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Die letzten Dinge regeln – 1999

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Das Sterbezimmer. Ein schmuckloser Raum, ganz am Ende des langen Flurs. Dort, wo sonst keiner mehr hinkommt. Ein Kreuz an der Wand. Eine flackernde Kerze. Die tote Anna liegt im Bett auf blütenweißen Kissen. Ihr ausgemergeltes Gesicht wird von einem lila Kinnband zusammengehalten. Rosa Bäckchen, geschminkte Lippen, violetter Lidschatten. So, wie sie im Leben noch nicht einmal zur Weiberfasnacht gegangen wäre.

Neben dem Bett: Annas fünf erwachsene Kinder und ein Schwiegersohn auf zwei akkurat angeordneten Stuhlreihen. Zwei hinten, vier vorn. erlegenes Schweigen. Hin und wieder ein Hüsteln. Hinten links Bernhard, 56, der Älteste, Journalist beim Fernsehen. Graues Haar, am Hinterkopf schon etwas schütter, gepflegter Kinnbart, Bauchansatz. Ein Handy schnurrt. Neben ihm greift Gret-Lisbeth in die Handtasche und stellt es stumm. Ein kurzer Blickwechsel. Die spöttischen Augen hinter der Hornbrille lassen Bernhard manchmal arrogant erscheinen. Seine Schwester zuckt mit den Schultern. Sorry. Trotz ihrer 52 immer noch eine tolle Frau. Promoviert, Chefberaterin bei dieser Heuschrecken-Firma. Aber immer tipp-top im Auftreten. Burschikoser Kurzhaarschnitt, Hosenanzug, energisches Kinn.

In der Reihe vor ihm herrscht Betroffenheit. Agnes, 55, die zweitälteste, wischt sich mit einem umhäkelten Taschentuch eine Träne aus dem Augenwinkel. Aschblondes Haar, streng geknotet, grauer Rock, rosa Bluse, mager, ein bitterer Zug um den Mund. Beruf: Hausfrau und rechte Hand im Büro ihres Mannes. Der sitzt daneben: Franz, eins neunzig groß, zerknitterter Anzug, keine Regung im bulliges Gesicht. Als vereidigter Gutachter hat man jeden Anschein von Persönlichem zu vermeiden. Früher nannte Agnes ihn Möpsli. Als sie noch verliebt war. Bei den Geschwistern heißt er immer noch so. Neben Agnes: Brigit, genannt Bigi, Mode-Designerin, 55. Teure Kurzhaarfrisur, grüner Minirock, sehr rote Pumps, hautenger, gelber Kaschmirpulli. Ein etwas gewagtes Outfit für eine Totenwache. Aber wahrscheinlich ist sie direkt vom Atelier gekommen. Aufseufzend lässt sie den Kopf in die Hände sinken. Aufseufzend. Bernhard versucht, nicht unfair zu werden. Wahrscheinlich trauert sie ja wirklich hinter ihrer dunklen Ray-Ban-Sonnenbrille. Seit er es abgelehnt hat, ihre Kindermodenschau ins Fernsehen zu bringen, hat sie jeden Kontakt zu ihm abgebrochen. Ihr Mann ist Arthur La Roche. Der von der Bierbrauerdynastie. Wie meistens, wenn’s um Familiäres geht, ist Arthur verhindert.

Der letzte Stuhl in der ersten Reihe ist leer. Frater Ursus, ein Mönch, steht am Fenster und betet. Aufgeschwemmtes Gesicht vom Cortison, das er gegen sein Rheuma nimmt und ziemlich viel Volumen in der Kutte. Ob er Anna zuliebe mit 40 noch ins Kloster ging? Als Koch war er damals am Ende, sein Lokal bankrott. Doch dann köchelte er die „Pilgerstube“ des Klosters Meggenfurt zu einem gut besuchten Gourmet-Lokal hoch. Der Segen von Annas endlich erfülltem Gelübde ruhte auf ihm.

