Читать книгу In den Tiefen des magischen Reiches - Hannelore Nissen - Страница 11

5. Kapitel

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Heute sind unsere Enkelkinder wieder zu ihren Eltern gefahren. Mit Gerard liege ich auf einer Sommerwiese. Es ist warm. Wir hatten Lust auf Picknick und sind einfach losgefahren. Jetzt sind wir müde. Es schnarcht ganz leise neben mir.

Plötzlich spüre ich, dass mein Arm berührt wird, ganz zart, es kitzelt! Wahrscheinlich ein Insekt. Schnell verjagen, ich habe Angst vor Stichen. Aber … das ist kein Insekt. Ich stoße mit meiner Hand an etwas Festes, etwas Größeres. Vor Schreck ziehe ich sie schnell zurück und öffne meine Augen. Ganz nah neben mir kniet eine unbekannte Frau und sieht mich an. Ihr Gesichtsausdruck ist traurig. Lange schwarze Haare fallen von ihren Schultern herab auf meinen Arm. Sie trägt ein Kleid, das ich hier noch niemals sah. Es ist ein wunderschönes Gewand aus blauen Schleiern – ganz sicher ist sie nicht von hier!

Da spricht sie mich an: „Hab keine Angst … Vor mir brauchst du niemals Angst zu haben … niemals Angst zu haben … Angst!“

Oh, diese leise, etwas hallende Stimme mit dem Echo … Ich kenne sie doch.

Sanft legt die Unbekannte ihre Hand auf meine Schulter. „Ich bitte dich um deine Hilfe … deine Hilfe … bitte!“

Genauso hat das Wesen mit den glühenden Augen zu mir gesprochen. Neulich ist es nachts bei mir erschienen und hat mich mit dieser sanften Stimme gerufen. Das war also doch kein Traum … Vollkommen verwirrt schaue ich sie an und da fällt mir auf, dass sich ihre Augen mit Tränen füllen. „Wer bist du?“, flüstere ich, um Gerard nicht zu wecken.

„Ich bin Naomi. Einst war ich die Königin von Tandonay … Tandonay.“

„Tandonay?“, wiederhole ich und bin erstaunt. Das Land Tandonay habe doch ich erfunden, in meiner Geschichte für Philipp und Mika. Wie kann das sein? Gibt es das wirklich? Und ich frage Naomi: „Wo liegt es, ich habe nie davon gehört.“

„Tandonay ist ein friedliches Land … Land in der großen Welt der Märchen … Märchen. Zedon, ein Zauberer, entführte mich von dort … von dort … Er hält mich gefangen … Ich finde nicht mehr zurück und brauche Hilfe … brauche Hilfe!“ Sie spricht immer aufgeregter und dann höre ich verzweifeltes Schluchzen.

„Wie kann ich dir denn helfen, Naomi? Sag es mir.“

„Um das alles zu verstehen, muss ich dich einweihen … einweihen! Du musst wissen: Zedon, der Zauberer, hat vor langer, langer Zeit bei meinem Vater um meine Hand angehalten … angehalten. Er bot mir Schätze an, wenn ich ihn heiraten würde. Doch Zedons Charakter war so düster … so düster. Man fror in seiner Nähe, selbst wenn er lachte und freundlich tat … freundlich tat. Ich wollte um keinen Preis seine Frau werden … um keinen Preis …“ Dann wird Naomis Stimme leiser und weicher. „Ich liebte bereits den jungen Herrscher von Tandonay, wir hatten einander versprochen … einander versprochen … für immer zusammenzugehören. Dieser Mann hatte ein gutes Herz und hohen Verstand. Wie oft habe ich erlebt, dass er sich wie ein Vater für sein Volk verantwortlich fühlte … verantwortlich fühlte. Er war ein Mensch mit edlen Idealen. Strahlend ist sein Bild, wenn ich an ihn denke. Ich wurde seine Frau … seine Frau.“ Naomi senkt ihren Kopf und spricht zunächst nicht weiter. Ihre Hoffnungslosigkeit ist deutlich zu spüren. Schließlich flüstert sie: „Nach einem Jahr bekamen wir einen Sohn … einen Sohn.“ Naomi schluchzt laut auf und klagt: „Nie … niemals waren wir glücklicher!“

Da nehme ich die verzweifelte Königin in meine Arme, doch mir fehlen Worte, mit denen ich trösten kann. Ich weiß zu wenig, um helfen zu können. Eine Weile bleibt es still zwischen uns.

