnsuchtsvoll die ersten Flocken, woraufhin ihre trüben Gedanken und Bilder langsam verflogen. Nach einer Weile des Innehaltens straffte sie ihre Schultern und strich sich die entwischte Strähne hinters Ohr.

Gelang es ihr dieses Mal, diesen Moment des inneren Friedens festzuhalten, ihn nicht sofort wieder an die Einsamkeit zu verlieren, die in ihren eigenen vier Wänden auf sie lauerte? Wie ein Schatten, der sie zu überwältigen drohte. An jedem Abend in den vergangenen fünf Monaten. Da kam ihr eine Idee: der Central Park. Seit sie nach New York gezogen war, gehörte diese Grünfläche zu ihren Lieblingsorten. Lesen, sonnen, die Wolken beim Weiterziehen beobachten, die Farbenpracht des Herbstes bewundern, sich den Wind um die Nase wehen lassen, all das hatte sie hier schon erlebt. Wie war wohl der Winter in dieser Ruheoase?

Sie wählte den Weg zur Eisbahn, auf der sich zahlreiche Schlittschuhläufer tummelten. Wow, wie sie über die spiegelglatte Fläche glitten. Die Stimmen der Eisläufer und deren Gelächter, das die Musik aus den großen Lautsprechern übertönte, drangen an ihr Ohr. War das der Geruch von Zuckerwatte und gebrannten Mandeln, der da zu ihr wehte? Mmh, lecker. Versucht, dem appetitlichen Duft nachzugeben und ihr Portmonee zu fassen, um sich etwas von den Süßigkeiten zu kaufen, griff sie nach ihrer Tasche. Doch sie schüttelte den Kopf. Nur nicht der honigsüßen Verlockung erliegen und dem ungehemmten Konsum dieses Zuckerwerks verfallen. Das wäre genauso fatal wie ihr ständiger Griff zu Fast Food. Wie oft kaufte sie sich auf dem Heimweg ein fertiges Gericht, weil sie zu müde, zu ausgelaugt zum Kochen war. Der Job in der Finanzabteilung bei SMASH@X Industries war fordernd. Kein Vergleich zur Buchhaltung des dörflichen Supermarkts, in dem sie vorher gearbeitet hatte.

Was würde Mom zu ihren neuen Essgewohnheiten sagen? Das hätte es bei ihr nicht gegeben: Essen aus Pappschachteln. Entsetzlich. Nein, zu Hause kamen frische, selbstgekochte Mahlzeiten auf den Tisch. Das Bild, wie ihre Mutter beim Anblick von Burgern und Pommes die Augenbrauen skeptisch hochzog, um dann den Mund angewidert zu verziehen, ließ Mary-Ann amüsiert den Kopf schütteln.

Ein Stück abseits der Menschenmasse blieb sie stehen und verweilte, um einer Gruppe von Kindern beim Eishockey-Training zuzuschauen. Die Jungen und eine Handvoll Mädchen waren kaum älter als sechs Jahre. Erstaunlich, wie routiniert die kleinen Füße schon um Hindernisse herumfuhren oder sie übersprangen. Mit kräftigen Schüssen versuchten die mit Helm und Polstern ausgerüsteten Rookies, ein Tor zu erzielen.

Mary-Ann vergaß ihre Umgebung völlig. Sie nahm die Geräusche um sich herum nicht mehr wahr, sondern starrte wie gebannt auf die Szenerie. Surrend flog plötzlich etwas Schwarzes knapp an ihrem Kopf vorbei, schlug mit einem dumpfen Knall in einen Baum unmittelbar neben ihr ein und fiel zu Boden.

Was zum Teufel war denn das gewesen? Erschrocken drehte sie sich um und bückte sich nach dem Gegenstand, der ihren Kopf um Haaresbreite verfehlt hatte. Ein Puck? Puh, nicht auszudenken, wenn er sie getroffen hätte, bei dem Gewicht, das diese gummiartige Scheibe besaß, auf der sie das Logo der New-York-Rangers erkannte. Glück im Unglück. Sie richtete sich auf und wandte sich zum Eis.

»Sorry!«, rief ein Coach in ihre Richtung, hob entschuldigend die Hand und lächelte sie aus der Ferne an.

