Читать книгу Tante Daffis Haus - Hannah Opitz - Страница 4

An der Grenze

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Louise war bereits ein halbes Jahr fort, da hatte Jolie einen Plan ausgeheckt. Es waren nur noch wenige Monate bis zu ihrem Geburtstag. Sie hatte sich die Kleidung eines Stallburschens besorgt und sich darin eingekleidet.

„Prinzessin, ich halte das für keine gute Idee“, meinte ihre Zofe gerade, als sie ihre Herrin sorgenvoll betrachtete.

„Ach, was! Marie, das ist eine prima Idee! Ich habe keine Lust, hier drin zu versauern! Ich will die Welt sehen! Noch heute werde ich zu der alten Hexe am Waldesrand gehen. Sie kann mir bestimmt helfen“, meinte Jolie abwinkend.

„Aber was, wenn Ihr den Verstoßenen begegnet? Was, wenn sie Euch gefangen nehmen? Oder Schlimmeres?“, fragte Marie angsterfüllt.

„Ach, was! Ich bin alt genug, um mich zu wehren!“, erwiderte Jolie und nahm sich ihren kleinen Proviantbeutel, „Außerdem erkennt mich in diesem Aufzug sowieso niemand. Und wenn ich erst bei der Hexe war, dann sowieso nicht. Keine Sorge, ich werde pünktlich zur Hochzeit wieder da sein. Es ist nur so, dass ich einfach das Gefühl habe, etwas zu verpassen, wenn ich nicht einmal raus gehe und die Welt erkunde! Und jetzt, da meine Schwester nicht mehr da ist, ist es sowieso so langweilig. Ich werde schon gut auf mich aufpassen. Und denk daran – du musst bis heute Abend so tun, als sei ich in meinem Zimmer, verstanden?“

Ihre Zofe nickte. „Aber Ihr werdet doch gewiss von Zeit zu Zeit ein Knallhuhn schicken, oder?“, fragte sie dann noch schnell, bevor Jolie sich auf den Weg machte.

Jolie überlegte kurz. „Vielleicht. Nur, damit Mutter und Vater wissen, dass es mir gut geht. Auf Wiedersehen, Marie, au revoir!“, meinte sie noch zum Abschied. Dann lief sie leise die Treppe des Turms hinunter.

Nun musste sie sich nur noch über den Hof schleichen. Tatsächlich gelang es ihr, ohne, dass jemand Notiz von ihr nahm. Am Tor achtete auch niemand auf sie – und schon war sie draußen.

Kurz nach der Burgmauer blieb sie stehen und amtete die Luft ein. „Endlich frei!“, dachte sie glücklich und lief los. Ihr Gang war leicht und federnd, sie summte ein wenig vor sich hin.


Zur alten Hexe war es recht weit, sie lebte in einem alten, etwas heruntergekommenen Haus, welches sich so weit, wie es nur ging, von der Burg entfernt befand.

Jolie brauchte fast einen ganzen Tag, bis sie da war, da ihr das Risiko zu groß war, sich zu verwandeln, sonst hätte man sie gewiss erkannt.

So kam es, dass es bereits der Morgen des nächsten Tages war, als sie bei der alten Hexe ankam.

Nervös klopfte sie an die Tür.

Die alte Frau öffnete. „Ah, Ihr seid es, ja, ich habe mit Euch gerechnet. Kommt doch rein!“, begrüßte die Alte sie.

Lächelnd trat Jolie ein.

„Was kann ich für Euch tun, Hoheit?“, fragte die alte Hexe, als sie einen Tee gekocht hatte und sie sich gegenüber in zwei alte, verstaubte Lehnsessel gesetzt hatten.

Jolie brauchte nicht lange zu überlegen. „Ich möchte eine Hexe sein! So, wie Ihr es seid!“, sagte sie sofort.

Die Alte lachte. „Aber mein Kind, du weißt doch, dass ich keine Hexe bin!“, meinte sie, „Hexen werden in diesem Land doch noch immer auf dem Scheiterhaufen verbrannt, das weißt du doch!“

Jolie schwieg. „Ich möchte nicht hier, in diesem Lande, bleiben“, sagte sie schließlich.

„Aber wieso denn nicht? Ihr habt doch ein wunderbares Leben dort oben auf dem Schloss! Keine Sorgen, keine Mühen. Ihr seid so schön, vermutlich würde jedes Geschöpf auf dieser Erde etwas ohne Gegenleistung für Euch erledigen, selbst, wenn Ihr nicht die Tochter der Königin wärt“, meinte die Alte nachdenklich.