Bernhard betrachtet die tote Mutter. Ein Holzkreuz in den knotigen Händen. Hände, mit denen sie ein Leben lang für andere geschuftet und gegen die Schicksalsschläge ihres unbarmherzigen Gottes angebetet hatte. Hände, von denen man oft nicht wusste, warum sie zuschlugen. Manchmal spontan, manchmal als Ritual, wie auf dem mittelalterlichen Richtplatz. Die Geschwister als schaulustiges Volk, schwankend zwischen Entsetzen und Schadenfreude, wenn der Teppichklopfer auf den nackten Hintern niederfuhr. „Ein böses Kind schlagen zu müssen, tut der Mutter mehr weh als dem Kind“, sprach Anna mit roten Wangen und flackernden Augen, wenn sich der Delinquent schreiend am Boden wälzte, und dann wurde gebetet. Dabei hatte sie ihre Kinder geliebt. Die einen mehr, die anderen weniger, je nachdem, wie schwer sie es ihr und Johnny machten. Am größten war die Liebe, wenn das Kind in ihrem Bauch strampelte oder nuckelnd an ihren Brüsten lag.

Ob Anna jetzt im Himmel ist? Oder wenigstens im Fegefeuer? In ihrem erloschenen Gesicht keine Antwort, nur fromme Strenge. Wie bei den gotischen Figuren über dem Portal der Pfarrkirche.

Ein leises Klopfen an der Tür. Frau Füglister, die Pflegeleiterin, schleicht in den Raum, gefolgt von einem schwarz gewandeten Bestatter. Ihr Dutt und die Stahlbrille erinnern Bernhard an seine längst verstorbene Oma. Dabei ist sie wahrscheinlich noch keine fünfzig. Sie beugt sich flüsternd zu Gret-Lisbeth. Die schaut in die Runde. Bernhard nickt. Die Pflegeleiterin löst die Bremsen des Bettes, der Bestatter packt mit an. Sie wollen die Tote aus dem Zimmer schieben. Bigi springt auf, wirft sich dramatisch auf das Bett, küsst laut schluchzend Annas bleiches Gesicht. Peinlich berührt zischt Bernhard: „Bigi! Bitte!“ Empörte Blick von Agnes, die ihre Schwester sanft von der Toten wegzieht, assistiert von Franz. Verunsichert sieht die Pflegeleiterin wieder zu Gret-Lisbeth. Ein dezentes, aber energisches Handzeichen. Quietschend entfernt sich das Bett im Flur.

Ein Augenblick der Ratlosigkeit. Bigi ordnet die verrutschte Sonnenbrille und die Frisur. Gret-Lisbeth steht auf. Die andern folgen, Bigi gestützt von Agnes und ihrem Franz. Bernhard hinkend als letzter.

***

Während im Keller der „Trauerhilfe „In Aeternum“ Anna für die Aufbahrung vorbereitet wird, sitzen die Hinterbliebenen gegenüber im Tea-Room Denzler vor frischem Gebäck. Betretenes Schweigen. Keiner isst. Bigi schluchzt leise. Agnes legt die Hand auf ihren Unterarm. „Gott sei Dank, dass sie nicht länger hat leiden müssen.“ „Und mit den letzten Tröstungen der Kirche hat gehen dürfen“, ergänzt Urs, der sich allein an die leere obere Hälfte des Tisches gesetzt hat. „So oder so. Einmal trifft es jeden“, beendet Franz das Thema und nimmt von der Serviererin seinen Kuchen entgegen.

Gret-Lisbeths Handy schnurrt schon wieder. Diesmal eine SMS. Sie beginnt zu tippen. Bernhard greift zur Gabel und nimmt seine Apfeltasche in Angriff. Schweigend folgen die andern seinem Beispiel.

„Früher hat es hier eine ganz passable Aprikosenwähe gegeben, heute ist alles Fabrikware“, bemerkt Franz mit vollem Mund.

Agnes nickt. Bernhard mustert die beiden amüsiert.

„Lang her, seit man euch das letzte Mal gesehen hat.“

„So lang auch wieder nicht“, mampft Franz. „Bei Papis Beerdigung.“

Bigi nickt: „Früher hat man sich noch bei den Hochzeiten gesehen. Inzwischen nur noch bei den Todesfällen“.

Franz stopft sich die nächste Ladung in den Mund.

„Klar. Wenn man zu den Hochzeiten nicht mehr eingeladen wird.“ Er fixiert Bernhard. „Wie oft warst du jetzt eigentlich schon unter der Haube?“

„Nicht jeder findet auf Anhieb die Richtige, so wie du.“

Agnes blickt mit einem vergrämten Seitenblick zum Gatten, dann zu Bernhard.

„So einfach ist es auch wieder nicht…“

Gret-Lisbeth lacht. Franz wird ärgerlich.