»Nichts passiert! Alles gut.«

Kaum hatte er sich von ihr weggedreht, blies er in seine Pfeife, worauf die Gruppe vor ihm stramm stand. Seine hünenhafte Statur musste auf die Kinder einschüchternd wirken.

Mit dem Puck in der Hand näherte sie sich der Brüstung der Eisfläche, um ihn zurückzuwerfen. Doch das Training schien beendet zu sein, denn die Kids verließen das Eis. Was nun? Die Scheibe unbeachtet aufs Eis werfen? Die nächste Mannschaft würde ihn sicher aufsammeln.

Als der Coach bemerkte, dass sie näher gekommen war, glitt er schwungvoll auf sie zu, bremste geschickt ab, sodass eine Wolke von Eisstaub aufwirbelte, und blieb hinter der Absperrung unmittelbar vor ihr stehen. Wortlos hielt sie ihm den Puck hin.

Er lächelte verschmitzt. »Behalten Sie ihn. Als Glücksbringer.«

Da lag etwas Magisches in seinen Augen: Sie waren strahlend blau und funkelten schelmisch. Um den Bann zu brechen, in den sie Mary-Ann blitzartig zogen, steckte sie die schwarze Scheibe hastig in die Tasche. Glück. Das konnte sie wirklich gut gebrauchen, war sie doch gerade noch dabei, den Panikanfall wegzustecken, der sie vor dem Kaufhaus beinahe übermannt hätte.

»Ich nehme Sie beim Wort.«

»Na dann«, gab er salopp von sich, »schönen Abend noch.« Er winkte zum Abschied und glitt davon.

»Danke, ebenfalls.« Ihre Antwort war zu leise, als dass er sie in dem Getöse, das dem eines Jahrmarktes glich, gehört haben könnte. Wie erstarrt sah sie ihm nach und legte den Kopf schief. Der war fast so anziehend wie die Süßigkeiten, denen sie Minuten zuvor entsagt hatte. Warum fiel ihr das plötzlich auf? Normalerweise hatte sie kein Interesse an Männern. Nach allem, was geschehen war, würde sie auch solch einer Versuchung erfolgreich widerstehen.

Kaum, dass er außer Sichtweite war, klingelte ihr Telefon und holte sie ins Hier und Jetzt zurück. Pennys Bild erschien auf ihrem Display. Ein Anruf ihrer Freundin um diese Zeit? Entweder hatte ihr Boss seiner Sekretärin aufgetragen, Mary-Ann anzurufen, oder sie führte etwas im Schilde. Dieses verrückte Huhn mit ihrer lockeren, lebensfrohen Art, für die sie sie an manchen Tagen bewunderte.

Schnell nahm sie das Gespräch an. »Hey, Penny, was gibt’s? Hab ich wieder etwas im Büro vergessen?«

»Mich hast du vergessen, meine Liebe!« Penny lachte. »Wie waren wir eigentlich mit dem Feiern im Club verblieben? Nach dem Tag heute werde ich garantiert nicht zu Hause hocken. Ich gehe auf jeden Fall heute Abend tanzen. Und drei Mal darfst du raten, wer mich begleitet!«

Mary-Ann schloss die Augen. »Da brauche ich keine drei Versuche.«

»Du, meine Hübsche! Ich benötige dringend weibliche Verstärkung.«

»Penny, nichts wäre mir lieber, aber leider …«

»Tadaa! Herzlichen Glückwunsch, das war Ihre tausendste Ausrede, Schätzchen. Damit haben Sie einen Abend mit der unvergleichlichen Penny und zwei unverschämt heißen Biker-Typen gewonnen.«

»Hm? Wem?«

»Mike und sein Kumpel Jason. Mmh, riechst du schon die Lederklamotten, spürst das sprühende Testosteron und siehst die sexy Muskelpakete? Also, bis gleich, um acht am Great One.«

Was wäre wohl schlimmer: ein Abend mit ihrer Freundin und den beiden Kerlen oder das lauernde Monster der Einsamkeit in ihrer Wohnung? Die Entscheidung war eindeutig. Normalerweise ging sie nicht aus, aber heute war sie so knapp davor, in ihre Abwärtsspirale abzutauchen, dass sie dringend etwas dagegen unternehmen musste. Außerdem hatte sie ja jetzt den Glückspuck. Das musste ein Zeichen sein.

