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Was sich für Doblers ziemt und was nicht – 1940 bis 1941

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Am Sonntagabend begleitet Johnny Anna zum Bahnhof, was Agathe Dobler großmütig genehmigt hat – wer weiß, welches Gesindel sich im Schutze der kriegsbedingten Dunkelheit herumtreibt. Danach setzt er sich an seine neue Hermes-Schreibmaschine, während Anna traurig und beglückt zugleich in einem vollbesetzten Abteil der 3. Klasse einer neuen Arbeitswoche entgegen rumpelt. Johnny versucht, wie es so seine Art ist, dem Grundsätzlichen Worte zu geben. Am späten Abend geht er nochmals zum Bahnhof und wirft den Brief in den Einwurf am Bahnpostwagen der Südostbahn Richtung Zentralschweiz.

Wie jeden Montag steht Anna an der Hintertür von Schmalzers Anwesen und nimmt Vorräte entgegen, die ihr der Kolonialwarenhändler aus dem Lieferwagen reicht, als der „Pöstler“ um die Ecke biegt und ihr Johnnys Brief übergibt. Sie steckt ihn schnell in ihre blauweiße Arbeitsschürze, bringt die Lebensmittel in die ´Speis´ hinter der Küche. Der Brief glüht wie ein Stück Kohle in ihrer Tasche. Schließlich hält sie es nicht mehr aus, lässt Mostflaschen und Fettbarren stehen, setzt sich auf einen Schemel neben dem Lieferanteneingang und reißt das Kuvert auf.

13. Oktober 1940

Liebe Anna!

Verzeihe mir, dass ich Dir nicht von Hand schreibe (wie sich das eigentlich gehört), aber mit meiner „Hermes“ kann ich die Gedanken einfach besser in Worte fassen (und das Wichtige sogar rot hervorheben). Ich bin immer noch tief beeindruckt von der Charakterstärke Deiner lieben Frau Mama und bedauere natürlich, dass Deine Tante Rosa unpässlich war. Aber das lässt sich ja bestimmt nachholen. Auch der Kuchen hat sehr geschmeckt (man merkte schon, dass Du, liebe Anna, dabei Deine Hände im Spiel resp. in der Rührschüssel gehabt hast!) Überhaupt bin ich immer wieder froh, dass wir zwei uns gefunden haben. Wie unvollständig war doch mein Leben bisher, und wenn ich genau darüber nachdenke, was mir denn fehlte, so war es eine liebe Freundin, eine Lebensgefährtin, die mich versteht. Und dass ich in Dir all dies gefunden habe, und nicht nur dies, ein Mädchen mit Intelligenz, und reich an Liebe und Opferbereitschaft, ist wirklich das größte Glück, das ich bisher erleben durfte….

Plötzlich greift eine Hand über Annas Schulter und zieht den Brief weg. „Na, was schreibt er denn, der Schatz?“, grinst Schmalzer und macht sich einen Spaß daraus, seine empörte Perle verzweifelt nach dem Brief zappeln und ins Leere greifen zu lassen. „Geben Sie her! Das ist mein Brief!“, worauf er nur dröhnend lacht: „Dann hol ihn dir!“ Schließlich hält er den Brief hoch in die Luft, packt Anna mit dem andern Arm und presst sie gegen seinen dicken Wanst. Sie zappelt, schreit: „Lassen Sie mich los! Sofort!“ Sie befreit sich, packt den Brief und läuft wütend weg. „Das war doch nur ein Spaß, Anna!“, ruft Schmalzer noch hinter ihr her und lacht sich kaputt über seinen Scherz. Später, hinter verschlossener Kammertür, schreibt Anna:

15.Oktober 1940

Lieber Johnny,

das war aber sooo eine Überraschung, als ich heute Deinen Brief in der Hand hielt! Ich konnte es kaum erwarten, ihn zu öffnen und plangte (sehnte mich) richtig danach, dass Herr Schmalzer, der wie immer noch dies und das von mir wünschte, sich zurückzog und ich endlich auf das Zimmer konnte. Ich habe Deinen Brief inzwischen dreimal gelesen und alles jubelt in mir. Nun weiß ich, dass Du mich auch liebst. Und darum empfinde ich ein stilles, aber großes, unendlich großes Glück. Ein Glücksgefühl, das zusammengesetzt ist aus innerer Glut und äußerer Scheu. Gell Johnny, Du hast Geduld mit mir. So sehr ich mich nach Dir sehne, so bangt mir doch ein bisschen, ob ich Deine hochgesteckten Erwartungen auch erfüllen kann. Ob Du Dir nicht zu viel erwartest von Deiner Anna? Aber leider muss ich Dich auch sonst enttäuschen, denn so schnell, wie wir glaubten, werden wir uns nicht wiedersehen. Herr Schmalzer hat am Sonntag zwei H.H. als Gäste und da kann ich natürlich nicht weg. Diesmal sind es Missionare aus Rhodesien, die wegen des Krieges in der Schweiz gestrandet sind. Armer Johnny, schon wieder muss ich ein Opfer von Dir verlangen. Aber umso mehr freuen wir uns halt auf die übernächste Woche, gell!

Nach einigen weiteren Absage, die Johnny mit Liebe und Fassung erträgt, ist es dann endlich soweit. Mama Dobler genehmigt zwar nur einen halbstündigen Spaziergang am Sonntag. Doch im Advent wird täglich in der Frühe das Rorate zu Ehren Marias abgehalten. Für Anna nichts Ungewöhnliches, Johnny hingegen kann ohne Übertreibung sagen, dass er in 23 Jahren noch nie so oft und noch nie so früh in der Kirche gewesen ist. Um ein Zusammentreffen mit Kirchgängerinnen aus dem Dunstkreis von Mama und Tante Rosa zu vermeiden, besuchen sie das Rorate im Kloster, das in Huwyler nur „Klösterli“ genannt wird. In der kleinen Kapelle gibt es keine Geschlechtertrennung wie in der Pfarrkirche. Anna und Johnny knien eng aneinander gepresst in der hintersten Bank. Anna singt mit leuchtenden Augen die schlichten Choräle mit. Johnny wird es ganz heiß, trotz der Eiseskälte im ungeheizten Gotteshaus. Danach laufen sie im Schneeregen Hand in Hand zu „ihrer“ Parkbank am Weiher. Johnny befreit die Sitzfläche vom Schneematsch und nimmt Anna auf seinen Schoss, damit ihr Mantel trocken bleibt. Sie legt ihren Kopf an seine Schulter und kuschelt sich an seinen Hals, schnüffelt sein Kölnisch Wasser und ihr Herz klopft so wild, dass sie glaubt, er müsse es hören. Es schneit jetzt in großen nassen Flocken, die auf dem Boden sofort schmelzen. Nur auf der Sumpfwiese bleiben ein paar Schneeflecken im Gras liegen. Johnny hat im Radio gehört, dass es kälter werde, möglicherweise gäbe es sogar weiße Weihnachten. Anna nickt nur, vergräbt sich an seiner Brust und wünscht, dass es ewig so weiterschneien möge.

