Читать книгу In den Tiefen des magischen Reiches - Hannelore Nissen - Страница 12

6. Kapitel

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Lange hat mich mein Traum von der gefangenen Königin Naomi beschäftigt. Ich entschließe mich, all das aufzuschreiben, um es meinen Enkelsöhnen wieder erzählen zu können. Als ich in meinem großen Sessel sitze und den Laptop auf die Knie nehme, spüre ich, dass Märchengestalten um mich sind. Anscheinend voller Vertrauen kommen sie nach und nach zu mir. Es ist, als ob in meinen Gedanken ein abenteuerlicher Film abläuft. Ich schreibe und schreibe alles, was geschieht.

Nachdem sie das Meer hinter sich gelassen hatten, flog das leuchtende Boot mit Tahomo weiter und weiter in die höchsten Höhen eines Hochgebirges. Vorn, am Bug des Schiffes, blickte die bunte Galionsfigur aufmerksam in die Ferne.

Tahomo schrie gegen den Fahrtwind an: „Sag mir: Was war das für eine gefährliche Welle, als wir noch über dem Meer flogen? Sie hat uns fast zerschmettert! Ein Glück, dass wir so nah am Land waren!“

Sofort sprudelte das singende Band kreiselnd in die Lüfte. „Du hast einen bösartigen Feind“, sang diese Schrift. „Er versucht, dich zu verderben, denn du bist die größte Gefahr für ihn.“

„Wer ist dieser Feind?“

„Er nennt sich Zedon, der große Zauberer. Immer wieder wird er versuchen, dir zu schaden! Sei achtsam, Prinz von Tandonay!“

„Was kann ich gegen einen Zauberer ausrichten? Sag es mir, wenn du eingeweiht bist, mein liebes Boot!“

„Du hast einen großen Beschützer! So viel darf ich dir verraten. Und auch das Wichtigste: Es gibt in einer anderen Welt, auf dem Blauen Planeten, Freunde für dich, die dir helfen werden. Du kennst sie nur noch nicht!“

„Freunde …“, wiederholte Tahomo leise. Aber wo waren die? Seine Lage schien ausweglos und er fühlte sich einsam, obwohl ihm das singende Band soeben noch Mut zugesprochen hatte.

Da … ein fauchendes Rauschen von starken Schwingen. Hoch über sich sah der Junge einen großen, schwarzen Raubvogel auf sich zufliegen. Er erschrak vor den scharf blickenden Augen des Tieres, die ihn wie erstarrtes, kaltes Glas anstierten. Diese Augen hatten ihr lebendiges Ziel längst entdeckt. Sie hielten ihr Opfer im Flug sicher im Visier.

Der Prinz duckte sich instinktiv. Jetzt bremste das gewaltige Tier über Tahomo ab und streckte seine scharfen Krallen nach ihm aus. Der Vogel packte ihn und schwang sich kreischend im Sturzflug steil abwärts, sodass das Luftschiff unmöglich folgen konnte. Der Prinz wehrte sich mit all seiner Kraft gegen die schmerzhafte Umklammerung, doch hatte er keine Chance.

Erst als der mächtige Vogel über seinem Horst schwebte, lockerte er seinen festen Griff und ließ den Jungen in das große Nest fallen. Der sah sich schnell um. Das Geflecht war mit groben Ästen zusammengehalten. Neben ein paar Federn und alten Resten von Fleisch, die wahrscheinlich noch vom letzten Raubzug übrig waren, war er hier allein.

Der große Vogel schwang sich bereits wieder durch die Lüfte. Der junge Prinz wusste nur zu gut, dass er ein Abgesandter des großen Zauberers, seines Feindes, war. Wahrscheinlich flog der Raubvogel zu ihm, um eifrig zu berichten, dass er den Verfolgten endlich gefangen habe.

Er kletterte, so schnell er konnte, aus dem Horst. Es war ihm vollkommen egal, dass er sich auf den schmalen Gebirgsgraten in Gefahr brachte, und auch, dass die groben, spitzen Äste des Horstes seine Haut zerkratzten. Wenn er fliehen konnte, so musste das sofort geschehen. Schnell und behände setzte der Junge seine Füße auf Felsvorsprünge. Sie boten ihm Halt für seinen steilen Abstieg aus dieser gefährlichen Umgebung.