»Na gut. Ich komme mit«, willigte Mary-Ann ein, aber Penny hatte bereits aufgelegt.

Ausgehen. An einem Montag. Und das mit Mike, dem ungehobelten Kerl aus der benachbarten Bürobox. Hätte Penny nicht irgendjemand Netteren finden können? Sogar der wortkarge Sicherheitsbeamte vom Eingang wäre ihr lieber gewesen. Oder am besten überhaupt kein Mann. Mit Penny, ihrer Freundin, etwas trinken zu gehen, war das eine. Ihre anderen Kollegen in der Freizeit zu treffen, war eine Premiere. Und dann ausgerechnet ihn, der exakt der Vertreter des männlichen Geschlechts war, auf den die Damenwelt abfuhr. Laut der Gerüchteküche hatten sich schon unzählige Kolleginnen an ihm die Finger verbrannt. Ihr würde das selbstverständlich nicht passieren. Ihre Devise lautete: Eine neutrale Distanz wahren. Genau wie im Büro auch.

Der Blick auf die Uhr ließ sie zusammenfahren. Schon so spät? Jetzt war Eile angesagt, wenn sie pünktlich zu der Verabredung kommen wollte. In ihrer kleinen Zweiraumwohnung in einem typischen alten New Yorker Backsteinhaus angekommen, ließ sie ihre Tasche vor der Flurkommode fallen, warf ihren Walkmantel über den Garderobenständer und stieg aus ihren Stiefeletten. Schnurstracks huschte sie in ihr schmales, fensterloses Badezimmer. Um sich für den Abend im Club zu stylen, blieb kaum noch Zeit. Im Handumdrehen den Büromief abduschen und in das kurze, schwarze Kleid schlüpfen, das einzige clubtaugliche Kleidungsstück, das sie besaß. Prüfend betrachtete sie ihr Spiegelbild. Sie schüttelte ihre braunen Locken in Form, die sie im Büro hochgesteckt trug, frischte ihr Make-up auf und zog die Lippen in einem satten Rot nach. Zwei Stöße des süßlich-blumigen Lieblingsduftes rechts und links an den Hals gesprüht. Fertig.

Wie lange war es her, dass sie abends ausgegangen war? Ein paar Mal hatte sie mit Penny in einer Bar einen Cocktail getrunken. Alle nasenlang waren sie in der Mall zum Shoppen verabredet, zu ausgedehnten Spaziergängen und Kinobesuchen, ja. Aber zum Tanzen in einem Club? Seit Jahren nicht mehr. Während sie eine ihrer ehemaligen Kommilitoninnen in Boston besucht hatte, musste das letzte Mal gewesen sein.

An einem Tag wie diesem, an dem sie im Büro kaum vom PC und ihren Belegen hochgucken konnte, genoss Mary-Ann am liebsten ein heißes Bad. Für gewöhnlich verbrachte sie den Feierabend auf ihrem lauschigen Sofa, wo sie, eingehüllt in ihre kuschlige Wolldecke, bei einer Tafel Schokolade durch die Serien zappte. Sie zog ihren Mantel sowie die kniehohen Stiefel an und prüfte den Inhalt ihrer Tasche. Handy, Portmonee, Lippenstift, Taschentücher, der neue Glückspuck. Alles drin. Im Hinausgehen griff sie den Schlüssel, kontrollierte, ob sie im Bad das Licht ausgemacht hatte, und verließ ihre Wohnung in Richtung Subway.

Noch immer herrschte reges Treiben auf Manhattans Straßen. Stillstand gab es nicht. Während in ihrem Heimatort nach Feierabend die Bürgersteige hochgeklappt wurden, begann hier in der City ein regelrechter After-work-Party-Boom.

Die Warteschlange vor dem Club, die sich langsam Richtung Eingang bewegte, führte ihr vor Augen, wie viele Menschen sich den Alltagsstress abtanzen wollten. Unter den Massen entdeckte sie Penny nicht sofort, weshalb sie sich an den Rand stellte und wartete. Keine fünf Minuten später bog ihre Freundin um die Ecke und winkte ihr zu.