Als sich Naomi ein wenig beruhigt hat, erzählt sie weiter: „Zedon hat meine Abweisung nie akzeptiert … nie akzeptiert. Warum habe ich nicht daran gedacht, dass er vielleicht Rache nehmen könnte … Rache. Lange geschah nichts und ich vergaß den Zauberer … vergaß. Doch eines Tages war die Zeit für ihn reif. Er … er hat nicht vergessen, sein abgewiesenes Werben um mich nie verwunden … nie verwunden. Und dann kam der Tag, an dem Zedon mich aus Tandonay raubte … aus Tandonay raubte! Er bediente sich einer List und verschleppte mich in sein düsteres Reich … verschleppte mich!“

„Erzähl mir genau, Naomi, wie konnte das geschehen? Wo brachte er dich hin?“

„Oh, er kannte mich gut … er kannte mich! Als Kind hatte mir mein Vater einst einen weißen Pfau geschenkt … weißen Pfau. Wie sehr hatte ich den geliebt. Viele Jahre war er mein Spielgefährte gewesen … mein Spielgefährte. Das wusste Zedon und jetzt sandte er mir einen ähnlichen, einen großen, eleganten Vogel, der mich sofort faszinierte und lockte … lockte. Ja, ich war unvorsichtig und lief ihm hinterher. Ich ahnte ja nicht, dass ich entführt werden sollte … ahnte ja nicht …

„Wann hast du denn gemerkt, dass du entführt worden bist?“

„Um dir das zu beantworten, muss ich dich in eine andere Wirklichkeit führen … andere Wirklichkeit!“ Naomi streicht mit einer Hand ganz leicht über mein Gesicht und spricht dabei: „Sieh, wohin er mich gebracht hat … wohin!“

Als sich die Hand Naomis von meinen Augen löst, sehe ich die Königin als Gefangene tief unten in einer Schlucht zwischen kalten Felsen umherirren. Sie ist nicht allein hier. Über ihr wächst aus dem Stein ein halbes Wesen mit mächtigem Oberkörper. Die muskulösen Arme stapeln Felsbrocken um sich herum. Der Kopf dieser gewalttätigen Kreatur trägt auf jeder Seite ein anderes Gesicht. Ständig kontrolliert er jede Himmelsrichtung und mir wird klar: Falls sich je ein Geschöpf hierher verirren sollte, um Naomi zu helfen, so würde dieses Ungeheuer mit seinen kräftigen Armen große Steinbrocken nach ihm schleudern. An ihm kommt niemand vorbei.

Als ich wieder zu der Unglücklichen in die tiefe Schlucht schaue, entdecke ich, wie ein äußerst hässliches Wesen auf sie zuschleicht. Es scheint halb Mensch, halb Tier zu sein. Glatzköpfig, mit langer Hundeschnauze, scheußlich abstehenden, fleischigen Ohren und dickem Bauch tappt dieser sonderbare Kerl vorsichtig auf dünnen Beinen der Gefangenen entgegen. Aus irgendeinem Grund hält er die Augen geschlossen, doch seine dicken Krallenfüße finden den Weg sicher. Ständig bleibt er stehen und richtet seine großen Ohren auf, um sie nach dem kleinsten Geräusch zu drehen. Auch die Flügel seiner knubbligen Nase bewegen sich und ich kann hören, wie er die Luft um sich tief einsaugt. Sollte ein Retter Naomi hier zu Hilfe kommen wollen, so würde er ihn schon von Weitem wittern.

Noch ist die Königin abgelenkt. Noch hat sie ihn nicht erblickt. Ganz offensichtlich prüft sie Felsspalten, um irgendwo einen Weg zur Flucht zu finden.

Auch wenn die Augen der hässlichen Kreatur noch immer geschlossen sind, bleibt ihr anscheinend nichts verborgen. Auf irgendeine Weise nimmt sie alles, aber auch alles wahr, denn da höre ich schon ihre rostig krähende Stimme kreischen: „Halt! Nicht weiter, bleib ßtehen, mein ßätzzchen, ßonßt wird eß dir schlecht ergehen und daß wollen wir doch nich!“ Und während es spricht, blickt dieses Ungeheuer scheinbar völlig teilnahmslos in eine andere Richtung. Gegen diesen Bewacher hat man keine Chance. Er ist unberechenbar, aber auch gefährlich und launisch!

Obwohl ich die Königin als Gefangene in dieser tiefen Schlucht sehe, kauert Naomi zugleich immer noch neben mir, hoch oben, am Rande der abfallenden Felsen, und ich frage leise: „Ist dein Bewacher ein Untertan von Zedon?“ Wenn ich ihr helfen soll, so muss ich alles, was hier geschieht, verstehen.

Naomi nickt.

So ein komisches Wesen habe ich noch nie gesehen: Über seinem dicken Leib trägt es einen Rock, der bei jedem Schritt hin und her schwingt. Mit den fetten, fleischigen Pranken streicht es ständig die Falten glatt. Ja, dieses eigenartige Geschöpf ist zweifellos eitel! Langsam tappt es an Naomi vorbei, ohne sie anzusprechen.

