Читать книгу Mit all meinen Narben - Hanna Wagner - Страница 5
Kapitel 2
ОглавлениеIhr Radiowecker riss Mary-Ann aus einem unruhigen Schlaf. Sie rieb sich über die Augen, starrte an die Decke und lauschte dem Wetterbericht, der einen kühlen Tag ohne Niederschlag prognostizierte. Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Mit nackten Füßen tappte sie, eingehüllt in ihren seidigen Morgenmantel, in die Küche, kochte Kaffee und setzte sich mit ihrem Müsli vor den Fernseher, um sich die Nachrichten anzuschauen. Bloß nicht nachdenken. In ihrer Morgenroutine kam Hektik nicht vor. Jeder Handgriff saß: vom Aufstehen bis zum Verlassen ihrer Wohnung. Alles hatte seinen Platz, sodass nichts schiefgehen oder sie aus dem Konzept bringen konnte. Hauptsache nicht zusammenbrechen. Sie musste sich noch von letzter Nacht fangen.
Ihr Blick wanderte durch das Wohnzimmer, und sie atmete tief durch. Lange hatte sie für die Möbel gespart, besonders für das dunkelrote Velourssofa, über dessen Lehne sie mit Vorliebe die Finger streichen ließ, und das einen Großteil des Raumes einnahm. Größere Wohnungen als dieser Schuhkarton waren für einen Single kaum erschwinglich. Obwohl sie bei SMASH@X deutlich besser verdiente als im Job davor, hatte sie die ersten zwei Monate aus Kisten gelebt, jeden Cent eisern zurückgelegt.
Während sie sich für die Arbeit fertig machte, schlich sich Mike in ihre Gedanken. Dieser Ausdruck in seinen Augen, als er versucht hatte, sie aufzuhalten. Wie hätte er verstehen sollen, warum sie die Flucht ergriffen hatte? Sie war nicht bereit, es ihm zu sagen. Warum sollte sie das? Sie kannten sich doch kaum.
Eine erste Überraschung erwartete Mary-Ann, als sie ihre Bürobox betrat. Archivkisten, randvoll gefüllt mit Aktenordnern, stapelten sich vor ihrem Schreibtisch. Ein IT-Mitarbeiter hatte gerade einen PC auf dem Arbeitsplatz ihr gegenüber aufgebaut und band die Kabel zusammen, um sie anschließend in einem Kabelkanal zu verstauen und abzudecken. Auf Mary-Anns gestammelte Begrüßung entgegnete er: »Guten Morgen. Ihr Kollege sollte keine Probleme mit dem Gerät haben. Falls doch, soll er einfach durchklingeln.«
Noch ehe sie ein Wort sagen konnte, wendete der IT-Fachmann ihr schon den Rücken zu und verschwand. Ein Kollege? Hatte McMiller etwa jemanden eingestellt? Weit und breit war niemand Neuer in Sicht. Die ersten Telefone klingelten schon, obwohl um diese Zeit längst nicht alle Büroabteile, von denen eins exakt dem anderen glich, besetzt waren. Auch Mike war noch nicht da. Erleichtert atmete sie durch. Vorerst keine lästigen Fragen. Gott sei Dank.
Gerade, als sie sich auf ihren Stuhl setzen wollte, um diese Nachricht kurz sacken zu lassen, hörte sie den Boss nach ihr rufen: »Miss Mayfair, in mein Büro, bitte.« Der Tonfall in seiner Stimme verdeutlichte seine Ungeduld. Sie ließ ihn besser nicht warten. Den Mantel und die Tasche warf sie über den Kleiderständer und hastete zu seinem Zimmer. Die Tür stand noch offen, also klopfte sie nur leicht und trat unmittelbar darauf ein. Seit Mary-Ann in der Finanzabteilung bei SMASH@X Industries angefangen hatte, war sie nicht oft in diesem Büro gewesen. Es war großzügig geschnitten und hochwertig ausgestattet. Genau wie ihr Vorgesetzter selbst, der stets in Maßanzug und Krawatte erschien, strahlte es Autorität aus.
»Sie dürfen sich setzen.« McMiller wies auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. Sobald Mary-Ann dies tat, breitete sich Unbehagen in ihr aus. Ohne Umschweife ergriff er das Wort. »Die personelle Situation hat sich verschärft, weshalb ich gezwungen war, eine schnelle Umstrukturierung vorzunehmen. Das Jahr neigt sich dem Ende entgegen. Sie als Buchhalterin wissen, was das heißt?«
»Jaa …« Ihre lang gezogene einsilbige Antwort klang mehr nach einer Frage.
»Stichwort: Jahresabschluss. Ab sofort werden Sie daran arbeiten. Für einen allein bei der Größe dieses Unternehmens schwer zu bewältigen, ich weiß. Sie bekommen Verstärkung. Mike Forrester hat in den vergangenen Jahren schon oft daran mitgearbeitet. Ich habe ihn deshalb in Ihr Büroabteil versetzt. So können Sie beide intensiver zusammenarbeiten.«
»Bitte, entschuldigen Sie. Haben Sie gesagt, Mike Forrester wird …«
»Stellt das ein Problem für Sie dar?«, unterbrach McMiller ihren Satz und seine Miene verfinsterte sich.
»Also, ehrlich gesagt …«
»Wenn es Ihnen nicht passt, können Sie jederzeit Ihre Tasche nehmen und gehen. Ich kann es mir nicht leisten, auf persönliche Befindlichkeiten meiner Mitarbeiter einzugehen. Sagen Sie ja, oder lassen Sie es bleiben.«
Mary-Ann schluckte schwer. Verdammt. Sie brauchte diesen Job und das Geld, um ihr neues Leben in dieser Stadt zu finanzieren. Rücklagen hatte sie seit dem Umzug keine mehr, und die Stelle bei SMASH@X Industries zu bekommen, war nicht leicht gewesen. Mist. Wohl oder übel musste sie zustimmen. »Okay.«
»Kluge Entscheidung. Sie dürfen gehen. Am Freitag erwarte ich die Zahlen des ersten Quartals.«
Was für ein Start in den Tag. Das war schon die zweite unangenehme Überraschung. Zurück im Büro atmete sie durch, griff in ihre Handtasche und schüttelte den Kopf, als sie den Puck herauszog. »Du bist als Glücksbringer absolut unbrauchbar.« Trotzdem steckte sie ihn zurück, fuhr ihren Rechner hoch und loggte sich in das Intranet ein.
Von Pennys Empfangstisch drang eine lautstarke Diskussion herüber. Mary-Ann konnte gar nicht anders, als ihre Ohren zu spitzen.