„Lach nur, wenn andere ihre Ehe noch ernst nehmen.“

„Ihr habt euch wirklich etwas rargemacht, in den letzten Jahren, Agnes“, bemerkt Bigi mit leichtem Vorwurf.

„Nach all dem, was passiert ist…“, seufzt Agnes.

„Was ist passiert?“ „Ach… reden wir von etwas Anderem…“

„Ich weiß, was du meinst, Agnes. Aber du bist nicht die einzige!“

Franz schüttelt den Kopf: „Scho falsch, Bigi! Von euch hat inzwischen jeder seine Schäfchen im Trockenen. Agnes hingegen ist immer zu kurz gekommen.“

Bigi sieht ihn erstaunt an.

„Wie meinst du das jetzt?“

Amüsiert lässt Gret-Lisbeth das Handy sinken.

„Redet er vom Geld oder von der Liebe?“

„Von beidem!“, fährt Franz Gret-Lisbeth an.

„Agnes hat immer den Kürzeren gezogen.“

„Und ich? Was ist mit mir?“, kräht Bigi.

Genervt zückt Bernhard seinen Terminkalender.

„Kommen wir bitte zur Sache. Wer übernimmt die Traueranzeigen? Wer den Pfarrer?“

„Moment mal!“, fährt Agnes hoch. „Du und Gret-Lisbeth durftet studieren. Ich musste ins Büro!“

Gret-Lisbeth klappt ihr Handy zu.

„Agnes! Das Studium haben wir uns schon selbst finanzieren müssen.“

Bigi lacht künstlich auf: „Selbst? Das habe ich aber anders in Erinnerung!“

Gret-Lisbeth greift ebenfalls zum Terminkalender.

„Vielleicht täuscht sie dich wieder einmal, deine Erinnerung. Aber reden wir jetzt bitte über die Beerdigung, ich muss weg.“

Bigi lässt sich nicht bremsen.

„Bei mir dasselbe in grün, Agnes! Ich musste als Stift zum Schneider Ulmer, obwohl die Lehrer sagten, für mich käme nur ein Designerstudium in Frage. Und wisst ihr warum! Weil Agnes und ich immer brav das gemacht haben, was Papi wollte. Wir waren ständig die Dummen …“

Bernhard verdreht die Augen.

„Wenn du das so siehst…“

„Genau so war es!“

Gret-Lisbeth platzt der Kragen: „Notorisch zu kurz gekommen! Klar! Und wer, Bigi, hat in den letzten Jahren eins nach dem andern abdisponiert? Die alte Standuhr, das Silberbesteck von Großmutter, usw.!“

„Was meint sie mit `abdisponiert`?“

Bigi sieht mit ihren blauen Augen in die Runde.

„Sie behauptet, du hast Einiges von zuhause mitlaufen lassen“, erklärt Franz und wird selbst misstrauisch. „Stimmt das etwa?!“

Bigi schnauft empört auf. „Was für eine Gemeinheit! Ich war die Einzige, die sich gekümmert hat, als beide so krank waren.“

„Bis sie ins Pflegeheim kamen. Dann hattest du keine Zeit mehr und ich durfte ran“, ergänzt Gret-Lisbeth.

Bernhard lacht: „Wahrscheinlich, weil‘s nichts mehr zum Kümmern gab.“

„Gret-Lisbeth, du solltest lieber den Mund halten, nachdem was du getan hast.“

Gespannte Neugier der andern, doch Bigi winkt ab. „Es macht unsere Mutter auch nicht wieder lebendig…“

Jetzt will man es natürlich erst recht wissen.

„Gut. Ich hätte es ja für mich behalten. Aber wenn ihr es unbedingt wissen wollt: Gret-Lisbeth hat eine künstliche Ernährung abgelehnt und dafür gesorgt, dass Anna Morphium bekommt. Damit es schneller geht.“

Bigi beginnt zu schluchzen.

Gret-Lisbeth, einen Moment lang völlig überrumpelt, fasst sich schnell.

„Dass man eine alte, sterbende Frau nicht auch noch mit Magensonden traktiert, leuchtet eigentlich jedem ein, der einen Funken Menschlichkeit hat. Aber der geht dir offenbar ab.“

Frater Ursus, der bisher geschwiegen hat, steht auf.

„Dass ihr euch nicht schämt.“

Er wendet sich ab und will gehen. Franz hält ihn auf.