„Aber das ist es ja! Ich bin es leid, schön zu sein! Lieber wäre ich hässlich. Eine hässliche, alte Hexe, ja, das will ich sein!“, meinte Jolie entschlossen.

Die Alte grinste. „Hm, hm. Mal überlegen“, sagte sie. Ihre Stimme knarzte etwas. Sie kratzte sich am Kinn. Ihr Gesicht war mit fetten Leberflecken übersät und aus jedem einzelnen sprossen ein paar Haare. Die Finger waren alt und knochig. Ihre Haare waren wild zerzaust, als hätte sie sie in den letzten hundert Jahren nicht ein einziges Mal gekämmt.

„Nun“, meinte sie schließlich, „ich denke, die Sache mit der Hässlichkeit ließe sich machen. Das mit der Hexe vielleicht sogar auch – aber alt, das wage ich nicht. Denn dann müsste ich dir Lebensenergie absaugen und das wäre nun wirklich nicht recht. Aber sei gewarnt! Der Trank, den ich dir geben werde, er wird lediglich 24 Stunden anhalten! Wenn du ihn dann nicht spätestens wieder einnimmst, wirst du wieder genauso sein wie zuvor – verstanden?“

Jolie nickte eifrig.

„Hässlich will sie sein“, murrte die Alte kopfschüttelnd, während sie die Zutaten für den Trank zusammensuchte, „dabei kommen die Leute sonst immer zu mir, weil sie schöner sein wollen. Naja. Dann brauen wir ihr mal was Schönes zusammen. Ach nein, hässlich will sie ja sein. Hässlich!“

Jolie sah sich derweil ein wenig um. „Wisst Ihr“, sagte sie, als sie die Sachen der alten Hexe begutachtete, „ich hatte in den letzten Jahren sehr viel Zeit. In einem goldenen Käfig zu leben hat auch seine Vorteile. Ich habe alle Bücher in unserer Bibliothek gelesen. Das sind nicht gerade wenige. Und nachdem ich die alle gelesen habe, habe ich den Kamin benutzt, um – na, sagen wir einfach, ich habe noch mehr Bücher gelesen als die in unserer Bibliothek.“

Die Alte hörte ihr gar nicht zu. „Wie lange willst du denn hässlich bleiben?“, fragte sie.

„Bis zu meiner Hochzeit, natürlich!“, erwiderte Jolie.

„Ah ja, heiraten will sie also. Pah! Hässlich will sie sein! Sonst wollen alle immer hübsch sein. Naja, es will halt jeder haben, was er nicht hat!“, murrte die Alte wieder vor sich hin.

Jolie seufzte und setzte sich wieder in einen der beiden Sessel. „Braucht Ihr noch lange? Ich will nicht, dass man mich findet!“, erklärte sie nervös.

„Ja, ja. Schon fertig“, meinte die Alte, „komm her!“

Neugierig trat Jolie neben die Alte an den Kessel.

„Also“, begann die Alte zu erklären, „ich werde dir jetzt gleich einen Schluck geben, um zu sehen, ob es funktioniert. Wenn alles klappt, fülle ich dir den Rest in kleine Flaschen. Sollte das Zeug knapp werden, kannst du es einfach mit Wasser verdünnen. Die Wirkung bleibt dieselbe. Natürlich geht das nicht grenzenlos, aber so ein paar Mal sollte es schon funktionieren. Den nächsten Schluck nimmst du am besten heute Abend, vor dem Schlafengehen. So, jetzt wollen wir mal testen, ob es funktioniert!“

Jolie nahm begierig einen Schluck. Der Trank brannte ihr im Rachen wie eine rohe, scharfe Chilischote. Sie hustete und prustete und bekam kaum Luft. Sie spürte, wie sich ihre Haut zu verändern begann, es zog entsetzlich an ihren Knochen. Ihr Rücken krümmte sich ein wenig und ihre Augen schmerzten fürchterlich. Alles wurde unscharf und für einen kurzen Moment verlor sie das Bewusstsein.

„War ein bisschen stark das Zeug, was?“, meinte die Alte, als sie wieder erwachte.

„Hm?“, machte Jolie und richtete sich auf. Sie war wohl umgekippt. Alles drehte sich noch.

„Möchtest du dich ansehen, oder denkst du, es wird ein zu großer Schock sein?“, fragte die Alte.

„Ich möchte mich sehen!“, sagte Jolie sofort und sprang auf.