Am Sonntag dann noch der genehmigte halbstündige Spaziergang im verschneiten Park – Mama Dobler, Tante Rosa und Magdalena gönnen sich auch ein paar Schritte an der frischen Luft. Sie halten aber Abstand, um den Anschein von Kontrolle zu vermeiden. Dann die letzte Gelegenheit ein wenig Händchen zu halten und verstohlene Küsse zu wechseln: Der vorzeitige Gang zum Bahnhof. Anna erfährt, dass Johnny dreimal in der Woche den Abendunterricht beim Kaufmännischen Verein Zürich besucht, um das Buchhalterdiplom zu machen. Sie ist mächtig stolz auf ihn. Doppelsalto am Reck, Chefbuchhalterdiplom. Da kommt sie sich wieder einmal recht dumm vor. Johnny will eine Frau, mit der er „über alles reden“ kann. Sogar über Buchhaltung. Zum Nikolaus schenkt er ihr ein Lebkuchenherz und das Buch „Bilanzkunde und Bilanzrecht“. Als Lektüre für einsame Abende. Und er schlägt ihr vor, ab sofort ein Haushaltsbuch zu führen. Da könnte er dann ihre Fortschritte in der Buchführung direkt überprüfen. Anna verspricht es, und schon fährt der Zug los. Grinsend läuft Johnny bis zum Ende des Bahnsteigs neben ihrem Fenster mit und überspringt mit einer eleganten Grätsche einen Handkarren, der im Wege steht. Dann verschwindet er im Schneegestöber. Anna lacht und wirft ihm eine Kusshand zu. Ein Tausendsassa, ihr Johnny.

Johnny hingegen ist nicht mehr ganz so euphorisch. Er setzt sich an seine Schreibmaschine und zieht Bilanz:

Mit Anna verbrachte Zeit am Samstag/Sonntag

• abholen vom Bahnhof (Freitagabend) 30 Min.
• Kirche (Rorate) 45 Min.
• am Weiher (Samstag) 25 Min.
• Hochamt (getrennt durch Mittelgang 60 Min.
• Schwatz vor und nach der Kirche 20 Min.
• Sonntagsspaziergang (überwacht) 45 Min.
• Begleitung zum Bahnhof (Sonntag) 30 Min
Insgesam 255 Min.
davon unter Beobachtung 230 Min.
mit Anna zu zweit 25 Min.

Er schickt ihr einen Durchschlag der Aufstellung (leider sind durch das Kohlepapier die rot markierten Stellen auch nur schwarz) und schreibt, diesmal in seiner akkuraten Handschrift, einen Brief dazu. Nach ein paar Sätzen, in denen er seiner Liebe und Sehnsucht Ausdruck gibt, kommt er zur Sache:

… meinst Du nicht auch, dass, wenn wir schon jedes Mal wochenlang warten müssen, bis wir uns endlich wiedersehen, weil dein Arbeitgeber über Dich verfügt, als gäbe es keine geregelten Arbeitszeiten und keinen Anspruch auf Freizeit, wir wenigstens über unsere gemeinsame Zeit und wie wir sie verbringen möchten, selber bestimmen sollten? Ich will Dich nicht in einen Konflikt mit Deinem Elternhaus bringen und schon gar nicht einen Keil zwischen Deine liebe Mama und Dich treiben. Nein, sowas liegt mir fern. Aber vielleicht sollten wir uns einfach nehmen, was uns zusteht, ohne dabei überflüssige Diskussionen vom Zaun zu brechen: Was hältst Du davon, wenn wir uns nächsten Freitag (falls dein Patron Dir diesmal Deine wohlverdiente Freizeit gönnt) in Zürich treffen? Ein kleiner Umweg für Dich, ich bin ja schon da. Wir machen einen ungestörten Spaziergang durch die Anlagen am See, wo uns keiner kennt, trinken irgendwo einen heißen Punsch oder Tee und können endlich mal zärtlich sein, ohne uns dauernd nach unerwünschten Beobachtern umsehen zu müssen. Wäre das nicht wunderbar?

Anna liest den Brief und verbringt eine schlaflose Nacht. Auch wenn Johnny natürlich wie immer Recht hat – ihr widerstrebt es, ungehorsam zu sein und ihre Mutter anzulügen. Sie grübelt und grübelt, und endlich hat sie eine bessere Idee: am Samstag mit dem Fahrrad oder bei schlechtem Wetter mit dem Zug nach „Maria Bildstein“ zu fahren. Ihre Mutter habe nichts dagegen, schreibt sie Johnny, wenn sie gemeinsam zur Muttergottes in der Waldgrotte pilgern. Diese „heilige Jungfrau im Walde“ (wie viele gnädige und heilige Jungfrauen gibt es eigentlich, fragt sich Johnny) gelte als Fürsprecherin für Verlobte und Eheleute. Dass sein tête-à-tête schon wieder mit Knien und Beten verdient werden muss, stört Johnny nicht. Hauptsache, endlich mal ein paar Stunden ungestörter Zweisamkeit.

Das Wetter und Verleger Schmalzer (diesmal werden keine geistigen Besuche erwartet) sind den beiden hold. Der Föhn hat dem ersten Schnee schnell den Garaus gemacht und weht in trockenen, milden Stößen durch Huwylers Gassen. Schon am Vormittag fahren sie mit dem Fahrrad los. Für die untrainierte Anna ist es anstrengend, gegen die Böen anzutreten, die von den Alpen über die flache Ebene fegen. Johnny greift ihr lachend ins Kreuz und schiebt sie. So gelangen sie am frühen Nachmittag zu einer künstlichen Grotte, wo die heilige Jungfrau mutterseelenallein im Wald steht. Sie sind die einzigen Besucher, zünden eine Kerze an und bitten die Gottesmutter, sie zusammen glücklich werden zu lassen. Damit ist der religiöse Teil des Ausflugs auch schon erledigt. Johnny lädt Anna zu Tee und Kuchen in eine nahe gelegene Konditorei. Auf der Rückfahrt hat der Wind sich gelegt und sie machen Halt auf einer Anhöhe über der weiten Ebene, genießen stumm, wie sich die Sonne in rosa Pastelltönen im Abendnebel auflöst. „Wie im Paradies“, entfährt es Anna. Sie denkt an das Jüngste Gericht in der Pfarrkirche. Johnny sagt gar nichts und nimmt sie fest in den Arm, küsst sie, auf den Nacken, die Stirn, den Mund und wird immer leidenschaftlicher. Anna beantwortet seine Leidenschaft mit vielen kleinen, von Seufzern begleitenden Küssen. Derart ermuntert, wird Johnny immer kühner. Zwar zuckt Anna unmerklich zurück, als er ihren Busen liebkost (über dem Pullover), aber wie seine Hand noch tiefer gleitet, ihren Bauch streichelt und unter dem Rock zwischen ihren Beinen landet, stöhnt sie auf, versteift sich und versucht, seine Hand mit ihrer Hand wegzudrücken. Er gibt ihr nach, nimmt ihre Hand und führt sie in seinen Schritt. Anna erkennt schockiert, was sich da spannt wie der Bogen des prähistorischen Mammutjägers über Johnnys Bett, stößt einen spitzen Schrei aus: „Jesses Maria – nein!“, springt hoch und läuft weg. Johnny, verdutzt, läuft hinterher. Er packt sie, will sie umarmen, sie befreit sich. „Lass mich los, ich will heim“, schluchzt sie, und es gelingt ihm erst nach Minuten, sie zu beruhigen. Doch jede weitere Zärtlichkeit wird entschlossen abgelehnt. Schließlich steigen sie auf ihre Räder und fahren stumm durch die einbrechende Dämmerung zurück.