Was tut es denn jetzt? Fasziniert schaue ich weiter in den Abgrund. Dieser Hässling hebt plötzlich seine abscheulich dicken Füße. In eigenartigem Takt patschen die Krallen auf den Felsenboden … vor … und zurück, dann sich heftig drehend wie ein Kreisel! Aus seinem Maul höre ich krächzenden Gesang: „Ich bin ßo ßöhöön“, grunzt der Hässling völlig selbstvergessen. „Ich bin eine Elfe, eine Eeelfeee!“ Dabei schwingen seine Hüften … rechts, links, rechts, dass sein Faltenröckchen nur so wippt. Offensichtlich hat er einen wilden Gefallen daran.

Aus Nischen und Pfützen der Schlucht eilen ihm kleine Zauberwesen mit Mäuse- oder Drachenkopf entgegen. Die tragen ebenfalls Röcke. Eines mit Ziegenkopf hält sogar einen Sonnenschirm in seiner dürren Kralle. Auch die beginnen ganz grässlich zu kreischen: „Du, unser Anführer, bist sooo schön, wir sind auch so schööhön, wir alle sind Eeelfeeen so zahart, so liiiieblich …“

Da werde ich von einer Bewegung der gefangenen Königin abgelenkt. Was tut sie da? Sie schleicht ganz vorsichtig zu einer schmalen Felsspalte. Wahrscheinlich glaubt sie, die Kreaturen seien in ihrem Tanz unaufmerksam.

Doch welch ein schlimmer Irrtum! Ihr tanzender Bewacher erstarrt schlagartig. Er holt tief Luft, bläst seinen dicken Bauch auf und dann hört man einen alles durchdringenden, furchtbaren Schrei. Der will und will nicht enden; er gellt wie ein Alarm aus vielen Sirenen. Sofort rennen die kleinen Ungeheuer zu der Königin, die noch immer eine Felsspalte sucht. Ich erlebe von meinem Platz aus, wie die Kreaturen vor Hohn laut lachen, wie sie wild um sie herumtanzen. Naomi schreit auf, doch noch lauter kreischen ihre Peiniger: „Sie will fliiiieheen, aaaach, sie will fliiiehen!“ Sie kneifen und stoßen sie und jetzt ziehen sie die wehrlose Königin mit sich …

Da schwindet dieses furchtbare Bild vor mir und es erscheint ein anderes. Der Hässling stößt die Königin vor sich her in einen Schlosshof hinein. Die anderen Kreaturen tanzen dort bereits um eine schwarz gekleidete, hohe Gestalt herum und schreien: „Fliehen wollte sie, großer Zedon … Wir haben es verhindert!“

Zedon? Das also ist der große Zauberer? Zum ersten Mal sehe ich ihn. Wie eine Statue steht er bewegungslos und mächtig vor seinem Schloss. Sein dunkler Mantel verhüllt den Körper, die Kapuze ist tief ins Gesicht gezogen. Aus der Bewegungslosigkeit heraus beginnt er jäh zu schreien: „Die Zeit der Schonung ist für dich vorbei! Ich verlange, dass du mir ab sofort als meine Frau angehörst! Ab sofort!“ Er beendet seinen Befehl mit den knappen Worten: „Du hast keine Wahl!“

Ratlos sehe ich zu Königin Naomi. Sie steht aufrecht in diesem Schlosshof und spricht ganz leise: „Ich verweigere deinen Befehl, Zedon, auch wenn das meinen Tod bedeuten sollte. Niemals werde ich meinem Mann, dem König von Tandonay, untreu. Ich gehöre zu meiner Familie!“

Ruckartig schnellt ein Arm aus Zedons dunklem Umhang. Seine Faust richtet sich gegen die Gefangene. Kalt und erbarmungslos fallen jetzt seine Worte wie die Schläge eines Hammers auf Naomi nieder: „Der König von Tandonay ist tot! Dein Sohn ist für immer verschwunden!“

Die Königin zuckt kurz zusammen. Dann steht sie wieder, still und unbewegt, wie gelähmt. Woher nur nimmt sie die Kraft für ihren Stolz?