„Moment mal, Frater Schwager – du kannst dich nicht einfach abseilen bevor wir über dein Beizli gesprochen haben…“

„Was?“

„Du weißt genau, was ich meine: Den Landgasthof Jura Höhe.“

„Den gibt es schon lange nicht mehr.“

„Stimmt“, sagt Gret-Lisbeth, “weil du den Karren an die Wand gefahren hast!“

„Den Gasthof hat dir der Papi finanziert, nachdem du als Koch nix auf die Reihe gekriegt hast!“, präzisiert Bigi, froh, aus der Schusslinie zu kommen.

„Und alles von meinem Erbe!“

„Von unserem – wenn schon“, korrigiert Gret-Lisbeth.

„Wie immer: Ihr habt keinen blassen Schimmer.“

Urs wendet sich ab und geht.

„Du schuldest uns 200.000 Franken!“, kräht Bigi hinterher.

„Klarer Erbvorbezug! Vergiss nicht, wenigstens deinen Kaffee zu bezahlen!“, lacht Franz und schaut in die Runde, ob der Witz auch angekommen ist.

„Wenn der mit mir Schlitten fahren will, hat er sich aber geschnitten. Nochmals zu Agnes…“

Bernhard unterbricht: „Urs hat recht. Wir sollten uns wirklich schämen.“

Betretenes Schweigen. Bernhard greift zum dritten Mal nach seinem Terminplaner. „Wer übernimmt die Traueranzeigen?“

***

Am Abend sitzt Bernhard auf der weinumrankten Terrasse von Gret-Lisbeths altem Bauernhaus im Zürcher Oberland. Denkmalgeschützt ist es und aufs Feinste renoviert, wie es sich für die Chefberaterin der Invest Consulting Europe gehört. Seit einigen Jahren lebt sie hier allein mit einer älteren Hauswirtschafterin und den Hunden. Sie kann es sich leisten.

Bernhard genießt die Abendsonne und trinkt einen Clevner. Vor ihm ein altes Fotoalbum. Kleine Schwarz-Weiß-Fotos mit breitem gewellten Rand. Der Vierwaldstätter See, ein Schaufeldampfer vor der Bergkulisse. Strahlendes Föhnwetter. Anna, elegant mit Pumps, Schlapphut und hellem Sommerkleid posiert am Dampfschiffssteg in Luzern, neben ihr der dreijährige Bernhard, verdrossen in kurzen Hosen. „Sommer 1945 – Ausflug an den Vierwaldstättersee“ steht unter dem Bild mit ziselierter Schönschrift. Anna ist jung und lacht – so hat er seine Mutter nicht in Erinnerung. Aber hier ist sie eine hübsche, lebenslustige Frau. Er blättert weiter. Die Kinder kommen. Erst als entzückende Babys bei der Taufe, dann in Gruppenbildern: Eins neben dem andern, wie die Orgelpfeifen. Posen und Schnappschüsse, von Anna liebevoll betextet. „Bernhardli – ein herziger kleiner Lauser“, „Agnesli, wenn es von einem Englein träumt“, „Brigitli, Papis Schätzli!“, „Stürmisch ins Leben! Lisbethlis erste Schritte!“, „Ursli, unser Sonnenschein“.

Später beschränken sich die Texte auf Fakten: „Ferien in Lenzerheide, Sommer 1955“. Ein Familienbild an einem Felsblock, Anna lächelt verkniffen, einige Kinder grinsen, Bernhard schaut demonstrativ in die Luft. Er erinnert sich: kurz zuvor hatte Anna ihm eine Ohrfeige verpasst, weil er Grimassen schnitt und Johnny das Foto neu knipsen musste. Das kostet alles Geld. Annas Standardsatz. Dass Agnes mit dem Zeigefinger in der Nase bohrte, hatten sie übersehen. Der Finger wurde später wegretuschiert. Das kostete noch mehr Geld. Und sieht jetzt aus, als hätte das Kind eine Hasenscharte.

Er klappt das Fotoalbum zu und genießt die Abendsonne über den bewaldeten Hügeln. Auf der Wiese toben Gret-Lisbeths Neufundländer.

Sie tritt auf die Terrasse, locker, in Jeans und T-Shirt, nicht mehr hochhackig und businesslike und stellt einen Karton mit uralten Bundes-Ordner, und weiteren Fotoalben auf den Tisch.