Nach einer schlaflosen Nacht, in der auch die Gebete und Fürbitten zur Jungfrau Maria keinen Frieden in die verstörten Gedanken bringen, geht Anna am Sonntag in der Früh zum Klösterli, um zu beichten. Nur der Beichtstuhl von Pater Frido ist besetzt. Pater Frido ist ein junger Mönch, der erst kurz in Huwyler ist und vor allem bei den Frauen als frischer Wind im recht verkalkten Klerus der Pfarrei gilt. Und Annas Erwartung wird nicht enttäuscht. Als sie ihm unter dem sechsten Gebot („Du sollst keine Unkeuschheit treiben“) die Ereignisse beichtet, unterbricht Pater Frido die verdutzte Anna mit der Bemerkung, sie habe kein Unrecht getan. Im Gegenteil. Vorbildlich für ein katholisches Mädchen. Da bricht Anna in Tränen aus: “Aber was soll ich denn jetzt tun? „Ich habe ihn doch lieb!“ Pater Frido schweigt lange hinter dem schwarzen Gitter des alten Beichtstuhls. Dann hebt er die Hand zur Absolution „Ego te absolvo…“ Anna schlägt hastig ein Kreuz und will sich – noch verwirrter als zuvor – erheben. Da sagt die Stimme hinter dem Gitter, was sie beschäftige, sollte nicht Gegenstand einer Beichte, sondern einer seelsorgerischen Beratung sein. Anna wird rot – was zum Glück im finsteren Beichtstuhl keiner sehen kann – und stottert etwas konfus: „Ja… wie denn?“ „In einer Stunde an der Klosterpforte, wenn Sie wollen.“ Das ist wenigstens eine klare Ansage.

Pater Frido, braune Kutte, gepflegter Vollbart, kommt mit elastischen Schritten auf Anna zu, die bleich auf der „Armen-Sünder-Bank“ im Eingangsbereich wartet. Er gibt ihr die Hand und schlägt einen kleinen Spaziergang im Klostergarten vor.

„Die frische Winterluft klärt manch trüben Gedanken!“, bemerkt er feinsinnig. Und so ist es dann auch. Ein kalter Nordostwind hat den Föhn abgelöst und eine Stunde später verlässt Anna das Kloster, mit roten Wangen und der Broschüre „Das katholische Jungmädchen“ in der Tasche. Erschienen im Schmalzer Verlag. „Als kleine Argumentationshilfe gegen ungestüme Leidenschaften“, hat Pater Frido gelächelt.

Johnny ist tief beunruhigt. Am Sonntag sieht er sie nicht im Hochamt. Und Magdalena, die er nach der Messe anspricht, sagt schnippisch, Anna sei schon in der Frühmesse gewesen und helfe heute Tante Rosa im Haushalt. Er fasst sich ein Herz und ruft später im Stadthaus an. Anna ist etwas verkrampft, was Johnny nicht wundert, da er sich vorstellen kann, wie Mutter und Tante mit gerunzelter Stirn und aufgestellten Lauschern hinter ihr stehen. Ja, sie helfe zuhause. Aber er dürfe sie noch zum Zug bringen, am Abend. Wenigstens das. Johnny versucht es auf dem dunklen Weg zum Bahnhof mit einem lockeren Plauderton, doch irgendwie hat er das Gefühl, sein Charme ziehe diesmal nicht so recht. Kurz vor der Abfahrt gibt Anna ihm einen flüchtigen Kuss auf die Wange und einen Brief in die Hand. Johnny schwant Schlimmes. Kaum hat sich der Zug in Bewegung gesetzt, reißt er das Kuvert auf. Es ist eine Karte mit der „Hl. Jungfrau Maria vom Bildstein im Walde“. Auf der Rückseite steht:

Lieber Johnny!

Schade, dass solche Vorkommnisse geschehen sind. Findest du nicht auch, dass es sich wie etwas Schwarzes, Hässliches ausnimmt im Leuchten der Erinnerung? So ist doch etwas ein bisschen verpfuscht. Und mir tat es weh, du hast dein Versprechen meiner lieben Mutter und mir gegenüber nicht gehalten. Obwohl ich doch so fest darauf baue. Deine Anna“

Will sie etwa Schluss machen?! Panik und Hilflosigkeit übermannen ihn. Trotz des stürmischen Wetters mit Schnee und Graupelschauern läuft er um den Weiher und setzt sich verzweifelt auf ihre Bank, die ihm jetzt so leer vorkommt. Eins ist klar: er will sie nicht verlieren. Auf keinen Fall. Obwohl er sich nach außen gern den Anschein des weltläufigen und erfahrenen Charmeurs gibt, dem die Mädchen zu Füßen liegen, muss er zugeben, dass seine bisherige amouröse Lebensbilanz eher dürftig aussieht. Anna ist die erste Frau, mit der mehr läuft, als das übliche unverbindliche Geschäker und Geplänkel. Es ist klar, dass jetzt Zerknirschung angesagt ist. Zu Hause setzt er sich an seine Schreibmaschine und gibt seiner Mama einen Korb, die ihn mit Punsch und Weihnachtsstollen zum Adventskranz ins Wohnzimmer locken will.

Er braucht einige Anläufe und fabriziert einen halben Papierkorb voll zerrissener Entwürfe, bis ihm die richtigen Worte einfallen.

…nur Deine Besonnenheit hat uns vor einer großen Sünde bewahrt… ich habe mein Versprechen nicht gehalten, jetzt wirst du

1. Auch meinen anderen Versprechen nicht mehr glauben,

2. finden, dass ich zu wenig religiös bin,

3. das Gefühl haben, dass ich Dich nur der sinnlichen Genüsse wegen liebhabe.

Darum bitte ich Dich, reiflich zu überlegen, ob Du mich noch liebhaben kannst, oder doch lieber einen religiöseren Mann suchst. Mit Tränen in den Augen schreibe ich Dir dies.

Dein Johnny

Anna sitzt wieder in der „Speis“. Die Türe hat sie diesmal versperrt. Sie liest, fühlt sich hin und her gerissen. Dass Johnny einsieht, dass er zu weit gegangen ist, erfüllt sie mit Genugtuung. Aber zugleich packt sie die Angst, dass ihr die Felle davon schwimmen. Pater Frido hat ihr zwar versichert, dass junge Männer „die es wert sind“, nicht gleich das Weite suchen, wenn ein Mädchen sie mit einer klaren katholischen Haltung konfrontiert. Ganz im Gegenteil. Ein „Jungmann mit ernsthaften Absichten“, werde seine Zukünftige umso höher achten, je klarer sie ihre Grundsätze vertrete. Sagt Pater Frido. Aber wenn Johnny sie missversteht? Glaubt, sie liebe ihn nicht mehr? Nein, das will Anna nicht riskieren. Sie beschließt, in der Sache hart zu bleiben, das Ganze aber in rosa Watte zu verpacken.

Lieber Johnny!