»Warum hat er das nicht mit mir absprechen können? Er setzt mich vor vollendete Tatsachen. Verdammt, ich bin seit acht Jahren hier, sie seit fünf Monaten. Wenn es wenigstens einer der erfahreneren Leute gewesen wäre. Wie stellt er sich das vor?«
»Miki, ich kann nichts dafür. Die Entscheidung hat er gestern vollkommen unerwartet für uns alle getroffen. Dein PC ist schon in Marys Abteil. Du musst nur noch deinen Krempel umräumen.«
»Na, klasse.«
»Gib euch als Team eine Chance.«
Mike antwortete darauf nicht mehr. Mary-Anns Herz fing kräftig an zu schlagen, denn gleich würde er hier auf der Matte stehen. Jeden anderen Mitarbeiter dieser Abteilung hätte sie mit Kusshand genommen, auch einen wildfremden Neuen. Aber nein, sie musste den Weiberhelden vor die Nase gesetzt bekommen, der mit seinen Sexgeschichten prahlte und laut Gerüchteküche alles vögelte, was nicht bei drei auf den Bäumen war. Er war das Sinnbild eines Mannes, der gegen all ihre inneren Überzeugungen verstieß. Und dann war da noch der gestrige Abend, der zwischen ihnen stand. Außerdem war er ja offenbar ebenso wenig begeistert von der Zusammenarbeit mit ihr, wie sie eben mitanhören konnte.
Mit den Händen in den Taschen seiner schwarzen Lederjacke stand er Sekunden später in ihrem Abteil. »Da wären wir also.« Stirnrunzelnd betrachtete er die Kisten und sah sie dann direkt an. »Man sollte meinen, im Zeitalter der Digitalisierung würden die Papierberge weniger.«
»Ja, das stimmt.«
»Ich pack drüben noch schnell meine paar Sachen.«
Lass dir Zeit, hätte sie ihm am liebsten hinterhergerufen, verkniff es sich aber. Kaum zehn Minuten später fiel der Inhalt von Mikes Rollcontainer klappernd auf seinen neuen Schreibtisch und riss Mary-Ann aus ihrer Arbeit. Sie stütze ihren Kopf auf einer Hand ab und beobachtete, wie er die oberste Schublade aufzog und sämtliche Arbeitsmittel mit seinem Unterarm von der Tischplatte wischte, sodass sie geräuschvoll in das geöffnete Fach plumpsten. Prima. Er war also auch noch chaotisch, während ihre Stifte und Notizzettel akkurat angeordnet waren. Dann lehnte er sich zurück, legte die Füße auf den Schreibtisch und verschränkte die Arme hinterm Kopf. Sie spürte, dass seine ganze Aufmerksamkeit auf ihr ruhte.
»Also, wie oft hast du schon einen Jahresabschluss gemacht?«
»Zwei Mal.«
»Hmm … Große Unternehmen?«
»Es war ein Supermarkt auf dem Land.«
»Ach du grüne Neune. Naja, besser als nichts. Ich hole uns Kaffee. Schwarz?« Sie beantwortete seine Frage mit einem Nicken und widmete sich dann wieder dem Bildschirm vor ihr. Ein blinkender Briefumschlag erregte ihre Aufmerksamkeit. Mit ein paar raschen Klicks öffnete sie ihr Email-Postfach und entdeckte eine Mitteilung ihres Chefs. Was wollte der denn schon wieder? Nachdem sie den knappen Text gelesen hatte, atmete sie hörbar aus und ließ sich gegen die Lehne des Bürostuhls fallen.
Just in diesem Moment betrat Mike, gefolgt von einer intensiven Kaffeenote, die Bürobox und bemerkte umgehend ihre Missstimmung. »Gibt es Probleme?«
Achselzuckend antwortete sie: »Keine Ahnung, was los ist, aber wir müssen um elf bei McMiller antreten.«
»Himmel, sind in diesem Gebäude etwa irgendwo immer noch Rechnungen, die nicht den Weg auf unseren Tisch gefunden haben?« Mürrisch ließ er seinen Blick über die Ordner schweifen. Er hielt ihr einen der beiden duftenden Wegwerfbecher hin. »Hier, für dich.«
»Danke.« Immerhin, es war nett, dass er ihr einen Kaffee mitgebracht hatte. Was für ein Wohlgeruch. Während sie trank, musterte sie seine Gestalt. Sie erkannte bläuliche Ringe unter den Augen als Zeichen seiner Übermüdung, und sein Haar, das er sonst gewissenhaft stylte, war ungewohnt zerzaust.
Er stöhnte. »Mehr von diesem rosafarbenen Durchschlagspapier, und ich bekomme Augenkrebs. Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen. Wir sind ein IT-Unternehmen, und unsere Finanzabteilung arbeitet noch mit Durchschlägen, wie in den 1980er-Jahren. Die Rechnungslegung sollte langsam mal in der Moderne ankommen. Wenn ich hier das Sagen hätte, würde einiges anders laufen.«
Ihr altes Ich hätte sich jetzt garantiert zu einem verbalen Schlagabtausch angestachelt gefühlt. Mit der Angst, jederzeit die Kontrolle über ihre Panikanfälle zu verlieren, atmete sie lediglich lautstark aus. In seinem Gesicht spiegelte sich die Enttäuschung darüber, dass sie auf seine Aussage nicht einging.
»Also gut. Lass uns prüfen, was wir an Unterlagen haben.« Nacheinander öffnete er die Archivkisten und begann aufzuzählen: »Rechnungskopien, Quittungen, Verträge. Wie wäre es, wenn du dich um die Belege und Buchungen des ersten Quartals kümmerst und ich die Verträge durchsehe und die Änderungen im Vergleich zum vergangenen Jahr erfasse?«
»Okay.« Seine Züge entspannten sich. Offenbar war er erleichtert, dass sie seinem Vorschlag zustimmte und sie nun vor dem Berg an Durchschlägen saß, deren Farbe ihm nicht gefiel. Mike reichte ihr drei dicke Ordner, setzte sich auf seinen Bürostuhl und trommelte mit den Fingern auf den Tisch. Ein Geräusch, das ihre Anspannung triggerte, weshalb sie sich erneut über ihre Schläfen strich. Bis zu diesem Moment war die Stimmung zwischen ihnen ganz erträglich gewesen. Er hatte weder eigenartige Anspielungen geäußert, noch nach dem gestrigen Abend gefragt. Es schien, als hätten sie beide die Entscheidung McMillers hingenommen und machten nun das Beste aus der Lage. Dann herrschte Ruhe.