„Nun gut“, meinte die Alte und hielt ihr vorsichtig einen Spiegel hin.

Jolie nahm ihn und schaute sich an. Vor Schreck hätte sie den Spiegel fast fallen gelassen. Ihre Haut sprießte nur so von Pickeln, sie war gänzlich gerötet. Ihre Zähne waren schief, nicht mehr gerade, außerdem leicht gelblich. Ihre Augenfarbe war nun nicht mehr blau, sondern braun. Und ihre Haare – ihre Haare waren feuerrot und leicht gekräuselt. Ihre Augenbrauen waren buschiger als zuvor und ebenfalls feuerrot. Das Einzige, was gleich geblieben war, waren ihre Nase und ihr Mund.

„Und? Bereust du es schon?“, fragte die Alte.

Jolie schüttelte den Kopf. „Nein“, flüsterte sie. Dann sah sie sie mit vor Freude glänzenden Augen an. „Danke!“, sagte sie und umarmte die völlig überraschte Alte.

„Na, ist ja schon gut. Aber pass auf dich auf, ja? Nun wird dein Leben nicht mehr so einfach sein. Du solltest das Zeug nur verdünnt einnehmen, dann haut es dich nicht noch einmal um. Wo willst du denn jetzt eigentlich hin?“, wurde die Alte nun doch ein wenig neugierig.

„Ach, ich weiß nicht. Vielleicht gehe ich in den Wald, immer der Nase nach, bis ich unser Reich verlassen habe“, meinte Jolie nachdenklich.

„Hm. Dann wirst du das hier brauchen“, meinte die Alte und überreichte ihr ein Bündel.

„Was ist das?“, fragte Jolie, als sie das Bündel annahm.

„Das sind Kleider. Aus der Welt, die du betreten willst. Es wird aber nicht so einfach sein, dorthin zu gelangen. Aber das wirst du schon rausfinden, du bist ja ein kluges Mädchen. Nun leb wohl und pass auf dich auf!“, meinte die Alte, ein wenig wehleidig lächelnd.

„Das werde ich schon, versprochen!“, rief Jolie und winkte ihr noch zu. Dann ging sie ihrer Wege.


Sie war noch nicht weit in den Wald hineingelaufen, da hatte sie so ein seltsames Gefühl. Es war ihr, als hörte sie etwas. Ein Rascheln. Oder ein Knistern. Immer wieder sah sie sich um. Aber da war nichts. Oder doch? Sie war sich nicht sicher.

Dann – auf einmal hörte sie etwas. Ein Knurren. Sie drehte sich um. Mit einem Mal kamen aus dem Dickicht ganze zehn Wölfe auf sie zugesprungen. Vielleicht waren es auch mehr. Panisch drehte sie sich im Kreis.

„Mh, was haben wir denn hier?“, fragte einer der Wölfe, vermutlich der Anführer.

„Das riecht nach einem Mädchen“, schlug einer der anderen Wölfe vor.

„Das weiß ich doch, du Dummkopf! Ein kleines, wehrloses Mädchen. Ach, wie süß! Mh, sie duftet gut, findet ihr nicht auch? Ich freue mich schon darauf, aus ihrer Kehle Blut zu lecken!“, sagte er und leckte sich die Schnauze.

Jolie sah ihn erstarrt an. Sie wusste, was das für Wölfe waren. Sie gehörten zu den Verstoßenen. Der Wolf setzte zum Sprung an. Jolie schrie und machte sich, in dem Moment, da er sprang, ganz klein. Er sprang über sie drüber. Dort, wo er gestanden hatte, war nun Platz.

Jolie erkannte ihre Chance sofort und begann zu rennen. Die Wölfe brauchten einen Moment, um zu verstehen, was geschah, aber dann rannten sie ihr nach. Jolie konnte in ihrer Menschengestalt sehr schnell rennen, auch in dieser neuen. Aber die Wölfe waren schneller, das wusste sie. Sie rannte blindlings drauf los, wusste nicht, wohin, nur vor den Wölfen davon.

Dann stolperte sie über eine Baumwurzel. Sie drehte sich auf den Rücken und erblickte den Anführer, wie er zum Sprung ansetzte. Ihr Herz klopfte. Sie wollte sich verwandeln, aber – sie konnte nicht. Wieso nicht? Wieso? Es musste an dem Trank liegen, wurde ihr bewusst. Vielleicht sollte sie hexen? Aber wie? Sie hatte es nie gelernt.