Ich spüre ein leichtes Streichen über meine Augen. Es ist Naomis Hand. Sie sitzt wieder neben mir auf der Sommerwiese, hebt den Zeigefinger an ihre Lippen und deutet zu Gerard. Er schläft noch immer. Dann flüstert sie mir zu: „Das war der Moment, als Zedon furchtbare Rache beschloss … Rache beschloss. Wenn er mich nicht haben konnte, so sollte ich Tandonay niemals wiedersehen … niemals wiedersehen. Ich erinnere mich nicht, wie es geschah, doch als ich wieder klarer denken konnte, war ich in eine dunkle Gestalt verwandelt … verwandelt und Zedon verbannte mich … verbannte mich in das schwarze Moor. So laut ich auch rufen würde, keiner könnte mir helfen … keiner mir helfen. Schlimmer noch, ich wäre für alle Zeit zur Einsamkeit verdammt … verdammt, denn ich würde das Moor niemals lebend verlassen können!“

„Du bist die …“ Jetzt begreife ich, wage es aber nicht auszusprechen.

„Ja, ich bin die undurchschaubare Düstere Königin des Moores … Königin des Moores!“

„Naomi, ich verstehe nicht, das Märchen der Düsteren Königin habe ich vor Kurzem meinen Enkelsöhnen erzählt und nun kommst du zu mir als … oder träume ich wieder?“

„Du träumst nicht! Deine Fantasie hat eine Brücke von euch Menschen auf dem Blauen Planeten zu uns in die Märchenwelt geschlagen … Brücke in die Märchenwelt. Als mir Zedon entgegenschrie, mein Mann, der König von Tandonay, sei tot und mein Kind verschwunden … verschwunden, als ich nicht wusste, ob jemand meinem Sohn in seiner Einsamkeit beistehen würde … Einsamkeit … war meine Qual am allergrößten … meine Qual … Da habe ich dich gehört, da habe ich dich gespürt. Versteh, du hast deinen Enkelsöhnen die Geschichte von meinem Sohn erzählt … von meinem Sohn … Nur deshalb ist es mir möglich, mit dir Verbindung aufzunehmen … nur deshalb. In deinem Märchen hast du ihm ein leuchtendes Schiff gegeben, mit dem er fliehen konnte … in deinem Märchen. Nun bin ich hier, um dich zu fragen: Hast du den Mut, uns zu helfen … den Mut … zu helfen?“

Ich überlege nicht einen Moment: „Ja, Naomi, ich werde alles tun, was mir möglich ist!“

Da fühle ich ihre Hand an meinem Arm. „Hier, nimm das … nimm das!“, spricht sie hastig. Sie will mir etwas geben, doch urplötzlich ist diese Berührung vorbei.

„Warum antwortest du mir denn nicht?“ Gerards Stimme klingt ungeduldig, ja scheint bereits etwas beleidigt.

„Ich habe dich nicht gehört, was hast du gefragt?“

Ich setze mich auf. Das Wesen neben mir ist verschwunden. Langsam streicht meine Hand über die Stelle meiner Decke, an der ich eben noch das weinende Geschöpf gespürt habe. Fantasiere ich jetzt oder … Das Gras ist nass! Das müssen die Tränen der Düsteren Königin sein …

„Ich habe dich gefragt, wann wir wieder zu Mika, Philipp und Jona fahren.“ „Du hast wohl schon wieder Lust auf deine wilden Enkelsöhne?“, lache ich.

Nun ist Gerard, den die Kleinen Gerard-Opi nennen, wieder einig mit mir. Er erhebt sich und legt die Decke zusammen, auf der wir gelegen haben. „Hier liegt eine Kette im Gras, ist das deine?“, fragt er mich. Dann geht er zum Auto.

Tatsächlich, dort liegt eine Kette! Sie sieht kostbar aus! Das kann doch kein Zufall sein … Naomi wollte mir etwas reichen, ehe sie verschwand. War es dieser Schmuck? Ich suche mit den Augen die Sommerwiese ab. Wo ist Naomi? Ich muss sie finden … Ich muss ihr helfen. Doch da ist keine Spur von ihr. Gerard ruft und so lege ich diese Kette schnell um meinen Hals und verschließe sie ganz fest.

Ob ich dieses seltsame Erlebnis meinen Enkelsöhnen erzählen soll? Werden sie sich nicht fürchten vor der Andeutung Naomis, dass ich mit unserer Geschichte ein Band zu ihr in die Märchenwelt geschlungen habe?

„Nein … Was habe ich nur für Gedanken!“ Ich bin mir jetzt sicher, dass ich – wie Gerard – eingeschlafen bin. Geträumt! Ja, kann nur so sein. Ich habe von meiner eigenen Geschichte geträumt.

Und die Kette, die im Gras lag?

Die hat jemand verloren, ich werde sie im Fundbüro abgeben. Das alles hat einen ganz normalen Hintergrund … Ach, ich habe einfach zu viel Fantasie! Nächste Woche bin ich wieder bei meinen Kleinen. Da kann ich meinen Traum ja gut als neustes Kapitel erzählen!

Hmm! Der Traum … Er geht mir nicht aus dem Kopf … Eine Kette im Gras?!

In den Tiefen des magischen Reiches

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