Mary-Ann vertiefte sich in die Zahlen, die in ihrer Klarheit eine beruhigende Wirkung auf sie hatten. Wie eine tiefe Meditation. Ihre innere Anspannung legte sich allmählich, und sie versank in ihrer Arbeit, sodass sie die Geräusche, die sie umgaben, wie das Klackern der Tastaturen, das Surren der Drucker und die raschen Schritte von Kollegen, die den Gang entlang eilten, kaum mehr wahrnahm.
Als sie später an Pennys Tisch standen, begrüßte sie sie mit einem breiten Grinsen. »Hallo, ihr zwei Hübschen. Ihr müsst euch einen Moment gedulden. McMiller hat gerade ein wichtiges Telefonat mit dem Big Boss.« Mit dem Zeigefinger deutete sie nach oben Richtung Chefetage. »Ich gebe ihm ein Zeichen, dass ihr da seid.« Zack, schon verschwand sie im Büro hinter ihnen. Kurz darauf erschien sie wieder und bat die beiden, sich zu setzen und zu warten.
Mary-Ann zupfte an ihrer Bluse und strich die Hosenbeine glatt. Mit ihren Füßen wippte sie auf und ab. Die Stille zwischen ihr und Mike, der zu ihrer Linken Platz genommen hatte, machte ihr zu schaffen. Wie konnte er nur die Ruhe in Person sein? Ein Bein lässig über das andere gelegt, die Hände im Nacken verschränkt. Wegen des gestrigen Abends hatte er keinen Ton gesagt. War es ihm egal? Warum war er ihr nachgelaufen? Hatte sie es sich eingebildet, dass er sich um sie sorgte? Unruhig rutschte sie auf ihrem Stuhl hin und her. In Anbetracht aller Ereignisse dieses Dienstags erwartete sie definitiv die nächste böse Überraschung, kaum dass sie sich von den ersten beiden Schockmomenten erholt hatte.
»Keine Panik, der wird uns nicht den Kopf abreißen«, versuchte Mike, die Lage zu entspannen.
»Weiß ich.«
»Und warum benimmst du dich dann wie ein Schulmädchen, das zum Rektor bestellt wurde?« Schief grinsend und mit hochgezogener Augenbraue deutete er mit dem Blick auf ihre wippenden Beine und nahm die Arme vor den Bauch. Doch noch bevor sie reagieren konnte, rief Penny die beiden zum Chef hinein.
McMiller begrüßte Mary-Ann mit dem Hauch eines Lächelns im Gesicht und wandte sich dann an Mike: »Forrester.« Er nickte ihm zu, ohne direkten Blickkontakt herzustellen, und wies auf die schicken Besucherstühle vor seinem Schreibtisch. Eigenartiger Tonfall. McMiller guckte ihren Kollegen ja nicht mal an.
»Planänderung. Ein Notruf von Ashton Walsh hat mich erreicht. Für die Firma hat sich ein lukratives Investment ergeben, und er sucht dringend nach jemandem, der die Finanzanalyse dafür vornimmt.« Während er sprach, hielt er einen goldenen Füller in den Händen, den er zwischen seinen langen Fingern hin und her rollte. »Ich habe nicht gezögert und das Projekt angenommen. Ab sofort werden Sie beide die offenen Fragen klären.« Nachdem er auf einem Blatt vor sich etwas eingekreist und mit Ausrufezeichen versehen hatte, legte er den Stift weg und wandte sich Mary-Ann zu. »Sie sind noch nicht lange hier, Miss Mayfair. Betrachten Sie es als Möglichkeit zu beweisen, dass Sie die Festanstellung verdienen.«
Mary-Ann spürte, wie sie errötete. Wow, sollte das eine Drohung sein? Die zweite an diesem Tag. Wenn sie bisher keine Angst davor gehabt hatte, nach der Probezeit ihre Kündigung zu erhalten, so auf jeden Fall jetzt.
»Nichtsdestotrotz halte ich Sie beide für das qualifizierteste Team. Ich gebe Ihnen fünf Wochen. Aufschub gibt es nicht.« Seine Augen wanderten zu Mike, der gelassen auf seinem Stuhl dem Lauf der Dinge harrte. Bildete sie sich nur ein, dass zwischen den beiden Herren eisige Blitze flogen?
»Forrester, du trägst die Verantwortung. Keine Zwischenfälle. Läuft etwas schief, fliegst du. Verstanden?«
Mike knurrte: »Natürlich, Boss.« Er stand auf, und Mary-Ann folgte ihm zur Tür. Ehe sie das Büro verließen, rief McMiller ihnen nach: »Aber vergessen Sie darüber den Jahresabschluss nicht. Nach wie vor erwarte ich am Freitag die Zahlen des ersten Quartals. Das stellt doch kein Problem dar, oder?«
Kaum waren sie auf den Flur getreten, atmete Mary-Ann tief durch. In was für eine Fehde war sie hier hineingeraten? Irgendetwas stimmte zwischen Mike und ihrem Boss nicht. Täuschte sie sich, oder suchte McMiller förmlich nach einer Gelegenheit, Mike loszuwerden? Reichte dafür vielleicht ein Fehler bei der Bearbeitung dieses Projekts? Sollte sie ihn fragen? Ja, aber erst zu gegebener Zeit. Jetzt stand etwas anderes auf der Agenda, nämlich ihren eigenen Job zu behalten, denn sie arbeitete gern bei SMASH@X Industries, trotz des launischen Chefs.
»Na, bitte. Was habe ich gesagt? Der Kopf ist noch dran.« Mike grinste schief.
»Der Hinweis auf meine Probezeit hat gereicht. Machst du dir keine Sorgen um deinen Job? Dir hat er doch auch gedroht.«
»Keine Bange. Der braucht uns. Die Abteilung ist seit Monaten unterbesetzt, und trotzdem droht dieser alte Choleriker alle zwei Minuten einem anderen mit dem Rausschmiss. Außerdem hast du ja mich«, sagte er, begleitet von einem kecken, selbstsicheren Augenzwinkern.
»Stimmt. Hauptgewinn.« So wie es ihren Lippen entwischt war, wurde sie sich der Doppeldeutigkeit ihres Tonfalls bewusst, und sie räusperte sich.
Mike lachte, ging jedoch nicht weiter darauf ein. Stattdessen rieb er sich die Hände. »Ein Investmentprojekt auf meinem Tisch. Vielleicht ist das endlich mein Ticket hier raus. Genial. Kann’s kaum erwarten loszulegen.«
»Auf unserem Tisch, wenn ich bitten darf«, korrigierte sie ihn lächelnd.