»Hey, Liebes. Ich wusste, ich kann auf dich zählen.«

»Wie die Differenzen in der Buchhaltung.«

Penny lachte. »Über die Arbeit zu sprechen, ist ab jetzt tabu. Keine Widerrede, meine Hübsche. Wir sind hier, um uns mit zwei attraktiven Herren zu amüsieren, die drinnen auf uns warten. Verstanden?«

»Aye, Captain«, versuchte Mary-Ann die Lockerheit von Penny zu imitieren, um das Unbehagen wegzuschieben, das sich wieder an sie heranschlich. Hoffentlich war das hier kein Fehler.

Stück für Stück näherten sie sich dem Eingang. Endlich am Einlass vorbei hakte sich Penny bei Mary-Ann unter: »Also dann: Rein ins Vergnügen!« Lachend traten sie durch den Eingang des Clubs.

Ihre Augen brauchten einen Moment, um sich im spärlich beleuchteten Innenraum zu orientieren. Die ohrenbetäubende Musik ließ Mary-Anns Körper vibrieren. Bunte Lichter tanzten an der Decke, und im Nebel waberte eine üble Duftmischung aus kaltem Zigarettenrauch, Damenparfums und Rasierwasser. Penny deutete auf Mike, der an einem der Tische im hinteren Teil des Lokals saß. Sie bahnten sich ihren Weg, vorbei an der Bar und der Tanzfläche.

»Penny, da bist du ja«, brüllte er, um die Musik zu übertönen, stand auf und wandte sich dann ihr zu. »Mary? Hi.«

Seine Aufmerksamkeit verweilte einen Moment auf ihrem Körper, beinahe zu lange für ihren Geschmack. Und dieses Schimmern in seinen Augen. Es war wie ein Aufleuchten, ein Flackern. Überraschung oder Freude? Beides vielleicht.

»Ich hatte keine Ahnung, dass du kommen würdest. Schön, dich zu sehen.«

»Pennys Idee.« Die ersten Worte, die sie mit ihm wechselte. Und dann noch so bescheuerte. Hoffentlich überdeckte das Rouge ihres Make-ups die Hitze, die in ihre Wangen stieg. So ähnlich musste sich Baby in Dirty Dancing gefühlt haben, als sie ihren berühmten Satz »Ich hab' eine Wassermelone getragen« brachte. Sie musterte ihn. Dabei fiel ihr auf, dass er kaum anders gekleidet war als bei der Arbeit. Klar, denn ein Mike Forrester unterwarf sich nicht den Bekleidungsvorschriften ihres Chefs. Noch nie hatte sie erlebt, dass er zu seinen am Knie aufgerissenen, ausgefransten Jeans etwas anderes trug als ein Hemd, dessen Ärmel bis zu den Ellbogen hochgekrempelt waren. Die oberen Knöpfe waren auch an diesem Abend nicht geschlossen. Einzig eine Lederkette mit einem silbernen Anhänger machte den Unterschied, nicht zu vergessen die Lederjacke mit den Nieten und Patches, die er über seine Stuhllehne gehängt hatte.

Dunkle, verwegene Augen, sein kantiges Kinn und diese Stimme. Tief und rauchig. Schon bei ihrer ersten Begegnung im Büro waren ihr seine großen Hände aufgefallen, an denen sie automatisch nach einem Ring gesucht und auch gefunden hatte: Schwarz und breit zierte er seinen rechten Ringfinger. Dennoch umgab ihn ein Hauch von Bad-Boy-Image. Wie immer war er top gestylt, die dunkelbraunen Haare zu einer Tolle gegelt. Er verströmte einen angenehmen, würzigen Duft von Bergamotte und Holz. Hinreißend. Sie hätte es nie offen zugegeben, doch dieser Bursche sah verdammt heiß aus, auch wenn sie die Letzte war, die auf seine Masche reinfallen würde. Und sie selbst? In dem Relikt aus ihrem Kleiderschrank beeindruckte sie höchstens die Spinnen in der Gruft. Moment. Ihn beeindrucken? Das war bestimmt nicht ihr Ziel, er war schließlich ein Kollege, dazu noch ein Weiberheld.