„Es ist noch mehr auf dem Speicher. Aber der Rest ist uninteressant. Quittungen, Bilanzen, Protokolle vom Schützenverein und alte Zeitungen. Du weißt – er hat alles aufgehoben.“ Bernhard greift nach einem ledergebundenen Folianten mit der goldenen Aufschrift CHRONIK. Auf der Innenseite steht eine Widmung: „Meiner lieben Schwester Anna zur Hochzeit! Möge die hl. Jungfrau dich beschützen auf allen deinen Wegen und möge Gott, der Herr, dir die Gnade erweisen, dass es nur Schönes u. Gutes zu berichten gibt auf diesen Seiten! Huwyler 1942 – Deine Schwester Magdalena.“ „Sie hat ein Tagebuch geführt?“ „Tagebuch ist übertrieben. Eher eine Chronik. Fromm und heuchlerisch. Ich hätte es weggeschmissen.“ „Warum heuchlerisch?“ Gret-Lisbeth hat keine Lust auf das Thema. „Lese es, wenn du glaubst, dass es dir was bringt… Wie machen wir es nun mit der Beerdigung?“ Man hatte sich im Tea-Room Denzler doch noch auf eine Aufgabenverteilung geeinigt. Franz will sich um den Bestatter und die Todesanzeigen, sie beide um die Behörden und das Pfarramt kümmern.

„Wer ist überhaupt Pfarrer in Huwyler?“, fällt Bernhard plötzlich ein.

„Kägi bestimmt nicht mehr. Der müsste ja uralt sein – wenn er überhaupt noch lebt.“

„Schade, der Kägi hätte gut gepasst.“ Bernhard imitiert sein säuselndes Salbadern: „Bernhardus, Sohn des Johannes und der Anna! Gott, der Allmächtige, hat dich berufen…“

Gret-Lisbeth lacht. „Fragt sich wozu? Den Bock zum Gärtner?“

Bernhard gibt sich entrüstet. „Hey! Geht’s noch! Ich war damals superfromm! Mit acht konnte ich das Credo auf lateinisch: Credo in unum Deum, Patrem omnipotentem, Creatorem coeli et terrae – ich war der geborene Pfarrer!“

„Stimmt! Du hattest bei ihm einen Stein im Brett!“

„Hochwürden konnte aber auch anders. Einmal hat er mir nach dem Ministrieren in der Sakristei so eine geknallt, dass ich gestolpert bin und der Holzfigur des heiligen Sebastian einen der Marterpfeile abgebrochen habe.“

Sie beschließen, gemeinsam beim Pfarramt Huwyler vorzusprechen. Vielleicht lebt Hochwürden ja doch noch.

***

Seit seiner dritten Scheidung wohnt Bernhard in der Zürcher Altstadt in einer hellen, ausgebauten Mansarde. Drei Zimmer mit Blick auf die Limmat. Schön, aber unverschämt teuer, wie alles in der Stadt der Banken-Gnome. In seinem Arbeitszimmer packt Bernhard die Kartons aus. Es riecht muffig, wie Papier eben riecht, wenn es Jahrzehnte lang auf dem Dachboden gelegen hat. Annas Geburtsanzeige, 1917: „Wir danken Gott, dem Allmächtigen. Er hat uns ein Mädchen geschenkt.“ Der Antrag von Annas Mutter auf Witwenrente 1922. „Untertänigst bitte ich Sie…“ Annas Schulzeugnisse: „Schriftliche Leistung, Fleiß und Betragen: s. gut. Die mündliche Beteiligung am Unterricht lässt aber zu wünschen übrig.“ Fotos vor dem Stadthaus. Erste Kommunion. Firmung. Grimmige Familienbilder. Nur Mädchen und Frauen in gestärkten Blusen und langen Röcken, die versteinert in die Linse starren. Rührend und fern wie der Mars. Dann Briefe, noch mehr Briefe. Rechnungen und Todesanzeigen. Ein ganzer Ordner mit Briefen. Und eben das Tagebuch. Das, was Gret-Lisbeth als Heuchelei bezeichnet. Annas eingefärbte Realität. Vielleicht steht ja etwas zwischen den Zeilen. Bernhard beginnt, die Dokumente chronologisch zu ordnen und macht sich Notizen, wie man das als Journalist gelernt hat. In der Hoffnung, dass am Ende mehr rauskommt, als die Summe von banalen Ereignissen, Schönfärbereien und zufällig Festgehaltenem.

Annas Chronik und...

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