Doch gerade, als der Wolf losgesprungen war, kam ein anderer Wolf, den Jolie vorher nicht bemerkt hatte, wie aus dem Nichts herbeigesprungen und riss ihn noch in der Luft aus der Flugbahn. Knurrend stürzte er sich auf ihn und biss ihm die Kehle durch. Das Blut des Angreifers tropfte ihm noch vom Maul, als er sich den anderen Wölfen, die sich nun um ihn statt um sie scherten, zu. Es war ein grausiges Blutbad, dass er mit ihnen anrichtete. Fast schien es, als kannte er nur das Töten, so zerbiss er sie. Selbst den Flüchtenden hechtete er nach und tötete sie. Jolie sah dies nicht, aber sie hörte es. Einer der Wölfe kam wieder zurück gerannt, er war ganz nah bei ihr, direkt neben ihr, sie konnte förmlich spüren, wie er Angst hatte und hören, wie er leise um Gnade winselte, doch der fremde Wolf biss auch ihn tot.

Nun stand er, vor Blut triefend, direkt neben Jolie. Sie lag noch immer angsterfüllt auf dem Boden und rührte sich nicht. Ihr entglitt ein leises, panisches Quietschen, was seine Aufmerksamkeit auf sie lenkte. Knurrend wandte er sich ihr zu. Er duckte sich und kam zähnefletschend auf sie zu. Seine dunkelgrünen Augen leuchteten förmlich vor Mordlust.

„Bitte“, flüsterte sie, „bitte tu mir nichts!“ Langsam rutschte sie auf dem Rücken immer weiter von ihm weg, doch er folgte ihr.

„Verstehst du mich? Bitte – ich habe nichts mit diesen Wölfen zu tun – ich schwöre es! Du – du bist doch ein Werwolf, oder? Du verstehst, was ich sage, oder? Warum sprichst du nicht?“, fragte sie flehend.

Es half nichts. Er kam immer weiter auf sie zu und befand sich schließlich über ihr. Er öffnete sein Maul und hatte ihre Kehle bereits zwischen seinen Fängen. Da hielt er inne und schnupperte ein wenig.

Sie bemerkte vor Angst zitternd, wie das Leuchten in seinen Augen erstarb. Nun waren sie nur noch tief dunkelgrün. Er sah sie verwirrt an. Doch sie sah nur noch seine Augen. Noch nie hatte sie solche Augen gesehen! Dann ließ er von ihr, schüttelte sich einmal gründlich, sodass das Blut von ihm weggeschleudert wurde, leckte sich ein wenig die Pfoten und das Fell, dann trottete er davon.

„Ha – halt! Wo willst du denn jetzt hin? Was hat das zu bedeuten? Wer bist du? So warte doch! Hallo!“, rief sie erstaunt und stand auf. Schnell suchte sie ihre Sachen zusammen und lief dem Wolf nach. Was war das nur für ein seltsames Wesen? Wäre sie nicht so furchtbar neugierig gewesen, wäre sie wohl davongerannt, wie es alle anderen normalen Wesen in diesem Moment auch getan hätten. Aber sie war fasziniert von ihm, von seinen Augen. Sie konnte an nichts Anderes mehr denken als an diese Augen.

Der Wolf war zu einem großen See gelaufen und sprang nun ins Wasser. Sofort färbte sich die Stelle, in die er gesprungen war, rot. Das Blut strömte aus seinem Fell. Er ließ Wasser in sein Maul laufen und spuckte es dann wieder aus.

Jolie stand derweil wie gebannt am Rand des Sees und beobachtete ihn. Er schwamm immer weiter raus und schließlich um eine Ecke, sodass sie ihn nicht mehr sah.

„Was ist das nur für ein seltsamer Wolf?“, fragte sie sich, „Und vor allem frage ich mich – hat er mir das Leben gerettet? Oder hat er sein Revier verteidigt? Wo bin ich hier eigentlich? Ich glaube, ich war noch nie zuvor an diesem Ort.“ Neugierig sah sie sich um.


Noch am selben Abend wurde Nachricht zum Schloss überbracht, dass an der Grenze ein paar der Verstoßenen von einem anderen Wolf gerissen wurden.

„Von einem einzelnen?“, fragte die Königin erstaunt.

„Wir gehen davon aus“, antwortete der Berichterstatter.

„Großer Gott, was muss das für eine Bestie sein! Sagt Bescheid, wenn er sich dem Reich nähert. Ich spürte schon, dass an der Grenze etwas vorgefallen war. Aber dass es so etwas war – meine Güte!“, sagte die Königin fassungslos.

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