Читать книгу Mit all meinen Narben - Hanna Wagner - Страница 7

*** Mike ***

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»Ich lege jetzt auf. Finde dich damit ab, und ruf mich nicht mehr an.« Seufzend warf er sein Handy auf den Stapel Papiere vor sich, schlug mit der Faust auf die Tischplatte und ließ sich in seinen Stuhl fallen. Was bildete sich diese Frau eigentlich ein? Hatte er sich nicht deutlich genug ausgedrückt? Und dann besaß sie noch die Dreistigkeit, ihn anzurufen.

»Mike?« Mary-Anns Stimme klang verängstigt. Erschrocken fuhr er herum und stöhnte. Er hatte gar nicht bemerkt, dass sie zurückgekommen war. Klasse. Jetzt hatte er bei ihr garantiert einen bleibenden Eindruck hinterlassen, und zwar nicht den des netten Kollegen. Sie reichte ihm einen Becher und eine dieser Kalorienbomben aus dem Snackautomaten. Normalerweise würde er dieses Teufelszeug nicht anrühren, aber heute machte er auch in Sachen Zucker eine Ausnahme. Mary-Ann stellte sich direkt neben ihn, lehnte sich an die Tischkante und ließ ihn nicht aus den Augen.

»Danke.« Er ärgerte sich über seine Einsilbigkeit und den unterkühlten Ton, aber irgendwie war ihm nicht nach Konversation zumute. Knisternd öffnete er die Verpackung des Schokoriegels und biss schnell ab, um ja nichts sagen zu müssen. Noch immer schien sie auf eine Erklärung seinerseits zu warten. Aber warum sollte er etwas erzählen? Es ging die Kleine doch gar nichts an.

»Willst du mir nicht sagen, was mit dir los ist?«, fragte sie ihn schließlich. Dafür, dass sie sich im Grunde überhaupt nicht kannten, lag erstaunlich viel Sorge in ihrer Stimme. Hatte sie erkannt, dass ihm heute seine Leichtigkeit abhandengekommen war? Dass es ihm kaum gelang, sich auf die Tasten zu konzentrieren und ihm deshalb die Arbeit nicht so locker flockig von der Hand ging wie sonst? Angespannt und gereizt, fühlte er sich selbst wie in Ketten gelegt, die er sprengen müsste. Am liebsten wäre er aufgestanden und gegangen. Zum Fitnessstudio ein paar Gewichte stemmen, oder mit ein paar kräftigen Schlägen dieses unsägliche Gefühl am Punchingball abreagieren. Aber nein, er saß hier. Eingesperrt in dieser Zelle von Büroabteil mit der Neuen.

Er wusste noch nicht recht, was er von dieser neuartigen Bürosituation halten sollte. Mary-Ann Mayfair. Bisher war sie ihm auf der Arbeit nie besonders aufgefallen, außer dass sie zu Pennys Pausenschatten geworden zu sein schien. Okay, die beiden mochten sich ganz offensichtlich. Schön für sie. Wirklich. Er gönnte ihnen ihre gegenseitige Sympathie. Wobei es den Anschein machte, als hege sie nur dem eigenen Geschlecht gegenüber Wohlwollen. Männern gegenüber verhielt sie sich mehr als distanziert. Freundlich, aber emotionslos und sehr verschlossen. Selbst beim Smalltalk blieben ihre Antworten knapp.

Von Penny hatte er erfahren, dass sie aus Maine stammte, genauer gesagt aus einem Tausendseelenörtchen namens Chesterville. »Nie davon gehört«, hatte er ihr geantwortet und seine kesse Frage »Liegt das hinter’m Heuhaufen links?« angeschlossen.