»Nehmt Platz.« Er wies auf die freie Sitzbank.

Mary-Ann legte ihren Mantel ab und rutschte auf eine mit rotem Leder bespannte Bank.

Penny setzte sich neben sie, schaute sich um und fragte Mike: »Wollte dein schnuckeliger Biker-Kumpel nicht auch kommen?« In ihrer Stimme schwang Enttäuschung mit, sie zog eine Schnute.

»Der hätte euch auf seinem Weg nach draußen doch direkt in die Arme laufen müssen.«

»Hach, das wäre zu schön gewesen.« Sie zog einen Mundwinkel rauf.

»Tja, wenn es um seinen Feuerstuhl geht, würde Jason es nicht einmal checken, dass die Welt um ihn herum untergeht.«

»Heißt das, er ist schon gegangen?«

»Keine Bange, der kommt zurück. Ich schulde ihm ein Bier. Hier drin konnte er nicht telefonieren. Hat im Netz eine neue Quelle für Ersatzteile aufgetan.« Mike wandte sich von Penny ab, richtete sein Augenmerk wieder auf Mary-Ann und musterte sie intensiv.

Sie kratzte sich hinterm Ohr, räusperte sich.

»Alles in Ordnung?«, fragte er. Sein Lächeln war hinreißend.

»Klar. Bestens.« Ihre Stimme klang wie die eines heiseren Teenies, und er hatte es garantiert bemerkt, denn er schmunzelte. Peinlich. Schließlich rieb er sich die Hände und hob erwartungsvoll die Augenbrauen. »Also, was wollt ihr trinken? Die erste Runde geht auf mich.«

»Green Gin Tonic. Und du Mary?«, fragte Penny.

»Ich nehme auch einen.«

»Alles klar, Ladies. Bin gleich wieder da.« Mike erhob sich lächelnd, zwinkerte ihnen zu und schlenderte zur Bar.

»Jackpot!« Penny trommelte mit den Zeigefingern auf die Tischplatte. »So gut wie der drauf ist, leier ich ihm noch mindestens zwei weitere Drinks aus dem Kreuz.« Sie lachte. »Komm, lass uns die Hüften schwingen, Baby.«

Ohne dass Mary-Ann Gelegenheit hatte zu reagieren, schnappte Penny sich ihre Hand und zog sie mit sich zur Tanzfläche, die noch recht leer war. Ihre sprühende Laune steckte sie an. Für den Moment war es egal, wie lange ihr letzter Tanzabend her war. Dass sich ihre Begeisterung für Lokale wie das Great One in Grenzen hielt, spielte keine Rolle. Obwohl dieser Club mit den dörflichen Spelunken, die sie so kannte, kaum vergleichbar war. Bestimmt war ihr das Glück heute hold und sie konnte sich freitanzen, mit ihren Bewegungen die Angst abschütteln, die sie wie eine Zwangsjacke einzuengen schien.

Zum Beat der Musik kam Penny in Fahrt. Wie unfassbar sexy sie sich im Rhythmus bewegte! Wie eines dieser Popsternchen bei einer heißen Bühnenshow. Ob ihr bewusst war, dass sie sofort das Interesse einiger Männer auf sich zog? Krass, wie diese Frau es schaffte, mit dem Feuer zu spielen. Seit die beiden sich kannten, hatte Penny ihr von unzähligen Begegnungen mit potentiellen Verehrern berichtet. Nur ihren Traummann hatte sie bisher nicht gefunden.

»Mike ist eigentlich ein netter Kerl.«

»Was?« Mary-Ann konnte die Worte über den Lärm der Musik hinweg nicht verstehen.

Penny näherte sich ihrem Ohr. »Ich sagte, Mike ist eigentlich ein netter Kerl. Der macht nur gern einen auf böser Junge.«

»Aha.«

»Du solltest ihn besser kennenlernen.«

»Nee, lass mal. Mit einem wie ihm werde ich nicht warm. Warum auch?«

»Vielleicht, weil …«

Ein 80er-Song tönte los. Eine Welle der Begeisterung riss die Besucher des Clubs von ihren Plätzen und überschwemmte die Tanzfläche schlagartig mit Fans des Synthiepops, was Pennys Worte unterbrach. In Mary-Ann stieg eine Hitzewelle auf, und ihr Pulsschlag beschleunigte sich plötzlich. Zu eng hier. Sie brauchte mehr Platz und Freiraum.