Oh, wäre er nur etwas vorsichtiger gewesen. Plötzlich kamen die Füße des Prinzen ins Rutschen. Mit der Last seines gesamten Körpers fiel er ungebremst auf einen Teppich scharfkantiger Steine. Durch die Wucht des Aufpralls aber geriet diese Masse in Bewegung und entwickelte sich unglücklicherweise zu einer Geröll-Mure. Auf ihr glitt er unaufhaltsam und schnell talwärts. Tahomo überschlug sich und stieß gegen scharfe Gegenstände, doch sein schwindendes Bewusstsein konnte bereits nichts mehr wahrnehmen. Er verlor die Besinnung.

„Bist du endlich gekommen, mein lieber Freund …“

Der immer noch benommene Junge spürte eine kleine, raue Hand, die seine Stirn, dann seinen Kopf zärtlich streichelte. Nein, das war nicht die ersehnte, weiche Hand seiner Mutter und es war auch nicht ihre Stimme.

„Endlich habe ich die Möglichkeit, dir in deinen Qualen zu helfen.“ Wieder dieses raue, liebevolle Streicheln.

Der Prinz schlug die Augen auf und blickte in das Gesicht eines kleinen, hutzeligen Männleins. Was ihm sofort auffiel, war, dass dieses Männlein ein rotes und ein grünes Auge hatte; doch diese sahen ihn voller Güte an. Tahomos Vater hatte ihn gelehrt, den Ausdruck von Augen zu deuten, und so fasste der Prinz sofort Vertrauen in dieses kleine Wesen.

Vor ihm stand ein Geschöpf mit breitem Buckel. Eigenartig, wie er mit Arm und Hand eine kleine Tasche sorgsam, ja fast ängstlich an seinen Oberkörper drückte. Die andere Hand streichelte den Prinzen noch immer. Das Männlein hatte duftende Kräuter auf die vielen Wunden seines Körpers gelegt. Sie bewirkten, dass Tahomo keinerlei Schmerzen spürte; mehr noch, seine Wunden heilten zusehends.

„Komm, stütz dich auf mich, ich trage dich in mein Haus. Dort kann dich der schwarze Raubvogel nicht finden“, sprach das Männlein und zog den Körper des Jungen vorsichtig auf seinen Buckel.

Als sich der kleine Kerl erhob, um seine junge Last wegzutragen, erblickte Tahomo die roten Strümpfe und die verschiedenen Schuhe an den Füßen. Wo hatte er sie schon gesehen? Die kurzen, aber viel zu weiten Hosen des hutzeligen Männleins waren ihm von irgendwoher bekannt …

Ächzend trug sein Helfer ihn über Gebirgspfade hinweg, bis sie nach einiger Zeit des Dahinstolperns zu einer seltsam windschiefen Hütte kamen. „Dort steht mein Zuhause!“, erklärte ihm sein neuer Freund.

In diesem Moment erkannte der Prinz seinen Retter. Ja, jetzt fiel es ihm ein: Er war dem kleinen Wesen bereits begegnet. Es hatte sich tief vor ihm verbeugt, als Tahomo mit dem leuchtenden Boot über ihn hinweggeflogen war.

„Woher kennst du mich?“, fragte er ihn.

„Salmidon, der Weise im Magischen Reich, hat dich mir angekündigt. Ich soll dir auf deinem Weg eine bestimmte Hilfe geben.“

„Salmidon, du kennst Salmidon … Ich bin auf der Suche nach ihm, denn nur er kennt die Lösung meines Problems. Man sagt, er sei ein Weiser.“

„Nein, Tahomo, die Lösung deines Problems musst du ganz allein finden. Der Weise im Magischen Reich hat für dich eine große Aufgabe. Dein Vater hat dich bereits vieles gelehrt. Finde deine eigenen Wege, so wirst du auch deine Mutter erlösen können, denn sie lebt! Zedon, ein bösartiger Zauberer, hat sie entführt und verbannt. Hab nur Mut!“

Tahomo hörte ruhig an, was der Freund ihm zu sagen hatte. Als das Männlein aber auf seine Mutter zu sprechen kam, schrie er aufgeregt: „Wie soll ich gegen die Kraft dieses großen Zauberers ankommen? Zedon hat tausendmal mehr Möglichkeiten, mich zu treffen. Ich nehme an, dass er es war, der den mächtigen Raubvogel nach mir sandte!“