Und doch: Die Kleine hatte etwas, obwohl sie so gar nicht sein Typ war. Also, nicht das, was er hier tagtäglich vor sich hatte. Die straff gebundenen Haare, die unvorteilhaften Hosenanzüge, bis obenhin zugeknöpft. Das erinnerte ihn an eine strenge Oberstufenlehrerin. Eine von der Sorte, mit der nicht gut Kirschen essen war. Wenig sexy. Eher abtörnend. Alles an ihr schrie: »Sprich mich nicht an!«

Aber die Mary-Ann, die überraschend an Pennys Seite im Club aufgetaucht war, gehüllt in ein schwarzes, kurzes Kleid, mit feuerroten Lippen und dieser ungebändigten Mähne brauner, langer Locken, diese Frau hatte ihn neugierig gemacht. Zu gern hätte er an diesem Abend mehr über sie erfahren, aber es war ihm nicht gelungen, sie nach ihrer überstürzten Flucht zum Bleiben zu überreden.

Er räusperte sich. »Du fragst mich, was los ist? Ausgerechnet du?« Das Lachen, das seiner Frage folgte, klang höhnischer als beabsichtigt und reizte ihn selbst noch mehr. Da machte sich jemand tatsächlich Sorgen um ihn, und er schlug diesen Ton an, weil er mit den Emotionen, die ihn belasteten, kaum umgehen konnte. Ein Psychologe wäre auf seinen Gedankengang sicher stolz gewesen.

»Mike, ich …«

»Sag nichts. So wie immer. Du bist ein Buch mit sieben Siegeln. Du lässt einen abprallen wie ein Eisberg.« War er vollkommen übergeschnappt? Wie konnte er das aussprechen? Seine Worte waren hart und unüberlegt, und wenn er Mary-Anns Gesicht jetzt so betrachtete, hatten sie ihre Wirkung nicht verfehlt. Sie schluckte. Ihre Pupillen zitterten, als würde sie unter Nystagmus leiden. Er ärgerte sich mit einem Mal über sich selbst und stellte so ruckartig seinen Kaffee auf den Tisch, dass dieser über den Rand des Bechers schwappte. Dann sprang er auf, bewegte sich ein paar Schritte von seinem Platz weg und fuhr sich mit einer Hand durch sein Haar, ehe er tief durchatmete.

»Es tut mir leid.« Ihre Stimme war ein Flüstern.

Er fuhr herum, rieb sich stöhnend über die Stirn und stemmte seine Hände in die Hüften. Sie schwiegen.

»Mir auch. Ich …«, sagte er deutlich ruhiger und fuhr mit seiner Entschuldigung fort. »Ich hätte dich nicht derart anfahren dürfen.«

»Ein Eisberg? Ich?«

Mike beobachtete, wie sie die Lider senkte. »Ich würde sagen, in der Arktis ist die Temperatur höher.« Warum zur Hölle gelang es ihm nicht, ihr gegenüber einen anderen Ton anzuschlagen? Das musste für sie doch wie ein Schlag in die Magengegend sein.

»Mit diesem Neuanfang hier wollte ich ein einziges Mal alles richtig machen. Und jetzt stehe ich hier wie eine Idiotin.«

Das hatte er ja wunderbar hinbekommen. Sein neuer Teammate war vollkommen vor den Kopf gestoßen. Innerlich sah er sich selbst auf die Schulter klopfen. »Mary, nicht doch.« Wieder folgte ein langes, unangenehmes Schweigen. »Okay. Genug. Lass uns ganz von vorn anfangen.«

Auf ihren fragenden Gesichtsausdruck hin räusperte er sich, richtete sich auf und streckte ihr die Hand entgegen. »Mike Forrester, freut mich, dich kennenzulernen.«

Sie zögerte, starrte auf seine Hand, stellte dann ihren Kaffeebecher ab und stellte sich vor ihn. Er konnte ihr ansehen, dass sie sich zu einem zaghaften Lächeln zwang. Dann reichte sie ihm die Hand. Ihre Finger waren kühl, obwohl sie gerade noch den warmen Kaffee gehalten hatte. Ihre Haut fühlte sich weich und angenehm auf seiner an. »Mary-Ann Mayfair. Die Freude ist ganz meinerseits.«

»Dann wollen wir dem Boss doch mal beweisen, dass wir ein gutes Team sind.« Dieses Mal wirkte ihr Lächeln nicht aufgesetzt, was seine Laune tatsächlich ein winziges bisschen hob.