»Verzeihung, Mylady. Natürlich. Apropos Tisch. Ich habe Hunger. Du auch? Zur Feier des Tages lade ich dich zum Mittagessen ein.« Mit einer auffordernden Geste wies er in Richtung Büroausgang.
»Bei unserer To-do-Liste können wir uns gar keine Pause leisten«, gab sie zu bedenken.
»Aber mit knurrendem Magen kann ich nicht arbeiten. Eine Stärkung kann uns beiden doch nicht schaden, oder?« Die Art, wie er sie so erwartungsvoll ansah, ließ sie schlucken. Und als wäre seine Bemerkung nicht genug, meldete sich auch ein Hungergefühl in ihr.
»Höchstens schnell etwas aus dem Snackautomaten.«
»Mädchen, ich habe von feiern gesprochen nicht von fasten. Der Fraß aus dem Kasten ist alles, aber definitiv nicht feierlich. Nur heute, absolut ausnahmsweise, mal nicht Pause mit Penny. Wenn es dich beruhigt: Wir können ja besprechen, wie wir das alles unter einen Hut bekommen. Ich meine, Jahresabschluss und diese megavielversprechende Investmentanalyse. Dann nennen wir es eben Meeting.« Die Art, wie er sie zu überreden versuchte, war schon irgendwie süß. Außerdem: Er hatte recht: Das Snackangebot hatte sie in den vergangenen Monaten schon oft genutzt.
»Okay, ausnahmsweise. Wo gehen wir hin?«
»Marcy’s.« Erleichterung war in sein Gesicht getreten.
»Sagt mir nichts.«
»Die besten Sandwiches ever.«
Sie atmete angespannt durch, stimmte seinem Vorschlag dann aber zu.
»Du kannst einen ja echt ganz schön zappeln lassen.«
Auf dem Weg nach unten pfiff Mike die Melodie von Jingle Bells mit, die im Fahrstuhl ertönte. Mary-Ann schüttelte amüsiert den Kopf.
»Was?« Er hob entrüstet die Hände.
»Musikalisches Können gleich null, oder?« Sie feixte.
»Du meinst, ich komme damit beim Supertalent nicht in die nächste Runde?«, stieg er in ihr Gekicher ein.
»Nur, wenn Jury und Zuschauer taub sind.«
»Och, komm schon.« Sein gespielt enttäuschter Gesichtsausdruck belustigte sie noch mehr.
»Na, wenigstens konnte ich zu deiner Erheiterung beitragen. Ist schön, wenn du lachst.«
Ihre Wangen glühten, und ihr Herz schien für einen Schlag auszusetzen. Sie schlug die Augen nieder und fuhr sich mit einer Hand über den Nacken. Als sie ihren Kopf wieder aufrichtete, musterte er sie immer noch. Offen und mit einem kessen Lächeln auf den Lippen. Sein Blick brannte regelrecht auf ihrer Haut. Was er wohl dachte?
Einen Moment lang herrschte Stille im Fahrstuhl, doch in Mary-Anns Kopf war es alles andere als ruhig. Ein Gedankensturm tobte in ihr, wirbelte ihr Innerstes durcheinander. Er sollte aufhören, sie so anzusehen. Kerle wie er standen doch auf Perlen von ganz anderem Kaliber: groß, Modelgesicht, makellose Körper, üppige Kurven. Nur, weil er sie hatte überreden können, dieses Pausen-Meeting bei Marcy’s einzulegen, hieß das nicht, dass er sie mit diesem Scannerblick bedenken und womöglich auf seine Eroberungsliste setzen konnte. Garantiert würde sie nicht den Fehler machen, zu einer seiner Trophäen zu werden, mit der er prahlen könnte. Doch er ließ nicht locker. Eine gefühlte endlose Weile lang, in der niemand etwas sagte. Grinsend richtete er schließlich seine Aufmerksamkeit auf seine Schuhe, lehnte sich mit dem Po gegen die Wand und schlug ein Bein vor das andere.
Doch keine Sekunde später schaute er erneut zu ihr. Gerade, als er etwas sagen wollte, hielt der Aufzug, öffnete sich, und eine lautstark diskutierende Gruppe von Herren in Anzügen trat ein. Hilfe! Hatten die in ihren Parfums gebadet? Diese Mischung war ja grauenvoll. Man traute sich gar nicht mehr, einzuatmen. Mary-Ann schielte zu Mike hinüber, der mit den Augen rollte und tat, als würde er jeden Moment ersticken.
Um sich ein lautes Auflachen zu verkneifen, presste sie ihre Lippen fest aufeinander und konzentrierte sich auf die Zahlen der Anzeigetafel über der Fahrstuhltür. In konstantem Tempo und ohne einen nochmaligen Halt liefen sie auf die Null zu. Bloß gut, denn in diesem winzigen, zum Bersten gefüllten Aufzug meldete sich schon wieder Mary-Anns Phobie anhand von stechendem Herzklopfen. Kaum im Erdgeschoss angekommen, eilten die Geschäftsmänner davon. Erleichtert atmete sie auf, während Mike sich mit den Händen Frischluft ins Gesicht fächelte.
Als die beiden nach draußen traten, platzte es aus ihm heraus. »Ich dachte schon, ich müsste sterben.«
»Auf die Schlagzeile wäre ich ja echt gespannt gewesen. Ich sehe es förmlich vor mir«, sagte sie kichernd. Mit einem Finger schrieb sie in die Luft. »Drama im Fahrstuhl. Finanzanalyst Mike Forrester in Duftwolke erstickt.«
Er lachte so laut, dass einige Passanten sich zu ihnen drehten. »Giftgas im Aufzug. Ist Eau de Cologne die neue Geheimwaffe?«, versuchte er, sie mit seiner Headline zu übertreffen. Humorvoll war er, und das auf eine Art, die ihn weit sympathischer machte als die, die sie in den vergangenen fünf Monaten am Rande von ihm mitbekommen hatte. Mit Vorliebe lieferte er sich mit Penny verbale Wortgefechte, denen auch Mary-Ann schon ein paar Mal hatte beiwohnen dürfen. Ein unerwartet wohliges Gefühl breitete sich in ihr aus. Was für eine entspannte, nahezu ausgelassene Mittagspause. Dass sie mit ihm lachte, statt sich über seine machomäßige Art zu ärgern, hätte sie nie für möglich gehalten. Er redete mit ihr, als würden sie sich schon ewig kennen. Dabei war er erst am Morgen in ihr Büroabteil versetzt worden. Sie erinnerte sich an sein Gespräch mit Penny, das sie belauscht hatte. Mike war doch, genau wie Mary-Ann selbst, alles andere als begeistert von der neuen Situation gewesen. Übertraf die Freude über seine neue Aufgabe nun den Frust über seine Versetzung?