„Sei ganz ruhig und hab Vertrauen. Salmidon hat dich ganz bewusst auserwählt. Es gibt einen gefährlichen Kampf zwischen ihm und dem Zauberer. Zedon ist von Machtgier zerfressen! Er hat vor, mit Gewalt mehr und mehr Macht über die Märchenwesen zu bekommen, um sie zu seinen Untertanen zu machen. Gelingt ihm das, so wird das Böse den Charakter aller Geschöpfe vergiften. Du sollst zum Retter der Märchenwelt werden.“

„Wie aber soll ich den Weg in das Magische Reich zu Salmidon finden? Schon einmal wäre ich fast im Moor versunken, wenn nicht Glühwürmchen mich gerettet hätten.“

„Diese Glühwürmchen waren Märchenwesen. Alle Geschöpfe des Märchenreichs werden versuchen, dir immer zur Seite zu stehen, denn sie wissen von der Bedrohung durch Zedon. Ihre Kraft aber ist begrenzt!“

Das Männlein zögerte einen Augenblick, als ob es nicht genau wisse, ob es richtig sei oder nicht. Sollte es nun? Dann hatte sich das kleine Wesen offensichtlich entschlossen, sein größtes Geheimnis preiszugeben. Mit ernster Miene nahm es die kleine Tasche, die seine Hände keinen Augenblick losgelassen hatten, und öffnete sie.

„Komm her, ganz nah zu mir!“, flüsterte es. Seine hutzeligen Hände zogen einen Spiegel aus der kleinen Tasche. Der war zunächst vollkommen unscheinbar. Er steckte in einem blinden Goldrahmen, doch leuchtete ein geheimnisvolles, schwaches Licht aus ihm. Überraschend flammte es in der Hand des Männleins plötzlich heller und wurde immer gleißender. Da sprach das Männlein hastig zu ihm: „Sieh auf die Spiegelfläche, Tahomo!“

Der Prinz nahm zunächst alles verschwommen wahr. Dann erkannten seine Augen klar und deutlich zwei größere Jungs. Sie mochten ungefähr sechs oder sieben Jahre alt sein; einer mit blonden Haaren, der andere mit braunen Locken. Beide lagen gemütlich auf einem schwarzen Lümmelsack an eine Frau gekuschelt. Sie las ihnen gerade ein Märchen vor. Wie man hörte, ging es hier um Feen und Kobolde.

„Ich schenke euch den Schatz der Fantasie“, sprach sie zärtlich zu ihnen.

„Omama“, antwortete der Junge mit den schwarzen Locken, „ich habe in deinem Garten einmal einen Kobold erkannt. Er saß unter der Wurzelhöhle der großen Tanne und sah genauso aus, wie du ihn beschrieben hast!“

Omama lächelte in seine dunklen Augen.

„Und ich hab von Titania geträumt“, flüsterte der Junge mit den blonden Haaren leise. „Sie sieht aus wie du, Omama!“

Einen Moment lang lächelte die Großmutter still. Dann lachte sie: „Soll ich dich auch in einen Esel verwandeln, Philipp?“ Ihre Hand machte komische, kreisende Bewegungen über dem Enkelsohn. Der quietschte und zog ein Kissen über sich. „Wollen wir noch ein Kapitel lesen, meine Kleinen?“

„Logo und klaro!“ Sie waren begeistert und die Großmutter breitete ihre Arme aus. Da kuschelten sich die Enkelsöhne hinein. In ihrer Fantasie flogen sie über die Schluchten des Schwarzwaldes und begannen die Märchenwesen zu sehen, die dort lebten. Bald würde auch ihr kleinster Bruder, Jona, so weit sein, zuhören zu können.

Tahomo sah die drei in dem Spiegel nun immer verschwommener. Dann verlosch das Bild vollends. Leise sprach er vor sich hin: „Sie nannte die kleinen Jungen Philipp und Mika. Wer sind sie?“, fragte er das Männlein.

„Sie werden deine Freunde sein. Mehr darüber wird dir Salmidon, der Weise im Magischen Reich, sagen, doch nun musst du schlafen, Tahomo. Komm, wir gehen ins Haus!“

In den Tiefen des magischen Reiches

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