Tanzend bewegte sie sich immer weiter zum Rand und entfernte sich dabei von Penny. Schon näherte sich ein fremder Kerl ihrer Freundin von hinten: groß, mit breiten Schultern, komplett in Schwarz gekleidet. So sehr Mary-Ann auch versuchte, ihren Blick zu schärfen, im diffusen Licht gelang es ihr nicht, sein Gesicht zu sehen. Auch seine Gestalt nahm sie nur schemenhaft wahr, erkannte aber, dass er sein Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden trug.

Der Unbekannte legte kess seine Hände auf Pennys Hüften, woraufhin diese erschrocken herumfuhr. Doch ihr Schreck verschwand jäh. Penny kannte ihn scheinbar, sodass es ihr nichts auszumachen schien, dass er sie berührte. Gefiel es ihr sogar? Zumindest hatte sie nur noch Augen für ihn. Seine Bewegungen nahmen ihren Takt auf, die beiden verschmolzen zu einem Pas de deux. Wahrscheinlich fiel es Penny gar nicht auf, dass Mary-Ann sich aus dem Gedränge zurückgezogen und die Tanzfläche verlassen hatte, um ihren Puls zu beruhigen, denn die Angst hatte sie immer noch im Griff. Das kurze Tanzen hatte nichts gebracht. Vielleicht half es, wenn sie ein paar Schlucke trank.

Mike saß am Tisch, vor sich ein Bier und zwei weitere Gläser. »Sie hätte dich vorwarnen sollen. Wenn sie einmal in Fahrt kommt, ist sie wie ein Irrwisch. Nicht zu stoppen.« Er schob ihr eines der Getränke hinüber und prostete ihr lächelnd zu. »Auf einen schönen Abend, holde Maid.« Offensichtlich machte sein Flirtwortschatz auch vor alter Schule keinen Halt. Das hatte was. Wurde es noch heißer und stickiger hier drinnen? Sie nippte an ihrem kühlen Drink, der nach Wacholder schmeckte. Der Alkohol brannte in ihrem Rachen. Wummerten die Bässe etwa lauter? Ihr Puls raste unaufhörlich in seiner Geschwindigkeit fort, und sie atmete immer schwerer. Mit den Handrücken wischte sie über Oberlippe und Stirn und schluckte. Einen Moment lang musterte Mike sie stumm, als wolle er hinter ihre Fassade schauen. Mit seinem Bier in der Hand rutschte er neben sie. »Spaß haben sieht aber anders aus. Stimmt etwas nicht?«

»Weißt du, solche Clubs sind nicht mein Ding.« Verbitterung lag in ihrer Stimme, suchte sie doch in ihrer Erinnerung jene vergangenen Tage, an denen sie ausgelassen zur Musik getanzt hatte. Frei und unbeschwert. »Das hier ist nicht so einfach für mich, Mike.«

Zusätzlich zum rasenden Herz bildete sich jetzt ein Kloß in ihrem Hals. Zur Beruhigung spielte sie mit dem Ring an ihrem Finger. Sie atmete bewusst tief ein und aus und schloss für einen Sekundenbruchteil die Augen. Mike hatte ihre Reaktion genau verfolgt und deutete auf ihre Hand. »Mary?«, sagte er fragend und legte tröstend seine Hand auf ihre Schulter. »Steckst du zu Hause in Schwierigkeiten?« Aus seiner Stimme sprach Sorge.

Ihr Magen krampfte. Es geriet außer Kontrolle, dieses beklemmende Gefühl, das sich in ihrem Brustkorb seit dem Zwischenfall am Schaufenster breitgemacht hatte und sich seitdem unaufhörlich, wie ein Band, immer enger zusammenzog. Die volle Tanzfläche und seine Anspielung hatten ihr nun den Rest gegeben. Tränen stiegen in ihre Augen. Zugleich jagte seine Berührung ihr einen Schauer über den Rücken. So nah war ihr jahrelang kein Mann mehr gekommen. Die Wärme seiner Hand durchdrang den Stoff ihres Kleides, brannte auf ihrer Haut und entfachte eine schmerzliche Sehnsucht in ihr. Kaum merklich schüttelte sie den Kopf.