»Mike, du treulose Tomate. Verschlägt es dich auch mal wieder in meine Kaschemme?«, fragte die ältere Dame mit den silbergrauen Locken hinter dem Tresen, nachdem die zwei den Laden betreten hatten. »Und dann auch noch in Begleitung dieser hinreißenden Lady!«
Mary-Ann schielte zu Mike, dem es für den Moment die Sprache verschlug, obwohl die Worte sonst so schlagfertig aus ihm heraussprudelten.
Was denn? Sollte die Bedienung hinter der Theke es wirklich geschafft haben, ihn in Verlegenheit zu bringen?
»Es ist auch schön, dich zu sehen, Marcy. Geht es dir und Rupert gut?«, fragte er.
Sie winkte ab. »Was darf es sein? Das Übliche für dich?« Mike nickte.
»Und für deine hübsche Begleiterin?«
Mary-Ann überflog die Menü-Tafel. »Kannst du etwas empfehlen? Offensichtlich bist du hier ja so etwas wie ein Stammkunde.«
Er zog eine Augenbraue hoch. »Magst du Pastrami auf Weißkohl-Salat in süßsaurem Dressing?«
»Klingt gut.«
»Dann empfehle ich dir ganz klar das Special-Club-Sandwich.«
»Okay, ich probiere es.«
Zufrieden lächelte er sie an und wandte sich mit seiner tiefen Stimme an die Namensgeberin des Diners. »Für Mary dein Special-Club-Sandwich, bitte.« Während er am Tresen auf die Bestellung wartete, stellte sie sich an einen runden Bistrotisch. Mit der Bezeichnung Kaschemme, wie Marcy das Lokal genannt hatte, tat die Besitzerin ihrem Laden unrecht. Die Einrichtung erinnerte an ein Café der 1950er-Jahre mit Stehtischen, Tischgruppen mit braunen Lederbänken und Barhockern am Tresen. An den Wänden hingen in schwarzen Rahmen Sepia-Drucke, die von einer längst vergangenen Zeit erzählten. In der Luft lag der typische Geruch von Frittierfett, gebratenem Speck und Kaffee. Es war sehr gepflegt und lud zum Verweilen ein. Mike und sie waren nicht die einzigen Gäste, die meisten Plätze an den Tischen waren besetzt. Wahrscheinlich würde jeden Moment der Mittagsansturm der Laufkundschaft beginnen und sich das Lokal weiter füllen. Hoffentlich nicht, solange sie hier waren. Die Fahrt im Aufzug hatte ihr gerade erst wieder gezeigt, wie nah sie immer noch an ihrem Tiefpunkt war.
Sie beobachtete Mike, wie er zahlte und mit Marcy scherzte. Dabei kam sie ins Grübeln und stierte auf die roten Lettern der Speisekarte auf dem Tisch, bis diese vor ihren Augen verschwammen. Mit ein paar wenigen Sätzen und Gesten hatte dieser Möchtegern-Biker-Weiberheld es geschafft, seinen Kopf über den Rand der Schublade zu heben, in die Mary-Ann ihn gepackt hatte, und war gerade im Begriff, seine Beine über ihren Rand zu schwingen, um heraus zu klettern. Hatte sie zu früh über ihn geurteilt?
»Das Sandwich gegen deine Gedanken«, kam es da überraschend von hinten.
Musste er sich so anschleichen? Seine Worte holten sie ins Jetzt zurück. Dankbar nahm sie das belegte Brot, das er ihr reichte. Nur nicht verraten, was in ihrem Kopf gerade vor sich ging. Ein Ablenkungsmanöver musste her. Neutrale Distanz wahren. Das war die oberste Devise.
»Ich habe mich gefragt, wie wir die ganze Arbeit jemals schaffen wollen. Und die Feiertage stehen noch bevor. Das schränkt unsere Zeit deutlich ein.«
»Stimmt, wir sollten gut planen. Ich habe Urlaub bis Neujahr.«
Sie nickte heftig und biss ab.
»Und? Hab’ ich dir zu viel versprochen?«, fragte er kauend.
»Wow, fantastisch. Ich habe nie ein besseres Sandwich gegessen.« Genussvoll schloss sie die Augen.
»Wusste ich doch, dass du es mögen würdest«, stellte er zufrieden lächelnd fest.
»Oh, nein!« Mary-Ann schlug sich die Hände vor den Mund.
»Was ist?« Mike sah sie über den Rand seines Bildschirms hinweg an.
»Bluescreen! Und ich Idiotin habe seit der Pause nicht gespeichert.« Stöhnend kniff sie die Augen zusammen und ließ den Kopf nach hinten gegen die Stuhllehne fallen. Das durfte nicht wahr sein. Verzweifelt stützte sie den Ellbogen auf und rieb sich die Stirn, nachdem sie erkannt hatte, dass ihre Klicks und Tastenkombinationen keine Wirkung erzielten. »Rien ne va plus – Nichts geht mehr.«
»Zeig her!« Mike stand auf und kam zu ihr herüber. Sie verweilte in ihrer nach vorn geneigten Position, den Kopf auf die Hände gestützt. Er beugte sich über sie und legte einen Arm um ihre Schulter, um an ihre Maus heranzukommen. Seine Finger streiften ihre.
Was machte Forrester da? Nicht bewegen, Mary.
Sein Gesicht war unmittelbar neben ihrem. Wie erstarrt saß sie auf ihrem Stuhl. Mmh … Wie er roch. Hat ihm eigentlich schon mal jemand gesagt, wie erregend dieser Duft war? Der Versuch, seinen raschen Klicks zu folgen, scheiterte, denn ihre Augen wanderten pausenlos zu seinem Gesicht, während er auf ihren Bildschirm schaute. Schließlich verweilten sie auf Mikes Profil. Wieso knöpfte er sein Hemd nicht komplett zu? Mochte er es nicht, am Hals eingeschnürt zu sein oder wollte er die Damenwelt damit auf sich aufmerksam machen? Reichte dafür nicht allein sein Antlitz?
In Mary-Anns Bauch breitete sich ein eigenartiges Kribbeln aus, wie von zu vielen Brausestäbchen. Ihr Herzschlag beschleunigte sich spürbar, und unbewusst hielt sie die Luft an. Ein elektrisierender Schauer durchlief ihren Körper. War das überhaupt noch die Aufregung wegen des IT-Problems?
»Atmen, Süße! Nicht, dass du gleich die Nächste bist, die hier kollabiert«, scherzte er.
Mist. Erwischt. Hatte sie sich verhört? Nannte er sie tatsächlich ›Süße‹? Übernahmen ihre Hormone gerade überfallartig das Kommando?