Dein trauriger Brief hat mich berührt. Du denkst doch nicht, dass ich Dich nicht mehr liebhabe? Oder glaubst Du, ich hätte Dich nochmals geküsst, wenn ich Dir wirklich böse wäre? Am Sonntag am Bahnhof hat mich das zwar ein Opfer gekostet, denn der Schmerz darüber, dass wir unser schönstes Gut verloren haben, hat mich tief geschmerzt. Mir tat es weh, dass unsere Liebe, die doch so gut und schön war, fast etwas Schmutziges geworden ist. Aber jetzt sollten wir mit neuem Mut darum ringen, rein zu bleiben. Was man immer wieder sagt – vor der Hochzeit muss die Liebe absolut platonisch sein. Denk doch daran, wie schrecklich es wäre, wenn dieses Verlangen plötzlich so stark über uns käme, dass wir es nicht mehr beherrschen könnten, wie schrecklich stünden wir da, nicht mehr rein vor Gott. Und es ist dann umso schwerer in der Ehe, wo man sich auch manchmal enthalten muss, wenn man es vorher nicht trainiert hat! Ich bin überzeugt, Du siehst es genauso, gell Johnny! Schon bald ist Weihnachten. Endlich sehen wir uns nicht nur an ein, zwei Tagen, sondern an vieren! Vom 23. bis zum 26. Dezember bin ich in Huwyler. Natürlich muss ich mich auch um Mama, Tante und Magdalena kümmern, aber es bleibt bestimmt auch etwas Zeit für uns. Zum Beispiel in der Heiligen Nacht – es wird mir richtig warm ums Herz, wenn ich mir vorstelle, wie wir alle durch den knirschenden Schnee zur Mitternachtsmesse laufen! Ich plange so auf Dich …

Johnny spürt wieder Aufwind und wird richtig euphorisch. Beim abendlichen Training in der Turnhalle gelingt ihm jeder Griff, jeder Aufschwung, sogar die Grätsche und der Doppelsalto am Reck. Auf Anhieb, ohne Patzer. „Genauso bringst du das am „Kantonalen“, grinst Otto Hutter, der Turnwart des Vereins, „dann stehen wir endlich auch mal oben auf dem Podest!“ Erst als Johnny zuhause den Brief nochmals liest, kommen ihm doch ein paar Fragen. Er holt den Schlüssel zur Schreibtischschublade aus dem Versteck (seine Mama, eine Seele von Mensch, ist manchmal etwas zu neugierig). In der hintersten Ecke, noch hinter der Armeepistole und der Munition, kommt ein Buch zum Vorschein. „Unser Geschlechtsleben“. Er schlägt das Buch auf der Seite „Geschlechtsbeziehungen in der Verlobungszeit“ auf und setzt sich dann an die Schreibmaschine.

Auch wenn die letzte Erfüllung der Ehe vorbehalten ist, das Seelische, das Geistige und das Körperliche müssen trotzdem in der Liebe Schritt halten. Gefährlich sind nämlich nicht nur die „Versuchungen des Fleisches“, sondern auch der religiös motivierte, totale Verzicht! Der Sprung in die Hochzeitsnacht wird zu groß, und Probleme bei der körperlichen Erfüllung sind nicht mehr auszuschließen. Platonisch ja, aber mit Maß und Ziel! Dass ich in dieser Hinsicht sehr verantwortlich denke, kannst du mir glauben: ein anderes Mädchen hat mir früher keine Abwehrschlacht geliefert, ich hätte nur das kleine Wörtchen „ja“ sagen müssen, aber ich habe unerbittlich „nein“ gesagt … Was ich fast vergessen hätte: die Bremsen an Deinem Velo müssten unbedingt eingestellt werden. Das ist mir aufgefallen bei unserem Ausflug nach Maria Bildstein. Ich wollte es Dir noch sagen, aber leider sind wir ja dann nicht mehr dazu gekommen…

liebe Grüße, dein Johnny

PS: Du schreibst, es wäre wichtig, Enthaltsamkeit zu üben für die Ehe. Das habe ich nicht verstanden. Aber du wirst es mir sicher noch erklären…

Dazu kommt es allerdings nicht so bald. Am Tag vor Weihnachten: Glatteis auf dem Weg zum Erzbischof, Verleger Schmalzer kommt ins Rutschen, bricht das rechte Handgelenk und verstreckt einen Gesäßmuskel. Damit ist er hilflos wie ein Käfer in Rückenlage und ein temporärer Pflegefall. Johnny bekommt wieder einmal einen Brief, in dem viel von Opfer und Entsagung die Rede ist. Garniert mit dem kleinen Hoffnungsschimmer, dass Schmalzers Schwester sie spätestens im Januar ein Wochenende lang ablösen wird. Und dass Schmalzer ausdrücklich genehmigt hat, dass ihr „Verlobter“ (was Anna natürlich richtiggestellt hat) sie am Weihnachtstag anrufen darf.

Johnny, der jeden Tag mit der Einberufung zur Armee rechnen muss, beschließt, die Tage ohne Anna zum Skifahren zu nutzen und setzt sich in den Zug nach Davos. Die Pisten sind leer, die Bars ebenso, das Einzige was sich tummelt, sind ein paar hungrige Eichhörnchen im tiefverschneiten Hotelpark. Das Stammpublikum, die Deutschen und die Engländer, sind im Krieg, in den eisigen Weiten vor Moskau, an der Westfront und in der Luftschlacht um England. Und viele Schweizer stehen an den Grenzen, um die Heimat gegen Hitlers erwarteten Angriff zu verteidigen.

Johnny genießt den unberührten Pulverschnee an der Madrisa und am Parsenn. Leider ist dann das Tanzparkett im Palace Hotel fast ebenso leer wie die Abfahrten. In der übersichtlichen Schar von meist älteren Kurgästen sticht Johnny beim Tanztee eine gut aussehende Dame ins Auge. Es ist Madeleine, die gelangweilte Gattin eines Genfer Juweliers, die erfolglos auf ihren nachreisenden Mann wartet. Und da Johnny als Kunstturner selbstverständlich auch ein blendender Tänzer ist, kommt er der Dame schnell näher. Madeleine ist attraktiv und elegant, wenn auch schon über 40. Aber in diesen kargen Zeiten kann man genauso wenig wählerisch sein wie die Eichhörnchen im Park. Leider, oder wie man es betrachtet: Zum Glück, kommt dann doch noch der verspätete Gatte dazwischen. Am Telefon schildert Johnny Anna seine stillen Tage in Davos, verschweigt ihr nicht die nette Bekanntschaft mit der eleganten Madeleine, natürlich unter Betonung seiner eigenen Tugendhaftigkeit und ohne Madeleines Alter und Zivilstand zu erwähnen. Wie erwartet versetzt die Nachricht Anna in Eifersucht und Panik. Johnny verspricht, sich weiter zurückzuhalten und erhofft sich im Stillen eine etwas offenere Haltung ihm gegenüber beim nächsten Rendezvous.

Annas Abwehrkampf findet derweil unter dem Weihnachtsbaum in Schmalzers Wohnzimmer statt. Der Verleger liegt auf dem Sofa wie ein gefällter Baum und lässt sich bedienen. Mindestens dreimal am Tag verlangt er, dass sein „Rücken“ mit Ringelblumensalbe und Franzbranntwein massiert wird. Er grunzt dabei wie ein angeschossener Eber und führt Annas Hand an Stellen, die besonders schmerzen, aber nicht nur dort liegen, wo Dr. Hunziker die Zerrung diagnostiziert hat. Erst als Anna sich weigert, weiter zu massieren, weil das ihre Fachkenntnisse übersteigt und die alte Schwester Klärli vom bischöflichen Damenstift zu Hilfe ruft, bessert sich der Zustand des Patienten. Endlich wieder auf die Füße kommt Schmalzer am Nachweihnachtstag, als ein freundlicher älterer Herr in Schwarz vor der Tür steht. Es ist der Erzbischof persönlich, der seinem Verleger einen Krankenbesuch abstatten will. Anna macht ehrerbietig einen Knicks, küsst seinen Ring. Dann führt sie seine Eminenz in die gute Stube. Schmalzer erhebt sich ächzend, und Anna serviert Tee und Gebäck. Der Erzbischof erkundigt sich leutselig, woher sie komme und wer ihre Eltern seien und findet, dass es aber jetzt an der Zeit sei, dass sie endlich ihrer verehrten Frau Mutter und der Familie einen Festtagsbesuch abstatte, nachdem es dem geschätzten Herrn Schmalzer ja wieder deutlich bessergehe und Schwester Klärli weiter nach ihm schauen könne. Auch wenn Schmalzer schmerzlich das Gesicht verzieht und demonstrativ an seine Hinterbacke greift – das Wort des Erzbischofs ist natürlich Befehl, und schon am Abend sitzt Anna im Eilzug Richtung Huwyler. Auf der harten Holzbank im überhitzten Drittklasse-Abteil schreibt sie eine Karte nach Davos. Beim Umsteigen in Pfäffikon wirft sie sie in den Briefkasten am Postwaggon des Schnellzuges Richtung Landquart – Chur, in der Hoffnung, dass Johnny die gute Nachricht noch am gleichen Tag erhält.

