Читать книгу Mit all meinen Narben - Hanna Wagner - Страница 6
Kapitel 3
ОглавлениеAm nächsten Morgen hängte Mary-Ann ihre Daunenjacke eine Stunde früher als gewohnt an den Kleiderständer ihres Büroabteils, das sich ins pure Chaos verwandelt hatte, seit Mike hier eingezogen war. Gestern am späteren Abend hatte sie Mike noch zurückgeschrieben und vorgeschlagen, früher anzufangen, damit er sie auf den aktuellen Stand bringen konnte. Und vor allem, um ihren Rückstand aufzuholen. Er war einverstanden gewesen. Noch fehlte von ihm aber jede Spur.
Um nicht kostbare Zeit mit Warten verstreichen zu lassen, überprüfte sie den letzten Speicherstand vor ihrem Computerabsturz. Erleichtert stellte sie fest, dass ein Großteil der Daten wiederhergestellt war. Die halbe Nacht hatte sie sich darüber Gedanken gemacht, wie schlimm der Datenverlust wohl wäre, und ob sie womöglich ganz von vorn beginnen musste. Sie atmete durch.
Schwere Schritte näherten sich ihrem Schreibtisch, und sie bemerkte Mike, der matt seine Tasche ablegte.
»Guten Morgen. Kurze Nacht gehabt?« Sie betrachtete ihn, während er seine Lederjacke auszog.
»Hm, frag lieber nicht.« Er rieb sich die Schläfen, danach rollte er mit seinem Bürostuhl neben sie. »Es ist eindeutig zu früh, um zu arbeiten«, brummte er. Mikes Auftritt an diesem Morgen war ungewöhnlich. Normalerweise betrat er mit sprühend guter Laune die 42. Etage, lieferte sich zur Begrüßung ein Wortgefecht mit Penny am Empfangstisch, das meist mit seinem volltönenden Lachen endete. Auf dem Weg zu seinem Arbeitsplatz tauschte er mit einigen älteren Kollegen Sportnews aus, und das in einer Lautstärke, dass jeder Mitarbeitende wusste, dass Mike jetzt da war. In den ersten Wochen fand Mary-Ann dieses Verhalten einfach nur störend. Inzwischen fehlte es ihr, wie sie gerade feststellte. Ganz davon abgesehen, dass außer ihr noch niemand anderes da war, mit dem er hätte sprechen können, wirkte er abgespannt. Sein Gesicht war ungewohnt fahl, was die Tiefe der Schatten um seine Augen verstärkte.
»Mike, geht’s dir gut?«
»Schlafmangel.« Seine knappe Antwort ließ sie aufhorchen. Er ging nicht weiter auf ihre Frage ein, fuhr ein Stück zurück, um sich einen Ordner zu greifen und ihn ihr zu reichen. Auf dem obersten Blatt war eine Checkliste angelegt, die zur Hälfte abgehakt war.
»Und das alles ist noch offen?« Skeptisch hob sie die Augenbrauen, als sie die Liste überflog. Unmöglich, das bis Freitag zu schaffen. Dabei hatte sie eben noch erleichtert aufgeatmet, als sie den letzten Speicherstand abgerufen hatte. Nun aber meldete sich das ungute Gefühl in ihrer Magengegend wieder zu Wort, das ihr zurief: »Wenn du deinen Job nicht verlieren willst, musst du dich ranhalten!« Verflixt. Wie sollten sie das zu zweit schaffen?
Als würde er ihre Gedanken lesen, sagte Mike: »Lass uns keine Zeit verlieren. Fangen wir an.«
Dieser Satz aus seinem Mund. Auch das war nicht der Mike, den sie in den vergangen fünf Monaten beobachtet hatte. Nie ging er sofort an die Arbeit, sondern lehnte sich morgens erst einmal zurück, schlürfte seinen Coffee-to-go-Becher aus und aß einen Proteinriegel dazu. Meistens legte er ganz entspannt seine Füße auf den Schreibtisch, nahm die Postmappe auf seine Oberschenkel und blätterte darin wie in einem Magazin.
Von wegen: Der Kerl war alles andere als fit an diesem Morgen. Ausdrücke wie ›Mist‹, ›O komm schon‹ oder ›Arrgh‹ durchbrachen nicht nur einmal die Stille der 42. Etage. Doch so angespannt sein ganzes Wesen auch war, sie konnte sich ein Grinsen über seine Äußerungen nicht verkneifen. »Arbeiten deine Hände heute gegen dich?«, fragte sie, nachdem er sich wieder lautstark über einen Tippfehler geärgert hatte.
Sie erhielt keine Antwort. »Wie wäre es mit einem Kaffee?«
»Am besten literweise. Intravenös.« Er grummelte.
»Mal schauen, ob ich auf die Schnelle eine Pipeline zum Automaten legen kann«, versuchte sie, die Situation mit einem Scherz aufzulockern. Null Reaktion. Kein wortgewandter Schlagabtausch? Lag es an der Uhrzeit? Versprach das geliebte Heißgetränk Besserung? Sie erhob sich und eilte los. Am Snackautomaten blieb sie stehen. Das war die Lösung: Schokoriegel. Süßigkeiten halfen doch immer. Schließlich balancierte sie zwei randvolle Becher und Riegel zu ihrem Büroabteil.