Читать книгу In den Tiefen des magischen Reiches - Hannelore Nissen - Страница 7

1. Kapitel

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Auf der unendlich weiten Wiese wurde es bereits dunkel. Trostlos und öde ragten hier und da abgestorbene Zweige aus gelbem, fauligem Gras. Hier blühten keine Blumen und hier sang auch kein Vogel. Bedrückend war die Stille, die noch nicht einmal vom heiseren Schrei irgendeiner dort lebenden Krähe durchbrochen wurde.

Aus dem fernen Wald flog gerade ein Schwarm Glühwürmchen herbei. Sie hatten es sich zur Aufgabe gemacht, mit ihren Laternen verirrte Wanderer zu warnen. Viel Unglück war hier schon geschehen. Und wieder erblickten sie einen jungen Mann, der durch die unheimliche Wiese stapfte. Mit jedem seiner Schritte sank er tiefer in den nassen, morastigen Boden. Hoch schwang er beide Arme, um überhaupt vorwärtszukommen, doch es war und blieb mühsam. Seine Kraft erlahmte mehr und mehr.

Das sahen die Glühwürmchen. Diesmal aber schien einiges anders zu sein. Dank ihrer sensiblen Gaben spürten sie sofort: In den Gesichtszügen dieses jungen Mannes zeigte sich nicht der Ausdruck von Habgier, den sie bei vielen anderen Abenteurern gesehen hatten. Er schien kein gewöhnlicher Mensch zu sein. Hoffnung erwachte in den Glühwürmchen: War er der Auserwählte, auf den sie so lange schon gewartet hatten?

„Junger Mann“, rief die älteste der kleinen Lichtgestalten, „kehre um … Sollen wir dir leuchten?“

Ein anderes Glühwürmchen warnte: „Du gehst hier einen sehr gefährlichen Weg, denn hier beginnt das dunkle Moor.“

Die piepsende Stimme des jüngsten schrie in großer Aufregung: „Es ist das unermesslich große Reich der undurchschaubaren Düsteren Königin.“

Und dann riefen alle durcheinander: „Dort droht dir Gefahr … Hör auf uns, Jüngling … Bleib sofort stehen … Kehr um!“

Da blieb der Junge stehen und sah sich verwundert um, woher wohl die zarten Stimmen kamen. Aber alles, was er in der beginnenden Finsternis noch erkennen konnte, war ödes Land. Kein blühender Strauch, kein grüner Baum. Auch der Himmel war in seiner Weite fahl und wie Asche so grau.

‚Wer war das?‘, wunderte er sich und wollte mühsam das vordere Bein zurückziehen, um etwas auszuruhen und sich umzusehen. Aber sogleich umfloss das Moor schmatzend und mit zähem Schleim den Stiefel, um den Jungen festzuhalten.

Wie konnte er denn wissen, dass ein Zauberspruch der wabernden, blubbernden Masse befohlen hatte, jeden Fremden einzuschließen. Niemand sollte das dunkle Reich betreten, ohne je wieder hinauszukönnen! Unbarmherzig hüllte ihn dann das Moor mit seinem Nebel ein, der den Eindringling trunken machte und ihn so verwirrte, dass er den Weg zurück nicht mehr finden konnte. Später zog die dunkle, zähe Masse an seinen Beinen. Sie blubberte Stolpersteine vor seine Füße, sodass der Wanderer stürzen musste und elend im Moor versank. Dann war er für immer gefangen.

„Wer ruft? Sind hier Menschen? Meldet euch! Ich habe mich verirrt, aber in der Ferne sehe ich Lichter – das sind bestimmt Häuser … Kommt ihr von dort?“ Die Stimme des jungen Mannes wurde immer lauter und zum Schluss schrie er die letzten Worte in seiner Not und Angst in das Dunkel.

Im Nu flogen die Glühwürmchen zu dem Jungen: „Nicht! Geh nicht weiter! Das sind Irrlichter, unsere armen Brüder. Sie werden im Moor gefangen gehalten“, wisperte der ganze Schwarm aufgeregt und beschwörend durcheinander. Dann bildeten sie mit ihren leuchtenden Körpern einen Kreis um ein Etwas, das der Jüngling noch nicht genau erkennen konnte.

Die kleinen Lichtgestalten begannen auf einen schon halb verwitterten, großen Ast hinzudeuten. Man konnte sich jetzt noch vorstellen, dass er vor vielen hundert Jahren mit seinen grünen Blättern einst einen stolzen Baum geschmückt hatte. Lange war dieser Riese schon gefallen und von der schwarzen Masse des Moores geschluckt worden. Nur dieser kahle Ast ragte noch bizarr, aber stark und eigensinnig in die Höhe.