Allein das Schicksal meint es schlecht. Ein Lawinenabgang blockiert die Rhätische Bahn bei Klosters, und so gelangt die frohe Botschaft erst zwei Tage später nach Davos. Johnny ruft sofort im Stadthaus an, doch Anna ist schon wieder am Aufbrechen.

Er trifft sie auf dem vereisten Perron am Umsteigebahnhof. Sie hat ihm zu Weihnachten ein paar Fäustlinge gestrickt, und Johnny schenkt ihr einen bunten Schal, den er an der Bahnhofstraße in Zürich gekauft hat. Anna, modischen Dingen eher abgeneigt, findet ihn zu auffällig, sagt aber nichts, um Johnny die Freude an seinem tollen Geschenk nicht zu verderben. Ein paar tiefe Blicke und zarte Küsse später fährt der Eilzug in einer Wolke aufgewirbelten Schnees davon, und Anna ist nur noch schemenhaft winkend hinter den Eisblumen des Fensters zu erkennen. So bleibt einiges, was zwischen den Liebenden besprochen werden sollte, unerwähnt.

Zuhause freuen sich August und Gret Weber über die vorzeitige Rückkehr ihres Sohnes. In Erwartung, endlich die künftige Schwiegertochter kennenzulernen, hat Gret einen Streuselkuchen gebacken. Der Kuchen muss ohne Anna verspeist werden.

Die zweite schlechte Nachricht liegt als Brief auf der Garderobe. Kompaniechef Oberst Saurer teilt in knappen Worten mit, dass die 7. Gebirgskompagnie im Zuge der Kriegsmobilmachung in zwei Wochen nach Flums einzurücken habe und Wachtmeister Johann Weber zwecks Vorbereitung einen Tag früher.

So sehr es beide hoffen – es wird nichts mehr mit einem Wiedersehen. Am Tag, als er in feldgrüner Uniform, mit Marschtornister und umgehängtem Karabiner der Kleinstadt den Rücken kehrt, weiß Anna nicht mehr, wo ihr der Kopf steht vor lauter Kochen, Putzen, Betten beziehen. Eine Konferenz der Missionsgesellschaften hat Schmalzers Gästezimmer gefüllt. Briefe, spät abends geschrieben, wenn ihr vor Erschöpfung die Augen zufallen, sind jetzt für Wochen das einzige Band zum Geliebten. Johnny geht es auch nicht besser: Bis die Quartierfrage für die Unteroffiziere geklärt ist, logiert er in Untermiete im ungeheizten Zimmer eines Bergbauern. Das sei nicht so schlimm, schreibt er Anna, weil er vor lauter Organisieren sowieso kaum ins Bett komme. Oder er übernachtet mit seinen Soldaten auf Nachtmärschen in einem selbstgegrabenen Schneeloch. Einmal – sie liegen tage- und nächtelang im Matsch, ohne etwas Warmes zu essen – kommt General Guisan, der Oberbefehlshaber und lobt ausdrücklich die gute Organisation. Anna ist stolz auf ihren Johnny. Wenn keine Nachtmärsche anstehen, sitzt er im Nebenzimmer eines Berggasthauses (natürlich auch ungeheizt) an einer Armee-Schreibmaschine (nicht so modern wie die eigene), tippt Einsatzpläne und organisiert Übungen und Manöver für Oberst Saurer. Oft macht er mit Kohlepapier zusätzliche Durchschläge und schickt sie Anna, damit sie noch mehr stolz sein kann. An der Wand in der Gaststube hängt zwar, wie überall in der Schweiz, das Plakat „Psst! Feind hört mit“, auf dem ein langer schwarzer Schatten drei Leute belauscht. Da fühlt Johnny sich aber nicht angesprochen. Anna ist schließlich vertrauenswürdig. Als ein anderer UO meint, dafür würde er „bei den Nazis an die Wand gestellt“, lacht Johnny nur und bildet sich etwas ein auf seine Tollkühnheit.

Nach ein paar Wochen plagt ihn ein heftiger Husten, und er fiebert. Oberst Saurer ist kein Unmensch und der Dienst in den Flumserbergen kein Russlandfeldzug, also schickt er den verschnupften Johnny für ein paar Tage in die Obhut seiner Mama, die schon völlig außer sich ist vor Sorgen. Zwei Tage später taucht dann auch Anna auf, macht sich ebenfalls schwere Gedanken. Johnnys Glück kennt keine Grenzen. Endlich kommt es bei Webers zum gemeinsamen Kuchen, diesmal ein gedeckter Apfel. Mutter Gret ist sehr angetan von ihrer künftigen Schwiegertochter, und Vater August mustert wohlgefällig ihre schlanke Gestalt. Am Abend nach dem Kuchenessen ist Johnny wieder soweit hergestellt, dass er einen Spaziergang an den Weiher riskieren kann, auch wenn Mutter Gret schwerste Bedenken hat. Auf der alten Bank wird nachgeholt, was man so schmerzlich vermisst hat. Nur als eine Hand unter ihrem Mantel den Busen streichelt, versteift sich Anna. Aber Johnny tut, als wäre nichts und plaudert gut gelaunt weiter. Sie holt ihr Haushaltsbuch aus der Tasche und bittet um seine Hilfe. Es geht um ihre Buchhaltung. Wie erwartet zieht er seine Hand sofort aus ihrem Mantel und greift nach dem Schulheft. Obwohl es nur wenige Posten sind – Anna lebt bescheiden und schickt das meiste Geld, das sie verdient, ihrer Mutter – stimmt das, was sich noch im Portemonnaie befindet, nicht mit der Abrechnung überein. Addiert sei es richtig, wahrscheinlich habe sie vergessen, eine Ausgabe aufzuschreiben. Johnny wiegt nachdenklich den Kopf: Beim Buchhalten müsse man unglaublich präzise sein. Anna verspricht Besserung und gesteht, dass sie auch das Buch „Bilanzkunde und Bilanzrecht“ nicht verstanden hat. Johnny lacht. Das Buch habe er ihr nur gegeben, damit sie eine Ahnung bekomme, womit er sich so herumschlagen müsse im Büro.