Mary-Ann Mayfair, hör auf, ihn so anzustarren!
Mike verharrte eine Weile in seiner Position, ohne etwas zu tun. Sein Atem ging ruhig, seine Lippen waren leicht geöffnet. Er zog, vermutlich wohlwissend, was seine Nähe in ihr auslöste, einen Mundwinkel nach oben und zwinkerte ihr zu.
»Tut mir leid, Süße. Da kann ich nichts machen. Dein Rechner streikt. Du wirst einen Techniker brauchen«, sagte er, richtete sich auf und setzte sich auf seinen Platz. Sie wartete ein paar Sekunden, bis das Beben in ihrer Brust wieder abgeklungen war, und bat die IT-Abteilung um Hilfe.
Einer der Fachleute versuchte, sich zunächst aus der Ferne einzuloggen, um ihren Rechner von außen zum Laufen zu bringen. Nichts half. Einige Zeit später erschien ein korpulenter Zeitgenosse um die fünfzig mit fettigen langen Haaren und runder Brille an ihrem Büroabteil, bewaffnet mit einem Packen CDs, den er wie eine Trophäensammlung auf ihrem Schreibtisch ausbreitete.
»Morgen läuft das Baby wieder«, sagte er zu ihr und ließ sich auf ihren Drehstuhl plumpsen.
»Geht das nicht schneller? Ich habe eine Deadline.« Ohne Rechner keine Arbeit. Das war eine Katastrophe!
»Haben wir die nicht alle?« Der IT-Profi bedachte sie mit einem abfälligen Grinsen.
»Keine Panik. Wir schaffen das«, sprach Mike ihr aufmunternd zu. »Schließlich sind wir das qualifizierteste Team!« Aus seinem Mund klangen die Worte ihres Chefs sogar glaubwürdig. »Hakuna Matata!«
»Dein Lebensmotto? Oder schlummert in dir ein Disney-Fan?« Hoppla. Wo kam diese Schlagfertigkeit denn plötzlich her? Das kannte sie von sich nicht. Nicht mehr. Egal. Hauptsache, sie schaffte es, Mike zu zeigen, dass sie sich von ihm nicht einwickeln ließ. Weder von seinem betörenden Parfum, noch von seinen Worten oder seinem Zwinkern.
»Ich sage nichts ohne meinen Anwalt. Komm schon, Süße, genieß den Feierabend! Die Arbeit hat dich früh genug wieder, morgen schon.« Genau darin lag das Problem: morgen. Hier gingen Stunden an Arbeitszeit verloren, die sie dringend brauchte, um sich durch die Berge von Belegen zu wälzen. Wenn sie das erste Quartal nicht bis zum Freitag fertig hatten, würde McMiller bestimmt nicht zögern und sie entlassen. Außerdem erwartete sie zu Hause wieder die Stille der Einsamkeit, die sie vereinnahmte wie ein schwarzes Loch, in das alle Materie einfach hineingezogen wird. Ohne Entkommen.
Mary-Ann stand in ihrem Wohnzimmer, in ihren Händen eine Tasse mit Tee, der den Duft von Orangen und Ingwer verströmte. Mikes schiefes Pfeifen wieder im Ohr, pustete sie auf die dampfende Oberfläche. Sie lächelte. Das war verrückt. Seine ausgezeichnete Laune und seine Lässigkeit hatten sich auf sie übertragen und ihre Seele für kurze Zeit von ihrer schweren Last befreit. Wie hatte er das angestellt? Sogar hier zu Hause, wo die Enge sie sonst immer zu erdrücken drohte, konnte sie heute entspannt sein.
Die Melodie von Jingle Bells summend, begutachtete sie ihr kleines Reich. Im Vergleich zu den hell erleuchteten, festlich geschmückten Straßen in der City um das Bürogebäude, wirkte es trostlos. Würde es ihre Stimmung heben, wenn sie dem Fest eine Chance gäbe? Es musste ja nicht so ausufern wie in den Schaufenstern oder der Eingangshalle der Firma. Keine kitschigen Weihnachtsmänner oder bunt blinkenden Lichterketten. Eine dezente Deko genügte womöglich schon.
Wo war sie, die Kiste mit der spärlichen Weihnachtsdekoration, die sie von zu Hause mit nach New York gebracht hatte? In ihrem Kellerabteil suchte sie danach, fand sie schließlich zwischen den leeren Umzugskartons und trug sie in ihre Wohnung. Ein goldener, runder Teller, den sie mit Kugeln, Zapfen, Sternen und vier dunkelroten Stumpenkerzen schmückte, war alles, was sie aus der Pappkiste herausnahm. Sie stellte ihn auf ihre Kommode direkt neben Peters Foto im schwarzen Rahmen, über das sie zärtlich ihre Finger gleiten ließ, nicht, ohne dabei den üblichen Stich im Herzen zu spüren. Alles andere blieb in der Kiste, auch wenn sie die Krippenfiguren von Maria, Joseph und dem Jesuskind liebte. Ihren Anblick konnte sie kaum ertragen, spiegelten sie ihr doch zu deutlich wider, was sie verloren hatte und wonach sie sich tief im Inneren sehnte.
Ihr Handy piepte. Es dauerte einen Moment, bis sie begriff, dass es noch immer in ihrer Handtasche steckte, die sie beim Hereinkommen an den Garderobenständer gehängt hatte. Mit den Fingern angelte sie nach dem Telefon und streifte dabei über den Puck, der immer noch darin lag. Beides zog sie heraus. Die Gummischeibe in der einen, das Mobiltelefon in der anderen Hand, las sie die eingetroffene Nachricht: »Hey, Süße, ich hoffe, du genießt die freien Stunden. Dein Rechner schnurrt wieder wie ein Kätzchen. Bis morgen. Mike.« Erleichtert atmete sie durch. Bloß kein noch größerer Zeitverlust.
Moment. Woher hatte er ihre Nummer? Mary-Ann fiel nur eine Person ein, von der er sie bekommen haben könnte. Penny.
Du kleines, schwarzes Hartgummiding, dachte sie und betrachtete die Scheibe. Du hast innerhalb von weniger als vierundzwanzig Stunden alles auf den Kopf gestellt, statt mir zu Glück zu verhelfen. Vielleicht sollte sie ihn einfach zum Eishockeyfeld zurückbringen. Was sollte sie damit auch anfangen?