Aufgeregt hielt der ganze Schwarm in seinem unruhigen Flug inne und wartete. Wenn dieser junge Mann der Auserwählte sein sollte, so musste jetzt etwas geschehen.

Tatsächlich! In dem Augenblick, als der Jüngling im Lichte der Glühwürmchen den rettenden Ast erblickte und schnell ergriff, erwachte auf geheimnisvolle, wundersame Weise das tote Holz plötzlich zu neuem Leben. Der junge Fremde fühlte in seiner Hand das Erstarken des modrig-schwammig gewordenen Holzes. Es formte sich zu schlanker Höhe und zusehends glättete sich auch seine Außenhaut. Sie begann im matten Abendlicht silbern zu strahlen. Zum Erstaunen aller bildete sich am oberen Ende des Stabes langsam eine gläserne Kugel. Alle schauten fasziniert zu, wie sie plötzlich in wechselnden Farben zu leuchten anfing.

In diesem Moment schrien die Glühwürmchen auf. Dann hörte man wieder die aufgeregte Stimme des kleinsten: „Sieh doch, Omi, er hat den toten Ast zum Leben erweckt!“

Seine Großmutter flog, wie immer, dicht neben ihm. Jetzt nickte sie ihm zu und rief glücklich: „Endlich! Er ist gekommen … Ja, er muss es sein!“ Sie wandte sich auch an die anderen: „Wir haben so lange gewartet … Jetzt ist er da – der Retter der Märchenwelt!“

Daraufhin schrien und lachten sie alle durcheinander. Das war ein Sirren von vielen zarten Stimmchen.

Indessen klammerte sich der Jüngling an seinen festen Halt und ließ nicht nach, ihn zu umschlingen. Zu groß war seine Angst, vom Moor verschluckt zu werden.

Plötzlich begann sich der Stock zu erheben und schließlich zu schweben. Und so zog die Kraft dieses mächtigen Stabes den jungen Mann aus dem gefährlich glucksenden Moor heraus.

Spätestens jetzt musste jeder Beobachter begriffen haben, dass dieser scheinbar tote Ast Zauberkraft besaß. Nun konnte sie endlich zu wirken beginnen, denn ein Auserwählter hatte ihn mit seinen Händen berührt.

Ein besonders großes Glühwürmchen kreiste um den Jungen. „Was führt dich hier an diesen gefährlichen Ort?“, fragte es, offensichtlich noch ganz überrascht von dem Geschehenen, und bremste kurz vor ihm seinen Flug.

Ein anderes rief: „Wer bist du?“

Ohne eine Antwort abzuwarten, wollte ein weiteres wissen: „Wie kommst du hierher?“

Danach riefen alle Glühwürmchen ihre Fragen und Vermutungen durcheinander. Sie hatten schon manchen Fremden tollkühn das nasse Gras, das spärlich am Rande des Moores wuchs, durchschreiten sehen. Sie alle hatten den sagenhaften Schatz der Düsteren Königin erobern wollen, von dem man sich erzählte. Aus Habgier hatten sie die undurchschaubaren Gefahren im Reiche der Königin herausgefordert und waren nie wieder in ihre Heimat zurückgekehrt.

Der Junge fiel erschöpft auf das Gras nieder. Behutsam bettete er den Stab neben sich. „Ich bin Tahomo, der Prinz von Tandonay, und suche nach Salmidon, dem Weisen. Wahrscheinlich bin ich vom Weg abgekommen“, erklärte der Jüngling den Glühwürmchen. „Ich danke euch! Ohne eure Hilfe wäre ich wohl verloren!“ Und dann erzählte er ihnen voller Vertrauen seine traurige Geschichte.

Inzwischen war es vollends dunkel geworden. Über dem schaurigen Moor schwebte ein schillernd flackerndes Licht. Es war einem Wetterleuchten ähnlich. Leise Stimmen flüsterten hier und dort und verstummten wieder – auch hörte man vereinzelt sehnsuchtsvolle Klagelaute. Dann herrschte wieder bleierne Stille. Nur, wer genau hinhörte, nahm jetzt ein leises Singen wahr.

Das zuckende Wetterleuchten und der Gesang wurden stärker. Die Klänge schwollen an. Sie waren von magischer Anziehungskraft. Tahomo schaute sich suchend um. Eine starke Sehnsucht überfiel ihn und begann alle Sinne des jungen Prinzen zu verwirren. Als ob er die Warnung seiner neuen Freunde nicht gehört hätte, erhob er sich plötzlich wie im Wahn. Schwankend schritt er wieder auf das gefährliche schwarze Moor zu; er konnte nicht anders, so sehr lockte ihn der betörende Klang dieser Stimmen. Die Glühwürmchen jammerten und warnten eindringlich, doch der Junge hörte sie nicht.