Die Finanzabteilung füllte sich allmählich, während Mary-Ann und er hochkonzentriert an ihren Aufgaben saßen. Das geschäftige Treiben lenkte ihn von seiner miesen Stimmung ab, doch dieses Gefühl war nicht von Dauer. Am späten Vormittag klingelte sein Telefon und riss ihn aus der Konzentration. Ein verächtliches Knurren entwich seinen Lippen, als er den Namen des Anrufers las, den er umgehend wegdrückte. Ein paar Minuten später: das gleiche Spiel. Nach dem dritten Mal schaltete er seinen Klingelton aus. Als es erneut vibrierte, faltete Mike die Hände, kniff seine Augen zusammen und fegte sein Smartphone mit einem kraftvollen Schwung vom Tisch. Scheppernd prallte es gegen den metallenen Rollcontainer an der Trennwand zur nächsten Bürobox, worauf Mary-Ann erschrocken zusammenzuckte. Das Geräusch des berstenden Glases füllte den Bruchteil einer Sekunde lang das Büroabteil und erregte die Aufmerksamkeit sämtlicher Mitarbeiter der Etage. Das Großraumbüro war inzwischen voll besetzt, und aus jeder Ecke flogen Blicke in ihre Richtung.

»Stress mit ’nem Mädel?« Er spürte die Unsicherheit, die in Mary-Anns Worten mitschwang.

»Volltreffer.« Eigentlich hoffte er, sie würde nicht nachhaken.

»Was ist passiert?«

»Will nicht drüber reden.«

Sie stand auf, hob sein Handy auf, das nach dem Aufprall ein Stück in ihre Richtung gerutscht war, und behielt es einen Moment in der Hand. »Wir können ja auch über dein kaputtes Telefon sprechen. Dein Display hat auf jeden Fall ein interessantes neues Muster.« An einem normalen Tag hätte diese kesse Bemerkung in ihm ein wahres Wortgewitter ausgelöst. Es hätte ihn amüsiert, dass sie versuchen wollte, ihn zum Reden zu bewegen. Auf eine irgendwie niedliche Art. Doch selbst daran war heute nicht zu denken.

Stattdessen knurrte er sie an. »Sonderanfertigung. Und obendrauf gibt es eine Portion Herzschmerz und Schuldgefühle. Nur heute im Angebot. Interessiert?«

Sie legte das Smartphone auf den Schreibtisch und tröstend eine Hand auf seine Schulter.

»Es tut mir leid, Mike, was immer passiert ist.«

Diese tiefe Aufrichtigkeit, die aus ihren Worten sprach, verbunden mit ihrer sanften Berührung, ließ ihn schlucken. »Hm«, stöhnte er, wobei ihm nicht klar war, ob es immer noch seine aufgewühlte Seele war, die ihn dazu brachte, oder das Gefühl, das ihre Annäherung in ihm ausgelöst hatte.

»Ich bin gleich mit Penny zum Lunch verabredet. Willst du vielleicht mitkommen ins Italian Canteen? Ein paar Trostnudeln essen?«

»Nein, danke. Ich bin nicht hungrig.«

»Kann ich dich denn hier allein lassen, oder schlägst du dann alles kurz und klein?«

»Tja, schätze, ich kann für nichts garantieren«, murmelte er vor sich hin.

»Dann bleib’ ich wohl besser hier.«

»Nein, geh nur. Ich hab dich mit meiner miesen Laune schon lange genug belastet.«

Sie griff sich ihre Tasche. Im Vorbeigehen legte sie erneut ihre Hand auf seine Schulter, öffnete den Mund, um etwas zu sagen, verkniff sich dann aber offensichtlich jede weitere Bemerkung und verließ das Büro. Er atmete durch, ließ sich gegen seine Stuhllehne fallen und verschränkte die Hände hinterm Kopf. Noch immer hatte er ihren blumigen Duft in der Nase. Nachdem er für einen kurzen Moment die Augen geschlossen hatte, schüttelte er seine Arme aus, lockerte seine Schultern und stürzte sich wieder in die Arbeit.

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