Es war noch nicht spät. Genug Zeit, um draußen eine Runde durch den Central Park zu drehen, was ihr immer so guttat. So konnte sie den Unglücksbringer loswerden und auf dem Rückweg gleich noch ihre Einkäufe erledigen. Sie zog sich warm an, griff sich die lederne Handtasche, in die sie Handy und Puck wieder hineinfallen ließ, sowie ihren Schlüssel aus der Schale auf ihrer Flurkommode, und verließ das Haus. Herrliches Winterwetter heute. Genau so, wie die Vorhersage es am Morgen im Radio angekündigt hatte. Klar, kalt und trocken. Sie schlenderte durch die Straßen bis zum Blumenladen an der Ecke, vorbei am Supermarkt und am Zeitungskiosk, bis hin zum Central Park. War es Zufriedenheit, die sie in sich spürte? Das erste Mal, seit sie hier lebte. Irgendetwas in ihr hatte sich heute verändert.
Ihre Füße trugen Mary-Ann von ganz allein über die Wege der beliebten Grünanlage. Ohne Zeitgefühl. Wie im Flug war der Nachmittag in den Abend übergangen und die frühe Dunkelheit des Dezemberabends angebrochen. Was war das für ein appetitlicher Geruch, der zu ihr wehte? Hotdogs. Lecker. Mit Röstzwiebeln und sauren Gurken. Ihr Magen knurrte. Seit der Mittagspause mit Mike hatte sie nichts mehr gegessen, und hier an der frischen Luft konnte sie dieser Köstlichkeit nicht widerstehen. Mit ihrem Snack in der Hand schlenderte sie ein Stück weiter und schlug wieder den Weg zur Eisfläche ein, wo wie am Vortag Kinder das Hockeyspiel trainierten.
An einen Baum gelehnt, aß sie genüsslich ihr Brötchen. Da war er wieder. Der Coach. Bekleidet mit einem tiefblauen Trainingsanzug, auf dessen Rücken das Logo der New-York-Rangers prangte, zog er zwischen den Kindern seine Bahnen. Heute trug er ein Baseballcap, das er verkehrt herum auf dem Kopf hatte. Ein Dreitagebart zierte sein Gesicht. Ein Augenschmaus, dieser Kerl. Und dazu diese strahlenden eisblauen Augen, die sie gestern so intensiv gemustert hatten. Einen Moment lang verlor sie sich darin, seine schlanke Gestalt zu beobachten.
Seine Stimme drang an ihr Ohr. Auch ohne seine Worte verstehen zu können, vernahm sie, dass er schimpfte, und schmunzelte über die Kinder, die sich mit weit aufgerissenen Augen ehrfurchtsvoll die Schelte anhörten. Schon irgendwie niedlich. Es ertönte ein schriller Pfiff, und er beendete kopfschüttelnd das Training. Mit einem Handzeichen schickte er seine Schützlinge in die Kabine und verließ hinter ihnen den Trainingsbereich. Sie ertappte sich dabei, wie ihr Blick dem Hockeytrainer bedauernd folgte. Was war nur in sie gefahren, ihm so schamlos hinterherzustarren?
Genau im richtigen Moment riss das dumpfe Klingeln ihres Telefons sie aus ihren Gedanken. Mit ihrer Serviette wischte sie sich rasch den Mund ab, knüllte sie zusammen und warf sie in einen Mülleimer. »Penny, hi«, beeilte sie sich, zu antworten, ehe noch ihre Mailbox ranging.
»Hallo Mary. Machst du es dir jetzt zur Angewohnheit, abzuhauen, ohne dich zu verabschieden?«
»Ich bin nicht abgehauen, sondern wurde in den Zwangsfeierabend geschickt. Mein Rechner war hin. Außerdem warst du nicht an deinem Platz, als ich los bin.«
»McMiller hat mit mir Termine umgeplant. Das hat ewig gedauert. Aber das ist nicht der Grund, warum ich anrufe. Was war gestern eigentlich los? Im Club, meine ich.«
»Es ging mir nicht gut.«
»Schätzchen, ich habe mir Sorgen gemacht. Er hat es vermasselt, oder?«
»Wovon redest du?«
»Na, von Mike. Du bist rausgestürmt, und ich wollte dir hinterher. Da hat er gemeint, er macht das schon. Und das Resultat kennen wir ja: Er kam allein zurück.«
Mary-Anns Lippen entwich ein leises Stöhnen, das von ihrem plötzlichen Unwohlsein zeugte, hervorgerufen von der Erinnerung an ihre Panikattacke. »Nein, er konnte nichts dafür, und egal, was er auch getan hätte, ich musste gehen. Es ging nicht anders. Okay?«
»Und ich dachte, du würdest dich gut amüsieren beim Tanzen und … mit Mike.«
»Mit Mike?«, hakte Mary-Ann nach.
»Schätzchen, dein Outfit hat ihn umgehauen! Hast du das nicht gemerkt?«
»Unsinn.« Unwillkürlich zog sie kopfschüttelnd die Schultern hoch.
»Ich bitte dich: kniehohe Stiefel zum kleinen Schwarzen, rote Lippen. Heiß. Und deine Haare!« Pennys Stimme überschlug sich vor Begeisterung. »Ich wusste nicht, was für eine Wahnsinnslockenpracht du durch deinen Dutt verbirgst. Verdammt sexy.« Sie machte eine kurze Pause und wartete auf Mary-Anns Reaktion, die aber ausblieb. »Ich muss gestehen: Rein optisch betrachtet, wärt ihr ein hübsches Pärchen.« Die Art, wie Penny diesen letzten Satz betonte, ließ es Mary-Ann kalt den Rücken runterlaufen. Warum sie den Neustart in New York gewagt hatte, hatte sie ihr nie gesagt. Fernab der Familie und den schlimmen Bildern. Penny kannte ihren Familienstand. Zumindest aus ihrer Personalakte. Niemandem wünschte sie, mit 30 nach einem Schicksalsschlag, wie sie ihn erlitten hatte, vor dem Nichts zu stehen. Und hausieren würde sie damit schon gar nicht gehen. Das kam nicht infrage. Gut, dass Penny sie nie darauf angesprochen hatte. Am liebsten wollte sie alles unter den Tisch kehren. Abhaken und vergessen. Neu anfangen. Zumindest beruflich. Dass ihr Vorhaben, ihre Geschichte für sich zu behalten, ihr allmählich auf die Füße fallen würde, hatte sie nicht kommen sehen.