„Du bekommst eine dumme Frau!“, meint Anna, „aber ich bin dir dankbar, dass du nicht aufgibst.“

„Du bist nicht dumm!“, widerspricht Johnny, „du kannst dafür anderes besser als ich!“

Was genau, fällt ihm im Moment auch nicht ein. So nimmt er sie in den Arm und küsst sie. Dabei versucht er seine Hand wieder in den Mantel zu schieben. Diesmal drückt sie sie sanft weg, und Johnny lässt es dabei bewenden. Auf dem Rückweg spricht er zum ersten Mal das Thema Verlobung und Heirat an. Er schlägt vor, an ihrem Namenstag Verlobung zu feiern und drei Monate später zu heiraten. Anna erschrickt. Bekommt ganz weiche Knie. Etwas in ihr schreit JA! Endlich diesem Quälgeist Schmalzer entkommen, endlich frei sein! Aber gleichzeitig öffnet sich ein tiefer, gefährlicher Abgrund: Ehe… körperliche Liebe… Versagen… Enttäuschung. Ob sie es je einem Mann recht machen kann? Sie ist doch völlig ahnungslos! Dann jubelt es wieder: Eine eigene Wohnung! Ein gemeinsames Nest! Kinder! Und dann wie eine schwarze Wolke: Was werden Mama und Tante Rosa dazu sagen? Und meine Aussteuer? Ich kann doch gar nicht heiraten. Ich habe keine Aussteuer! Johnny ist enttäuscht über ihr langes Schweigen. Freust du dich nicht? Willst du mich überhaupt heiraten? Doch, doch. Natürlich freut sie sich riesig. Aber es ist so plötzlich. Sie will darüber nachdenken. Sie bringt ihn mit einem Kuss zum Schweigen.

Inzwischen sind Agathe Dobler und Tante Rosa nervös geworden. Sie haben es nur ungern zugelassen, dass Anna bei den glaubensfernen Webers einkehrt. Jetzt wird es schon dunkel, und Anna ist noch nicht zurück! Tante Rosa redet wieder mal Tacheles und findet, es sei jetzt höchste Zeit für ein mütterliches Machtwort. Agathe greift widerwillig zum Telefon und ist fast froh, dass sich die protestantische Gret meldet und nicht der sündige August. Gret hingegen freut sich ehrlich, die Mutter von Anna kennenzulernen, auch wenn es nur am Telefon ist. Sie will eine Lobeshymne auf Anna anstimmen, aber Agathe unterbricht sie schroff und will wissen, wo das Kind bleibt. „Grad zur Tür hinaus“, lügt Gret, „Anna müsste in einer Viertelstunde zu Hause sein!“ „In fünf Minuten!“, verbessert Agathe, „soweit wohnen wir auch nicht auseinander!“ „Stimmt!“, bestätigt Gret Weber, „Da werden wir uns sicher bald einmal bei Kaffee und Kuchen richtig kennen lernen.“ Ob das noch rübergekommen ist? Agathe Dobler hat bereits aufgelegt.

***

Am Tag nach dem Rendezvous am Weiher geht Anna euphorisch gestimmt zum Bahnhof. Der Winter verabschiedet sich, es wird mehr so früh dunkel und wieder weht ein warmer Föhn von den Glarner Alpen. Am Bahnsteig trifft sie Pater Frido, der auf den gleichen Zug wartet. Er ist unterwegs, um Exerzitien in der Innerschweiz zu leiten. Anna erzählt ihm von ihren Ferienplänen mit Johnny: Bergwandern, Velo fahren. Schwimmen. Pater Frido lächelt und nickt. Schön. Die Natur, klar – der liebe Gott hat sie uns geschenkt, damit wir sie auch genießen. Und gesund sei es auch, das Bergwandern und das Velo fahren. Sogar das Schwimmen. Aber immer nur zu zweit? Ob sie denn schon mal über die Gefahren nachgedacht habe. Gerade in der freien Natur.

Leider muss Pater Frido an dieser Stelle aussteigen. Sie könne doch ihre Schwester mitnehmen oder eine Freundin, sagt er noch, bevor er das Abteil verlässt.

Anna bleibt nachdenklich zurück. Es war alles so einfach, vorher, als sie mit Johnny Pläne geschmiedet hat. Aber Pater Frido hat wahrscheinlich Recht. Es ist verzwickter, wenn man genau überlegt. Sie denkt an den Huwyler Weiher vor zwei Tagen. Hätte sie nicht ihr Haushaltsbuch dabeigehabt, wer weiß, wie es wieder geendet hätte. Zurück in ihrer Kammer, greift sie zu Pater Fridos Schrift „Das katholische Jungmädchen“ und dann zur Feder.

Lieber Johnny!

Es war so einzig schön, endlich wieder dein strahlendes Gesicht zu sehen, auch wenn dein Fieber mir große Sorgen macht. Ich bete, dass du schnell gesund wirst! Wie glücklich macht mich die Gewissheit, dass wir zusammengehören. Trotz der wunderschönen Ferienpläne für den Sommer, bin ich doch auf der langen Fahrt etwas ins Grübeln geraten. So schön ich mir alles vorstellen kann, trotzdem spüre ich, dass du über das hinausgehen möchtest, was mir geziemend und erlaubt erscheint. Und jedes Mal, wenn wir darüber gesprochen haben, wurde mir schmerzhaft klar, dass du nichts sehnlicher wünschst, als dass wir uns auch körperlich näherkommen. Was du dazu gesagt hast, stürzt mich in ein seelisches Chaos. In allen religiösen Schriften steht, dass körperliche Liebe außerhalb der Ehe in keiner Weise erlaubt sei und auch Zärtlichkeiten sich streng an diesen Grundsatz halten müssen. Oft bin ich todunglücklich, weil ich immer wieder auf den Zwiespalt zwischen Deiner Auffassung (die auf dem Naturgesetz aufbaut) und der Auffassung der Kirche stoße. Umso mehr erleichtert es mich, die Auffassung einer neutralen Stelle gefunden zu haben: „Wenn zwei das Glück in der Ehe haben wollen, dann müssen sie auf die Frage: Können wir uns beherrschen? mit einem entschiedenen Ja zu antworten vermögen!“ Gell Johnny – bombensicher wäre das Ja bei uns nicht, aber es muss es werden, indem wir jetzt immer so zueinander sein wollen, dass wir uns nie schämen müssen, in keinem Augenblick, auch wenn unsere Eltern uns sehen könnten…

Johnny, inzwischen an derlei Skrupel schon fast gewöhnt, beschließt, Anna mit ein paar versöhnlichen Worten ruhig zu stellen. Im Übrigen vertraut er auf die Magie der anstehenden Ferien, der tollen Radwanderungen, der ausgelassenen Wasserspiele in kühlen Bergseen und dem Zauber der Sonnenuntergänge vor romantischen Berghütten. Er schickt Anna eine herausgerissene Seite aus dem Sommerkatalog von Jelmoli, auf der ein hübsches, langbeiniges Mannequin im knallroten Einteiler posierte. Er hatte den Katalog schon vor einem Jahr eingesteckt, als er in der Mittagspause durch das Kaufhaus flaniert war. Das hübsche Mannequin hatte es ihm angetan, und der Katalog landete in der Schublade mit der Armeepistole und dem Buch „Das Geschlechtsleben“, sicher vor Mamas neugierigen Blicken. Damals hatte er Anna noch nicht gekannt, muss man zu seiner Entlastung sagen. Aber jetzt bekommt der Badeanzug einen neuen Inhalt. Johnnys Herz schlägt höher, wenn er sich vorstellt, wie Anna im nächsten Sommer neben ihm auf dem Floß im Weiher liegt (außer dem Floß ist leider die Badeanstalt genauso nach Geschlechtern getrennt wie die Pfarrkirche) und wie sich die anderen Burschen den Hals nach ihr verrenken werden.

Das schreibt er natürlich nicht, sondern nur, er könne sich vorstellen, wie gut ihr der rote Einteiler stehe.