Da flammte das Licht über dem Moor wie ein Strahlenkranz auf. Schemenhaft formte sich aus ihm die unheimliche Gestalt der undurchschaubaren Düsteren Königin. Tahomo blieb stehen. Er war von der Anziehungskraft dieser schwebenden, zarten und elfengleich anmutenden Frauengestalt fasziniert. Ein dunkelblaues Schleierkleid umfloss ihren Körper. Der Saum wehte in Fetzen über das unruhige Moor. Wassertröpfchen funkelten wie Sterne auf dem tanzenden Gewand, und wenn sie herunterfielen, so stürzten sie mit einem silbernen Klang, „ping“, wie Sternschnuppen so hell in das schwarze Moor und verschwanden auf immer. Auf dem Haupt der Düsteren Königin strahlte ein Diadem in kalten Regenbogenfarben. Die langen Haare ringelten sich wie schwarze Schlangen in lebendigem Auf und Ab um ihr bleiches Gesicht.

Nun begannen sich ihre Arme in einem weiten Halbkreis zu bewegen, so als winkte sie den Jungen zu sich. Plötzlich wand sich auch ihr Körper in schlängelnden Bewegungen. Ihr ganzer Leib nahm mehr und mehr die Gestalt einer riesigen Schlange an.

Tahomo sah nur den eigentümlich schmerzlichen Ausdruck ihres lieblichen Gesichts. Ihm schien, als kenne er es. Wo hatte er diese Augen schon einmal gesehen? Sie waren ihm so vertraut. Mit lockendem Gesang kam sie näher, immer näher. Gerade wollte sie den gebannten Jüngling umschlingen; doch in seinem Inneren spürte Tahomo plötzlich glühend die Gefahr: Ich muss wach werden, jagten die Gedanken durch seinen Kopf. Hastig atmete er tief ein, als ob er sich von Fesseln befreien wollte. Da löste sich ein lauter Schrei aus seiner Kehle: „Salmidooooon!“

Dann geschah etwas Unglaubliches: Der geheimnisvolle Zauberast erhob sich langsam aus dem Gras. Sirrend rotierte er um sich selbst und flog dem Prinzen hinterher. Sein schnelles Kreiseln nahm zu. Bald konnte man keine klaren Umrisse mehr erkennen. Er wuchs, wurde größer und größer. Dann zerfloss er breit und verwandelte sich zu einem leuchtenden Schiffskörper.

Der völlig verwirrte Prinz stand wie gelähmt. Er sah staunend, wie der vordere Teil des Schiffes in die Höhe schwebte, sodass er in das Innere schauen konnte. Dort stand reglos eine hohe Gestalt. Sie schien aus mehr oder minder dichten, dunkelgrauen Rauchschwaden zu bestehen und war nur schemenhaft zu erkennen. Mit heiserem Flüstern lockte sie: „Komm zu miiir!“ Die durchsichtige Gestalt öffnete weit ihre Arme und wie durch einen starken Sog zog es den Jungen in das große, strahlende Boot hinein. Danach zerfloss dieses Wesen und löste sich langsam in Luft auf. Hinter Tahomo schloss sich der Bug.

Das Schiff hob ab und flog mit dem Prinzen himmelwärts, weit weg von dem blubbernden und wuchernden Schleim des Moores, auf dem sich jetzt eine große, schillernde Schlange wand. Da bäumte sie sich nochmals auf, setzte zu einem Sprung an, um das strahlende Luftschiff vielleicht noch zu erhaschen. Doch schwebte dies bereits weit über den lichten Wolken der wärmenden Sonne entgegen. Die silberne Schlange aber stieß einen verwunderlich klagenden Seufzer aus und sank in sich zusammen.

„Er sucht Salmidon, den Herrscher des Magischen Reiches“, riefen einige Glühwürmchen dem Gefährt nach.

Andere schrien: „Hilf ihm und behüte seinen Weg.“

Damit entschwand Tahomo den Blicken seiner kleinen Freunde.

„Mehr wird heute und hier nicht verraten“, ende ich mein erstes Kapitel.

Im Kinderzimmer liegen meine Enkelsöhne auf dem Lümmelsack in meinen Armen, als ich die Geschichte vorlese. Sie haben sich angekuschelt und sind ganz still. Nur manchmal wackelt mein Manuskript, wenn ein Beinchen sich strecken muss.

„Mehr von den Abenteuern Prinz Tahomos erfahrt ihr das nächste Mal, wenn ich wieder zu euch komme!“, schließe ich die Geschichte ab.

„Noch mal lesen, Omama!“ Mika schaut lächelnd in meine Augen. Beide sind sich einig und ich bin sehr zufrieden. Offensichtlich hat ihnen mein Märchen bis jetzt gefallen.

In den Tiefen des magischen Reiches

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