»Oh, hoppla. Wollen die Turteltauben lieber allein sein?« Mary-Ann kannte die Stimme hinter ihrem Rücken nicht.

Erschrocken zog Mike seine Hand von ihrer Schulter und fuhr ruckartig herum. »Jason, du musst dringend an deinem Timing arbeiten.« Er lachte aus voller Kehle. Raus hier. Es war nicht mehr auszuhalten. Hastig griff sie Mantel und Tasche, sprang auf und kämpfte sich taumelnd durch die feiernde Masse zum Ausgang.

Hätte sie es nicht besser wissen müssen? Der Lärm, die Luft, die unzähligen Menschen. Und dann noch diese Frage. Auch der Glückspuck hatte rein gar nichts bewirken können. Bisher hatte sie noch nichts finden können, das die Panik linderte, wenn sie einmal an die Oberfläche kam.

Vor der Tür der Disko blieb sie stehen und kramte schluchzend ein Taschentuch hervor, mit dem sie sich Augen und Wangen trocknete. Sie zählte vor sich hin, so wie sie es in ihren Therapiestunden gelernt hatte, wenn sie am Tiefpunkt angekommen war. Versuchte, mit jedem Atemzug die Kälte der Dezembernacht als Waffe gegen ihre innere Hitze zu nutzen. Langsam ging sie los. Zehn … Elf … Zwölf … Je weiter sie sich vom Club entfernte, umso mehr gewann sie die Kontrolle zurück.

»Mary, warte!« Mikes Stimme durchdrang die Dunkelheit.

Nicht stehenbleiben und riskieren, dass alles von vorn anfing. Schnell weiter. In Windeseile war er bei ihr und hielt sie am Oberarm fest, um sie zu stoppen. »Was ist los? Sorry, ich hatte nicht vor, dich in Verlegenheit zu bringen.«

»Das ist es nicht. Ich weiß jetzt wieder, warum ich Diskotheken meide. Es war ein Fehler.«

»Was ist das Problem?«

»Das verstehst du nicht.«

»Du hast total geweitete Pupillen. Kreislaufprobleme? Kein Wunder, so wie du heute geackert hast. Soll ich einen Moment mit dir hier draußen bleiben? Atme durch, und dann lass uns wieder reingehen, wenn du dich beruhigt hast.«

»Nein, Mike. Das geht nicht.« Sie wandte sich ab, legte die Hand auf ihren Magen. Der erneute Krampf trieb ihr Tränen in die Augen, die sie rasch mit dem Handrücken wegwischte.

Reiß dich zusammen, Mary-Ann! Kämpf dagegen an! Wimmel ihn ab, damit du nach Hause kommst.

»Weinst du wegen mir? Hab' ich etwas Falsches gesagt?«

Schweigend schüttelte sie den Kopf, unfähig, ein Wort herauszubekommen, denn ihre Gefühle schnürten ihr die Kehle zu.

»Oder lag es an Jason? Das war ein Witz. So ist er eben. Wie der Elefant im Porzellanladen. Lass dir von ihm doch nicht den Abend verderben. Nimm dir seinen Unfug nicht zu Herzen. Er macht gern seine Späße auf Kosten anderer.«

»Ich will nach Hause«, presste sie hervor, als sie ihre Stimme wiedergefunden hatte.

»Mary.« Erneut berührte er ihren Arm, sah sie eine Weile voller Sorge an und fuhr dann fort: »Mein Auto steht gleich um die Ecke. Ich fahr …«

»Das ist nicht nötig«, schnitt sie ihm das Wort ab. »Ich komme schon klar. Gute Nacht, Mike. « Dass ihr Gespräch beendet war, verdeutlichte sie ihm, indem sie sich zum Gehen wandte und, ohne sich umzusehen, zur Subway eilte. An der Haltestelle zog sie ihr Handy aus der Handtasche und tippte eine Nachricht an Penny: »Musste los. Tut mir leid. Viel Spaß euch noch und bis morgen. Mary

Mit all meinen Narben

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