Die kalte Dusche kommt postwendend. Sie glaube nicht, dass Rot zu ihr passe. Und schon gar nicht dieses. Mit „so etwas“ würde sie sich nie in die Öffentlichkeit begeben. Im Übrigen vermisse sie Johnny sehr und hoffe, dass sie das übernächste Wochenende frei bekomme.

Die Aussicht, dass Anna ihn besuchen will, tröstet Johnny über den etwas enttäuschenden Anfang des Briefes hinweg.

Am Samstagmorgen steht Anna freudestrahlend am Bahnhof, als Johnny in Uniform aus dem Waggon steigt. Den Tornister lässig über die eine, den Karabiner über die andere Schulter gehängt, das Käppi, gegen jedes Dienstreglement, schief und verwegen auf dem Kopf und im Mundwinkel den obligaten Glimmstängel. Johnny wie er leibt und lebt.

Beim Znüni mit Cervelat, Käse, St. Galler Bürli und einem Bier für Vater und Sohn, verarztet Gret Weber die Blasen an Johnnys Füssen, die er sich auf dem letzten Nachtmarsch geholt hat. August Weber schwört auf Formalin zur vorbeugenden Behandlung nicht nur der Füße. Er war im 1. Weltkrieg bei der Kavallerie und hat sich vor jedem langen Ritt Gesäß und Innenseiten der Schenkel damit eingerieben. Auch andere edle Teile. Anna versteht es erst, als Gret pikiert sagt, dass die anwesenden Damen es gar nicht so genau wissen wollen. Johnny und August lachen, Gret droht ironisch mit dem Finger, und Anna fühlt sich richtig wohl in der entspannten Atmosphäre bei den Webers.

Mit einem Ausflug auf den Säntis wird es dann am Sonntag leider nichts. Schneeschauer und Sturmböen gibt es bei den Gebirgsschützen mehr als genug und so folgt Johnny gern Annas Einladung ins Stadthaus. Erst spielen sie Schach. Tante Rosa hat diesmal keine Migräne und sitzt stickend am Fenster. Anna hat die Augen aufs Spielbrett gesenkt und schweigt. Später sitzen alle beim Tee. Auf Johnnys Charme-Attacken reagiert Tante Rosa wortkarg. Mama Dobler rührt unentwegt im Tee und bohrt nach den beruflichen Zukunftsperspektiven des jungen Mannes. Der zögert nicht, seine Karrierechancen im rosigsten Lichte darzustellen. Anna sitzt stumm und ziemlich verkrampft daneben und schenkt ihm hin und wieder ein scheues Lächeln. So fühlt sich denn Johnny ermutigt, auch mal Annas nähere Zukunft ins Gespräch zu bringen. Er könnte sich vorstellen, dass man sich vielleicht in zwei Monaten offiziell verlobt und ein halbes Jahr später heiratet. Tante Rosa lässt vor Schreck beinahe die Teekanne fallen. Mama Dobler zieht die Augenbrauen hoch und sieht über die Nickelbrille schweigend zu Anna. Diese wird rot, sagt schnell:

„Aber Johnny, das ist doch unmöglich!“

„Warum verzapft er dann so einen Schmarren!“ brummt Tante Rosa böse und verschwindet mit dem Geschirr in die Küche.

Johnny ist sprachlos. Mutter Dobler steht auch auf und meint, sie müsse sich für die Abendandacht fertigmachen. Und Anna wohl auch. Anna fragt Johnny mit etwas zu fröhlichem Piepsen, ob er auch mitgehe in die Andacht? Johnny, mit einem Kloß im Hals, bedauert. Er habe sich mit seinem Vater zum Sonntagsjass im „Rössli“ verabredet. Anna bringt ihn noch zur Haustür, gibt ihm dort einen schnellen Kuss und flüstert, dass Mutter und Tanta Rosa es nicht so gemeint hätten, es sei halt etwas plötzlich gekommen. Oben ruft die Mutter: „Anna, kommst du jetzt?“ „Jaa-a!“ Noch ein hastiges Küsschen, und schon ist sie enteilt.

Liebe Anna!

Wie immer ist mir unser Wiedersehen recht kurz vorgekommen. Diesmal besonders. Wir waren ja kaum für uns allein. Ich hatte den Eindruck, dass wir uns fast ein wenig fremd waren, als wir uns bei deiner Mutter und Tante trafen. Was mich am meisten enttäuscht hat, war deine gegenteilige Stellungnahme, als ich im Begriff war, das Datum unserer Hochzeit in greifbare Nähe zu rücken. Dein „Unmöglich!“ hat mich veranlasst, wohl oder übel den Rückzug zu blasen. In jenem Moment glaubte ich wirklich, Du hast mich nicht mehr gern.

Lieber Johnny,

wie traurig ich bin, dass ich Dir weh getan habe. Aber ich konnte doch nicht anders. Ich habe bremsen müssen beim Hochzeitstermin, um meiner Mutter eine Peinlichkeit zu ersparen. Weißt Du, sie hätte sonst erklären müssen, dass sie für die Verlobung und Heirat ihrer Tochter kein Geld hat! Zum Beispiel für die Aussteuer. Du weißt doch, sie hat damals keine Pension bekommen, als mein Vater so jung starb. Er hatte nämlich keine Pensionsversicherung bekommen, weil er schon bei der Einstellung in den Schuldienst herzkrank war. Sie hat uns immer alleine durchbringen müssen. Und jetzt braucht Mama doch alles für die Ausbildung von Magdalena. Ach Johnny, wie sehr würde ich mich sonst auf die Hochzeit freuen! Je eher umso lieber. Ich könnte es gar nicht mehr abwarten. Und weißt Du, was das Schönste wäre? Wenn ich durch Dich ein Kindlein empfangen könnte, glaub mir, dann wäre ich wunschlos glücklich…

Liebe Anna!

schon wieder sind zehn Tage vergangen, seit wir uns letztes Mal gesehen haben. Der Dienst in den Flumser Bergen ist streng, viel Schreibarbeit, manchmal ein paar Tage und Nächte, die wir uns im Schnee um die kalten Ohren schlagen. Das Einzige, was mich tröstet, ist die Erinnerung an Dein liebes Lächeln, Deine warmen Augen, Dein feines (manchmal etwas zu streng) geknotetes Haar. Anna, Du kannst Dir nicht vorstellen, wie oft ich Dein Foto sehnsüchtig betrachte, das wie ein Altarbild auf dem Nachttisch in meiner kalten, trostlosen Soldatenbude prangt. Und wie oft ich mir unsere künftige Wohnung ausmale, jeden Schrank, jeden Stuhl, Deine liebevoll genähten Vorhänge und unser Bett… Ich glaube, es müsste ein Himmelbett sein, groß genug für unsere unendliche Liebe und Zärtlichkeit. Das Bett, wo wir unser Kindlein zeugen werden (nicht sofort, aber vielleicht nach ein, zwei Jahren, wenn wir zwei uns richtig kennengelernt haben). Apropos Aussteuer: dass Du Deine liebe Mutter nicht in Verlegenheit bringen wolltest, ehrt Dich! Aber ich sehe in der Aussteuer keinen Hinderungsgrund, möglichst bald zu heiraten. So habe ich doch all die Jahre gespart und bin ohne weiteres in der Lage, dass ich unseren gemeinsamen Hausstand aus eigener Kraft finanziere. Vertrau mir, es wird alles so sein, wie wir es uns erträumen…

Lieber Johnny!

