Читать книгу Zeit des Zweifels - Hannelore Veit - Страница 12
Ignorierte Warnungen
ОглавлениеDer Schamane, mit bürgerlichem Namen Jake Angeli, ist kein Unbekannter. Als Anhänger der rechtsextremen Verschwörungstheoretikergruppe Q-Anon ist er schon Monate zuvor bei rechtsnationalen Protesten zu beobachten gewesen. Mein Kollege David Kriegleder traf ihn im Sommer 2020 in Phoenix in Arizona am Rande eines genau solchen Protestes, gekleidet war Angeli auch damals im Schamanen-Outfit. Bereitwillig ließ er sich interviewen – und gab krause Theorien von sich: „Q-Anon ist eine weltweite Bewegung“, fantasierte er, „gerichtet gegen die Verschwörer, die überall ihre unterirdischen Stützpunkte haben, um Menschen zu klonen und damit die Weltherrschaft an sich zu reißen. Trump ist der Good Cop, der mehr Hintergrundwissen hat als andere Präsidenten vor ihm, er ist der Whistleblower, der die Welt aufklärt über Dinge, die wir alle nicht wahrnehmen.“ Donald Trump als der Befreier, der die Welt vor der Machtergreifung durch den „Deep State“, den Staat im Staat, schützt. Unwissenheit paart sich hier mit Dummheit. Verschwörungstheorien dieser Art sind en vogue geworden.
Der Mob war eine Mischung von Q-Anon-Anhängern, rechtsextremen Gruppen wie den Proud Boys, bewaffneten Anti-Regierungsmilizen wie den Oath Keepers und überzeugten Trump-Anhängern, die sich vom Sog der Ereignisse mitreißen ließen. Die Nation war geschockt, und doch: Ganz so unvorhersehbar war der Sturm auf das Kapitol nicht. Das bestätigt fünf Monate später ein – ausnahmsweise von beiden Parteien, Demokraten und Republikanern, verabschiedeter – Senatsbericht: Die Geheimdienste hatten schon Wochen zuvor gewarnt, dass ein bewaffneter Sturm auf das Kapitol in Vorbereitung sei. Enorme Fehler passierten. Kritische Informationen über die Bedrohung wurden nicht weitergegeben, weder die Bundespolizei FBI noch das Heimatschutzministerium hatten gewarnt, obwohl es im Internet Aufrufe zur Gewalt gab. Gut möglich, dass einige dieser Fehler nicht ganz unabsichtlich passierten, dass die Kapitolstürmer Sympathisanten in staatlichen Institutionen hatten.
Für Donald Trump selbst hatte der Sturm auf das Kapitol unmittelbare Folgen: Er musste sich noch einmal einem Amtsenthebungsverfahren stellen, als erster Präsident in der Geschichte der USA wurde er zwei Mal impeached. Wegen des Vorwurfs der Anstiftung zum Aufruhr leitete das Repräsentantenhaus dieses zweite Verfahren ein. Über die Bühne ging es, als Trump längst nicht mehr Präsident war, durchgezogen wurde es von den Demokraten mit dem Hintergedanken, Donald Trump die Möglichkeit zu nehmen, noch einmal zur Präsidentenwahl anzutreten. Die Entscheidung über ein Impeachment fällt aber nicht im Repräsentantenhaus, sie fällt im Senat. Einige wenige republikanische Senatoren stimmten im Februar 2021 mit den Demokraten, doch die notwendige Zweidrittelmehrheit kam nicht zustande. Der 45. Präsident der Vereinigten Staaten wurde zum zweiten Mal in einem Impeachment-Verfahren freigesprochen.
In der Stadt Washington hinterließ der Sturm auf das Kapitol Spuren. Im März 2021 flog ich noch einmal nach Washington, um mir selbst ein Bild zu machen: Das Weiße Haus verbarrikadiert zu sehen, das war ich nach dem Tumultsommer 2020 gewöhnt, jetzt war auch das Kapitol verbarrikadiert. Betonblöcke und Zäune schirmten es ab, immer noch, mehr als zwei Monate später, waren Straßen gesperrt, nahe ans Kapitol heranzukommen war unmöglich. Unübersehbar, dass sich dieses Land verändert hatte. Unübersehbar, dass hier ein Angriff auf die Wahrzeichen der Demokratie, auf die Demokratie selbst stattgefunden hatte.