Sie schluckte. »Er und ich?« Mary-Ann zog die Stirn in Falten. Sie rang einen Moment lang nach Worten, brachte aber keine heraus. Sofort kamen ihr die Szenen zwischen sich und Mike am Vorabend im Fahrstuhl sowie am Nachmittag im Büro in den Sinn. Mit geschlossenen Augen schüttelte sie heftig den Kopf, um sie loszuwerden. »Niemals.«
»Ja, ich weiß«, redete Penny unverdrossen weiter. »Du brauchst nichts zu sagen. Ich dachte nur, dieser Abend im Club wäre eine gute Gelegenheit gewesen, sich besser kennenzulernen. Jetzt, wo ihr euch doch ein Büro teilt und zusammenarbeitet.«
»Du hast es gewusst?«
»Ja, Liebes. Aber ich durfte dir nichts sagen, ehe du es vom Boss erfahren hast.«
»Wenigstens eine Vorwarnung wäre nett gewesen.«
»Die hattest du, meine Hübsche. Du hast sie nur nicht verstanden.«
»Penny. Hättest du nicht deutlicher werden können?«
»Noch deutlicher, und ich hätte mich verraten.«
»Apropos verraten. Hast du ihm meine Nummer gegeben?«
»Er hat nicht locker gelassen, Schätzchen. Auch mein Angebot, dass ich dir doch schreiben könnte, hat er abgeschmettert. Es tut mir leid. Süße, ich muss Schluss machen.«
»Hast du noch etwas vor? Lass mich raten. Jason?«
»Ja. Endlich.«
»Wen wundert’s? Das war wie ein Igelkarussell gestern auf der Tanzfläche.«
»Wie, was?«
»Männchen umkreist Weibchen. Hat nur gefehlt, dass ihr vor aller Augen übereinander herfallt.«
»Morgen Mittagessen?«
»Klar, ich erwarte einen ausführlichen Bericht.«
Diese Frau und ihre Männer. Amüsiert steckte Mary-Ann ihr Telefon weg und schlenderte ein Stück weiter. An einer Weggabelung auf der anderen Seite der Eisbahn stand ein Kaffeewagen. Kaffee. Gute Idee. Den brauchte sie jetzt, um ihre Anspannung nach dem Telefonat mit Penny loszuwerden. Sie stellte sich am Ende der Schlange an. Endlich war sie an der Reihe und hielt den Becher mit der aromatisch duftenden, schwarzen Flüssigkeit in der Hand, den sie mit einem weißen Plastikdeckel verschloss.
Während sie sich gedankenverloren noch einmal der Eisfläche hinter sich zudrehte, entfernte sie sich ein paar Schritte vom Stand. Gerade, als sie ihren Kopf wieder in ihre Laufrichtung wandte, traf sie ein unsanfter Stoß an der Schulter, der Deckel des Kaffeebechers löste sich, und die Hälfte des Inhalts ergoss sich auf ihren geliebten Walkmantel. Der Rest fiel samt Becher platschend zu Boden. Verdammt!
»Himmel, wo kommen Sie denn plötzlich her?« Eine unbekannte Männerstimme polterte los, verstummte aber in dem Moment, als ihre Blicke sich trafen.
»Es tut mir leid. Ich hatte nur … Ich wollte …« Das durfte nicht wahr sein. Ausgerechnet er! Sie erkannte die strahlend blauen Augen des Mannes wieder, der vor einer halben Stunde noch mit den Kindern auf dem Eis trainiert hatte. Seine Gesichtszüge, die seinen Zorn gespiegelt hatten, entspannten sich.
»Ich habe Sie nicht gesehen.« Als sie den Becher, der zu ihren Füßen lag, aufheben wollte, erkannte sie schlagartig das Ausmaß ihres Missgeschicks auf ihrem Mantel. »Gosh!«, stieß sie panisch hervor und kramte hektisch nach Tüchern. Fehlanzeige.
»Versuchen Sie es hiermit!« Im Handumdrehen hatte er einen Packen Servietten vom Kaffeestand gegriffen und hielt ihn ihr hin.
Dankbar tupfte sie sich damit ab, jedoch ohne Erfolg. Das wollene Gewebe hatte die braune Brühe bereits aufgesaugt, und ein riesiger Fleck breitete sich über Brust und Bauch aus. Mary-Ann atmete hörbar aus.
»Hab ich Sie etwa auch begossen?« Ihre Wangen glühten vor Scham.
Prüfend sah er an seinem Oberkörper hinab. »Sieht nicht so aus.« Seine Sportbekleidung hatte er inzwischen gegen Jeans, Mantel und Schal getauscht.
»Gott, das ist mir so unangenehm. Sorry.«
»Schon gut, kann ja jedem passieren. Ich muss mich genauso entschuldigen. Hätte ich nicht auf meinem Handy rumgetippt, wäre ich Ihnen ausgewichen. Außerdem hat es Sie wohl schlimmer erwischt.« Er lächelte sie milde an und betrachtete unverhohlen die Landkarte auf ihrer Brust. »Kein guter Glücksbringer«, bedauerte er. »Oder doch?« In seinen Augen blitzte Neugier auf.
Verdammt! Er erinnert sich an mich! Kann sich bitte der Erdboden vor mir auftun?
»Na ja, zumindest nicht für meinen Mantel.« Sie kicherte.
Er lachte. »Darf ich Ihnen nach diesem Schreck einen neuen Kaffee spendieren?« Er hob den leeren Becher auf.
»Das ist nett«, entgegnete sie. »Aber mit diesem braunen Elend möchte ich nicht länger hier herumlaufen.« Sie wies mit dem Zeigefinger auf ihren verschmutzten Mantel.
»Verstehe. Ein anderes Mal?«
Ihr blieb gleich das Herz stehen. Hatte er das wirklich gerade gefragt? Sie brachte kein Wort hervor. Was bezweckte er mit seiner Einladung? War es einfach eine nette Geste nach diesem unglücklichen Zwischenfall? Bestimmt. Ein Date wäre doch zu absurd. Sollte sie also zustimmen? Aber was war mit … Nein, daran durfte sie jetzt nicht denken. Auch sie hatte das Recht, mal wieder einen schönen Nachmittag mit einem Mann zu haben. Sie nickte also.
»Schön. Wie wäre es morgen? Gleiche Zeit, gleicher Ort?«, hakte er nach.
Wieder legte sich Hitze auf ihre Wangen. Bestimmt war ihr Gesicht inzwischen rot wie ein Feuermelder. Warum musste er diese Frage stellen, die in ihr eine Welle auslöste, die unweigerlich dazu führte, dass sie das Für und Wider abwog? Es ist ja nur ein Kaffee und nichts weiter, beruhigte sie sich innerlich. »Na gut.«
»Schön. Dann bis morgen«, verabschiedete er sich, drehte sich um und verschwand zwischen den Spaziergängern.
Nicht nur attraktiv war er, sondern auch noch nett. Und immerhin war er kein Kollege.