Wir dürfen nicht verzagen, ich bete jeden Tag zur Heiligen Jungfrau, dass wir uns bald wiedersehen! Herr Schmalzer ist in letzter Zeit ziemlich „hässig“. Sein gebrochener Arm und der Muskelriss an der Hüfte machen ihm immer noch zu schaffen. So lässt er denn seine schlechte Laune gern am Personal aus. Das bin hauptsächlich ich (die Putzfrau kommt nur zwei Mal die Woche und der Gärtner noch weniger). Aber ich lasse mich nicht niederdrücken und denke lieber an unsere gemeinsame Zukunft. Das mit der Aussteuer kann ich natürlich nicht annehmen. Ich glaube, Mama legt das Geld, das ich ihr jeden Monat schicke, sowieso für mich weg. Etwas ist also schon da, aber sicher nicht genug, dass wir schon in einem Jahr heiraten können. Wir müssen beten und Geduld haben, gell Johnny. Es gibt noch ein Opfer, das uns wahrscheinlich auferlegt wird. Herr Schmalzer hat gemeint, dass er mir im Sommer unmöglich zwei Wochen Ferien geben könne. Das ist leider die Zeit, wo die Fortbildungswochen für die Seminaristen stattfinden, die zum Teil bei uns wohnen. Das heißt, unser Haus ist voll! Du Armer, Du wolltest doch mit mir wandern, Velo fahren und schwimmen. Aber sei nicht zu traurig, ein paar Tage werde ich wohl noch zusammenkratzen und so machen wir dann halt Tagestouren zusammen, gell Johny! Lieb, wie Du Dir unsere Wohnung schon ausmalst. Das tue ich genauso! Hoffentlich haben wir zum Schluss dann nicht zwei völlig unterschiedliche Wohnungen!

Was mir nicht so gut gefällt, ist Dein Gedanke, dass wir mit dem Kindlein noch ein, zwei Jahre warten wollen. Ich weiß nicht, wie Du Dir das vorstellst – wir sind doch dann verheiratet und zusammen?? Aber wir können ja darüber reden, wenn wir uns wiedersehen. Und damit komme ich zur guten Nachricht: schon in zehn Tagen habe ich wieder drei Tage frei und komme nach Huwyler!

Diesmal klappt es. Hitler ist vollauf mit der Begradigung der Ostfront beschäftigt, so dass die Schweiz weiterhin ungeschoren bleibt und die Armee auf ihren Unteroffizier Weber ausnahmsweise ein paar Tage verzichten kann. Auch Anna ist abkömmlich. Verleger Schmalzer begleitet seinen Erzbischof zu einer Primiz in die Provinz. Und wie zur Bestätigung, dass es der liebe Gott dieses Mal gut meint mit ihnen, leuchtet eine strahlende Sonne am weißblauen Föhnhimmel über den Glarner Alpen. Krokusse sprießen, die ersten Bienen summen und eine laue Frühlingsluft leckt am Weiher an den letzten Schneeresten eines langen Winters, als Johnny und Anna Händchen haltend ihrer Bank zusteuern. Schade eigentlich, aber den beiden fehlt der Blick für den Aufbruch der Natur, so sehr sind sie in ihr Gespräch vertieft. Genauer gesagt, Johnny doziert, und Anna lauscht. Allerdings fehlt ihr diesmal die hemmungslose Bewunderung, mit der sie sonst an seinen Lippen hängt, wenn er beispielsweise über die Buchhaltung, das Kunstturnen oder neuerdings auch über das Schießen referiert. Ein paar zweifelnde Falten ziehen sich über ihre Stirn, was Johnny aber nicht auffällt. Es geht ihm wieder mal ums Grundsätzliche, diesmal zum Thema „Ehe und Kinder“. Wirtschaftliche Verhältnisse und die Gesundheit der Mutter sollten für die Anzahl der Kinder entscheidend sein. Keine Mütter sollen Kinder gebären, wenn sie dabei ihr eigenes Leben aufs Spiel setzen. Und auch gesunde Mütter nur so viele, wie man entsprechend versorgen, erziehen und ausbilden kann. Sonst passiert es, dass Arme Kinder in die Welt setzen, die dann der Öffentlichkeit zur Last fallen. Ohne Chancen auf eine Zukunft, dumm, krank oder gar kriminell, ihren Eltern eine Schande und ihrer Umgebung ein Ärgernis. Oder wie in Afrika und Indien, wo die Kinderzahl den Wohlstand ganzer Völker verhindert, weil es nie gelingt, die vielen hungrigen Mäuler zu stopfen. Beim Stichwort „Afrika und Indien“ kann Anna nicht mehr länger an sich halten. Sie erzählt mit trotziger Begeisterung von Schmalzers Missionaren, die im Urwald Kirchen bauen und Schulen gründen, den Kindern Beten, Singen, Schreiben und Rechnen beibringen und dafür sorgen, dass sie nicht als Heiden der ewigen Verdammnis anheimfallen. Das ist nicht das, worauf Johnny hinauswill. Seine Kinder sollten es einmal besser haben. Auch als Chefbuchhalter könnte er sich nicht mehr als ein, zwei Kinder vorstellen. Und dies frühestens ein, zwei Jahre nach der Hochzeit. Damit man sich als Paar erst mal zusammenfinde und etwas aufbaue. Das sei schließlich das Wichtigste. Dabei umarmt er sie und will sie küssen. Anna wehrt ihn ab. Kann ihre Enttäuschung nicht mehr verhehlen. Sieht es anders. Sie möchte Kinder. Wie viele, weiß sie noch nicht. Aber gleich, nicht erst nach zwei Jahren. Wofür sonst überhaupt heiraten? Johnny drückt sie an seine Brust und flüstert: „Wir müssen uns erst einmal richtig lieben lernen!“

Pater Frido zieht eine Augenbraue hoch – ein sicheres Zeichen, dass etwas nicht in seinem Sinne läuft. „Hat der Jungmann denn überhaupt verstanden, was der Verzicht auf Kinder in einer katholischen Ehe bedeutet?“ Anna schüttelt den Kopf. Auch sie hat sich offenbar noch wenig Gedanken dazu gemacht.

„Sexuelle Enthaltsamkeit, auch nach der Hochzeit – keine körperliche Liebe bis auf wenige Tage im Monat! Wird er dazu willens und in der Lage sein, wenn er schon jetzt den Anfechtungen des Fleisches kaum gewachsen ist, wie Du mir berichtet hast? Andere Methoden erlaubt die Kirche aber nicht, denn alle anderen Methoden versündigen sich gegen Gottes heilige Naturgesetze und führen geradewegs in die ewige Verdammnis!“

Anna senkt den Blick auf den gekachelten Boden des Sprechzimmers und schweigt. „Du möchtest doch Kinder, Anna?“

Sie blickt zu ihm hoch und nickt. Tränen stehen in ihren Augen.

„Siehst du! Und dafür hat uns der liebe Herrgott auch die körperliche Liebe gegeben und zu nichts Anderem. Glaub mir, Ehen, die sich in der Hinsicht versündigen, werden nicht glücklich – können nicht glücklich sein! Und viele Frauen, die sich der männlichen Fleischeslust und den sündhaften Verhütungsmethoden unterworfen haben, werden unfruchtbar und müssen, wenn sie sich schließlich doch noch ein Kind wünschen, auf immer verzichten.“ „Das ist ja furchtbar!“, flüstert Anna, und Pater Frido nickt. Dann gibt er ihr seinen Segen.

Annas Chronik und...

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